Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 2, S. 327-329

Verfasst von: Susanne Schattenberg

 

Natalya Chernyshova: Soviet Consumer Culture in the Brezhnev Era. Abingdon, Oxon, New York: Routledge, 2013. XVIII, 259 S., 15 Abb. = BASEES/Routledge Series on Russian and East European Studies, 90. ISBN: 978-0-415-68754-6.

Das Klischee, die Brežnev-Ära sei vor allem eine Zeit der Stagnation gewesen, wird zunehmend von der auch nicht mehr ganz neuen Erkenntnis abgelöst, dass sie eine Phase des Konsums darstellte, der politisch gewollt und ideologisch untermauert war. Hatte Stalin die sowjetische Gesellschaft mit aller Härte geschmiedet und Chruščev sich zunächst um die gröbste Versorgung der Grundbedürfnisse gekümmert, erlebten die Sowjetbürgerinnen und -bürger unter Brežnev einen „entwickelten Konsum“, der ihnen erlaubte, neue Wünsche zu artikulieren, auszuwählen und Ansprüche zu stellen. Auch wenn das Angebot dürftig und viele Läden leer blieben, gab es zumindest bis in die Mitte der 1970er Jahre eine beachtliche Entwicklung in der Produktion von Konsumgütern, dem sogenannten „Sektor B“, der durchaus einer Mehrzahl der Bevölkerung, nicht nur in den Ballungszentren, einen bescheidenen Wohlstand in Form von Lebensmitteln, Kleidungsstücken, Möbeln, elektronischen Geräten und anderen Gebrauchsgegenständen ermöglichte, so die Autorin Natalya Chernyshova. Sie interpretiert die Entwicklung des Konsums, den Brežnev immer wieder auf Parteikongressen und Plenarsitzungen propagierte und der durch Kosygins Reform im September 1965 auf den Weg gebracht wurde, als eine Form der sowjetischen Moderne. Konsum, so Chernyshova, ist kein Begriff, der dem westlichen Kapitalismus vorbehalten ist, sondern: „a multi-layered socio-cultural complex of practices and meanings, which ties together class, status, taste and material goods“ (S. 11). Es geht Chernyshova daher nicht um Konsum als Form des Eigensinns, gar des Widerstands, oder auch nur des Rückzugs des Staats, sondern sie betrachtet Konsum als ein weiteres, modernes Vehikel, mit dem die Partei versuchte, die Bürgerinnen und Bürger zu formen und auf ihr Privatleben Einfluss zu nehmen. Gleichzeitig, so Chernyshova, gab die neue Devise den Konsumenten das Heft des Handelns in die Hand: Sie waren keine wehrlosen Opfer des Defizits, sondern Akteure: „New non-class-based hierarchies and structures sprang up and were manifested through ownership of material objects.“ (S. 4) Chernyshova hat für ihre Studie nicht nur zentrale und regionale Archive in Moskau, Petersburg und Minsk, sondern auch Presse, Memoiren und nicht zuletzt Spielfilme und Belletristik ausgewertet. Ihr Buch ist in sieben Kapitel gegliedert: Die ersten zwei erläutern das Handeln von Staat und Partei, aber auch die Verarbeitung des mit dem neuen Konsum einhergehenden Wertewandels bzw. -verfalls in fiktionalen Quellen. Es folgen zwei Kapitel, in denen beschrieben wird, wie die Bevölkerung mit den neuen Konsumgütern umging. Abschließend präsentiert Chernyshova drei Fallstudien zum Thema Mode, Möbel und elektronische Geräte.

Die ersten zwei Kapitel liefern zur Frage der Kosyginschen Wirtschaftsreformen wenig Neues, obwohl sie auf Archivquellen basieren. Chernyshova geht nicht weiter der Frage nach, ob und inwieweit die Einführung des kostendeckenden Produzierens umstritten war. Aber sie stellt vor, wie entscheidend es war, dass die Konsumgüterindustrie die Möglichkeit erhielt und angehalten wurde, sich bei der Produktion direkt an die Vorgaben und Nachfragen von Läden zu halten. Chernyshova führt aus, wie erstmals 1965 eine Art sowjetische Marktforschung ins Leben gerufen wurde, die das Konsumverhalten den Fabriken verständlich machen sollte. Bemerkenswert ist ihre Analyse der Diskussion darüber, was denn nun das richtige, sowjetische Konsumverhalten sei, ohne in den inkriminierten veščizm – den Tanz um das goldene Kalb zu verfallen. Chernyshova zeigt, dass dies nicht nur ein von ‚oben‘ lancierter Diskurs war, sondern dass auch Intellektuelle wie Jurij Trifonov in Erzählungen über die ‚wahren‘ Werte der Intelligenz, soziale Aufsteiger und das Verwischen von sozialen Grenzen durch Konsum debattierten.

Chernyshova zeichnet ein Bild der spätsowjetischen Gesellschaft, wie man es aus Erzählungen und ggf. aus eigenen Besuchen in den 1980er Jahren kennt: eine Gesellschaft, die sich nach sozialistischen Idealen bilden und entwickeln sollte, aber durch neue Konsummöglichkeiten und deren Verknappung von Fliehkräften erfasst wurde, die sie neu und unerwartet (ver-)formten: Hochschulbildung und Aufstieg in die Intelligenzija verloren an Popularität und Modellkraft, wenn man als Ladenangestellter oder Kellner viel einfacher und schneller an Statussymbole kam. Eine West-Jeans, ein Videorecorder oder eine Flasche Whiskey wurden nicht nur Zeichen, die die Sowjetbürger „lasen“, sondern sie begannen auch, soziale Hierarchien und Bindungen neu zu definieren. Dazu kam, dass sich die Löhne der Arbeiter an die der Intelligenzija annäherten, so dass die Hochschulbildung nicht mehr als Zugangsvoraussetzung zu privilegiertem Konsum galt. Aber nicht nur das Verhältnis der Klassen, sondern auch der Generationen zueinander wurde durch den Konsum maßgeblich verändert: Die Jugend machte Wünsche zu ihrer Priorität, die der Eltern- und Großelterngeneration fremd blieben. Dabei war „shoppen“ eine vom Westen vollkommen verschiedene Praxis: Einen Großteil der Zeit verbrachten die Käuferinnen – meist waren es Frauen – beim Anstehen; dem Schlangestehen widmeten sie mehr Zeit als der Kindererziehung. Gleichzeitig war eine große Mobilität gefragt, um nicht nur innerhalb der Stadt, sondern auch innerhalb der Staatsgrenzen den jeweils auftauchenden knappen Gütern hinterherzujagen. Chernyshova beschreibt sowohl die komplexe soziale Praxis, wie eine Warteschlange von 2000 Personen organisiert wurde, als auch die wirtschaftlichen Folgen, wenn Arbeitnehmer übermüdet vom nächtlichen Schlangestehen am Arbeitsplatz erschienen – oder auch nicht erschienen.

Konsumgüter waren nicht nur Statussymbole, sondern auch Botschafter aus dem Westen, ein Informationskanal zu einer verboten-verborgenen Welt. Und hier schwenkt Chernyshova in eine altbekannte Argumentation ein: dass nicht der Konsum an sich, sondern die Knappheit und die mangelnde Qualität der Güter zum Legitimationsproblem für die So­wjet­union wurden. Kleidungsstücke, Möbelgarnituren und Elektrogeräte waren Medien, die von einer anderen, wohlhabenderen Welt kündigten, der Staat und Partei nicht genügend entgegenzusetzen hatten. Ein eigener „sozialistischer“ Modegeschmack konnte nicht etabliert werden, eine Norm für das korrekte sozialistische Wohnen wurde bald nach Chruščevs Absetzung aufgegeben, und den Bedarf nach modernen Haushaltsgeräten hatte die sowjetische Regierung selbst motiviert, ohne ihn decken zu können. Die Sowjetunion, so Chernyshovas Schluss, scheiterte zwar daran, eine moderne Konsumwirtschaft zu errichten, aber „die langen 1970er Jahre“ brachten den modernen und kritischen sowjetischen Konsumenten hervor.

Chernyshovas Buch ist gut und dank des Quellenreichtums anregend geschrieben, aber es wartet mit wenig neuen oder erstaunlichen Erkenntnissen auf. Sie zeichnet im wesentlichen ein bekanntes Bild, das sie durch neue Details ergänzt. Es ist schade, dass sie ihre Eingangsbeobachtungen zu den tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen, die der Konsum brachte, nicht weiter analytisch vertieft, sondern sich dann doch ganz in den Bann der bekannten Frage schlagen lässt, inwieweit der verhinderte Konsum zum Kollaps der Sowjetunion führte.

Susanne Schattenberg, Bremen

Zitierweise: Susanne Schattenberg über: Natalya Chernyshova: Soviet Consumer Culture in the Brezhnev Era. Abingdon, Oxon, New York: Routledge, 2013. XVIII, 259 S., 15 Abb. = BASEES/Routledge Series on Russian and East European Studies, 90. ISBN: 978-0-415-68754-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schattenberg_Chernyshova_Soviet_Consumer_Culture.html (Datum des Seitenbesuchs)

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