Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 2, S. 293-295

Verfasst von: Kurt Scharr

 

Kerstin S. Jobst: Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich. Konstanz: UVK, 2007. 485. S. = Historische Kulturwissenschaft, 11. ISBN 978-3-89669-638-0.

Der Raum als geschichtswissenschaftlich relevante wie auch als ebenso wahrgenommene Kategorie erfährt seit mehr als einem Jahrzehnt – geht man von Karl Schlögels Werk „Im Raume lesen wir die Zeit“ (2003) bzw. dem 45. deutschen Historikertag (Kiel 2004, „Kommunikation und Raum“) aus – bei den Geisteswissenschaften ein wachsendes Interesse. Dabei erweisen sich v. a. raumbezogene Diskursanalysen, wie sie in den vergangenen Jahren veröffentlicht wurden (F. Torma: Turkestan-Expeditionen. Bielefeld 2011; T. Müller: Imaginierter Westen. Bielefeld 2009 etc.), als ein überaus fruchtbares Forschungsfeld. Dazu zählt auch die hier zur Besprechung vorliegende Arbeit.

Unter der Herrschaft Peters I. begannen sich in Russland der Raum und der Anspruch darauf allmählich zu einer Konstante staatlichen Denkens zu entwickeln, die bis in die Gegenwart der heutigen Russländischen Föderation massiv ausstrahlt. Das petrinische Reich leitete mit seinem gewollten Anschluss an den Westen eine ähnliche Modernisierungsstrategie ein, wie sie auch andere europäische Länder seit dem 18. Jahrhundert verfolgten. Das territoriale Prinzip löste im Sinne einer neu verstandenen Staatlichkeit den traditionellen, ständisch orientierten Personenverband und seine Beziehungsgeflechte auf. Parallel dazu erwuchs ein fast apodiktisch anmutender Anspruch von Staaten auf Räume. Dass dabei nicht nur wirtschaftliche oder strategische Überlegungen eine Rolle spielten, sondern in wachsendem Ausmaße auch Fragen der staatlichen Selbstdefinition und der nationalen Identität, zeigt sich besonders deutlich im kaiserlichen Russland – und das nicht nur auf Grund seiner enormen Ausdehnung – wie nachgerade das Beispiel der Krim unterstreicht. Vermischten sich in den Nationalstaaten des ‚westlichen‘ Europas der oder die Raumdiskurse spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der nationalen Idee sowie der postulierten territorialen Einheit und wurde diese Vorstellung von einer stetig anwachsenden wie auch breiter werdenden Masse der Bevölkerung mitgetragen, so blieb dies im Russischen Reich bis zu dessen Zusammenbruch weitgehend aus. Raumdiskurse, aber auch die Idee zentralstaatlicher Einheit, wie sie beispielsweise über die Uvarovsche Begriffstrias Orthodoxie – Autokratie – Volksverbundenheit (pravoslavie – samoderžavie – narodnost’) verstanden wurden (vgl. S. 298), blieben nahezu ausschließlich einer – im Vergleich zu Gesamtbevölkerung – sehr schmalen Oberschicht vorbehalten.

Kerstin S. Jobst stellt daher auch den Elitendiskurs über die Krim in den Mittelpunkt ihrer Studie, die in fünf Hauptkapiteln (I. Die Russischen Krim-Debatten im 18. Jh.; II. Die Krim – mythologisierende Einschreibungen; III. Die Krim als realer und metaphorischer Orient; IV. Die russische Krim; sowie V. Der Mythos Sevastopol’) den Zeitraum von 1783 (Annexion der Krim durch das Zarenreich) bis zu dessen imperialer Desintegration im Zuge des Ersten Weltkrieges umfasst. Jobsts zentraler Fokus  ist auf die differenzierte Analyse eines über mehr als 130 Jahre verlaufenden Prozesses einer schrittweisen mentalen (und physischen) Aneignung der Krim vom „schönen Fremden“ zum ursprünglich immer schon „schönen Eigenengerichtet (S. 21, 25). Die Quellenbasis dieser – und das sei vorweggenommen – hervorragend ausgewogenen und breit angelegten Studie setzt sich im Wesentlichen aus einer Vielzahl von (schon zeitgenössisch) veröffentlichten Texten (Briefe, Reiseberichte, Beschreibungen bis hin zur literarischen Prosa) zusammen, die über eine gewisse Öffentlichkeit sowohl im Reich als auch außerhalb seiner Grenzen verfügten. Zu der von der Autorin hier bewusst und begründet ausgesparten näheren Betrachtung der künstlerischen Darstellungen (S. 25) müsste jedenfalls noch die Kartographie als maßgeblicher Quellenkomplex erwähnt werden, die in Russland weit mehr als in Westeuropa mit dem Staat in Verbindung stand (vgl. dazu Frithjof Benjamin Schenk: Die Neuvermessung des Russländischen Reiches im Eisenbahnzeitalter, in: Jörn Happel / Christophe von Werdt (Hg.): Osteuropa kartiert – Mapping Eastern Europe. Münster 2010, S. 1336). Am Rande sei hier im Übrigen nur angemerkt, dass die im Anhang mitgelieferte Überblickskarte der Krim leider nicht der sonstigen Qualität des Buches entspricht und die darauf wiedergegebenen Toponyme zudem nicht konsequent der in der Arbeit gewählten Transliteration entsprechen (Druckfehler bei Bachčisaraj).

In der ausführlichen Einleitung zur Studie breitet Jobst den Rahmen dieses facettenreichen Diskurses aus. Von Beginn an macht die Autorin klar, dass sich der Akzent deutlich von einer Angliederung aus militärischen Überlegungen heraus (prisoedinenie) hin zu einer Wiedervereinigung (vossoedinenie) im Sinne eines identitätsstiftenden zentralen und mythisch verbrämten Raumnarrativs verlagert (S. 52). Die Analyse der auf 1783 folgenden schrittweisen „Russischmachung“ (S. 23) der Krim und die damit einhergehende Rückprojektion eines Narrativs der mythischen Überhöhung der Halbinsel als vermeintliche Wiege russischer Orthodoxie (vgl. Kapitel IV) in die Vergangenheit bis hin zur letztlich zeitgenössischen Sichtweise der Krim als „besonderes russisches Kleinod“ (S. 176) ist für die Autorin maßgeblicher Bestandteil dieser Studie.

Besonders anschaulich gelingt Jobst das Bild der fortschreitenden Russischmachung der Krim in der konkreten Verortung und Aufladung des Diskurses am Beispiel von Bachčisaraj und Sevastopol’. Zeugte der Ort Bachčisaraj mit dem beeindruckenden Chan-Palast im zeitgenössischen Diskurs des 19. Jahrhunderts einerseits von der vergangenen Macht des Morgenlandes (S. 254), so evozierte die den Palast umgebende tatarisch geprägte Siedlung andererseits ein für den damaligen Betrachter drastisches Gegenbild. Einer britischen Reisenden verstellten etwa die als unzivilisiert und schmutzig wahrgenommene tatarische Bevölkerung (S. 270) und die krummen Gassen (S. 272) geradezu wortwörtlich den Blick auf den Orient. Während Bachčisaraj gewissermaßen noch den Übergang symbolisiert, gerät der Flottenhafen Sevastopol’ zur eindeutig russischsten Stadt der Krim (vgl. Kapitel V.1). Mit der Hafenstadt wird – aufgeladen durch die traumatische Erfahrung des Krimkrieges – der gesamte Raum der Halbinsel schließlich zur „unveräußerlichen rodina“ (S. 354).

Um den nötigen Kontext zum imperialen Raumdiskurs des Russischen Reiches herzustellen, wäre es in Kapitel III hilfreich gewesen, die – zeitlich um mehr als ein halbes Jahrhundert später erfolgten – Gebietserweiterungen Russlands nach Süden und Südosten zumindest in Ansätzen zu vergleichen. Wenngleich sich am Beispiel Mittelasiens oder des Kaukasus (etwa hinsichtlich der Wahrnehmung der einheimischen Bevölkerung oder in der Betrachtung der Frau, bei Jobst S. 206) die Situation etwas verschoben darstellt, existieren doch Parallelen und Deckungsflächen im Diskursbild. Jobst selbst unterstreicht etwa den überaus nachhaltigen Einfluss literarischer Texte auf die raumbasierten Narrative in der russischen Gesellschaft etwa am Beispiel der Rolle Puškins (S. 257) oder Čechovs (S. 338). Der Ort wird durch das Gedicht, die Erzählung gleichsam zu einem russischen Kulturgut per se (S. 283). Das gilt im Falle Puškins ebenso für „Bachčisarajskij fontan“ („Das Wasserspiel von Bachčisaraj“) (Krim) wie für „Kavkaszkij plennik“ („Der Gefangene im Kaukasus“) oder bei L. N. Tolstoi für die Kosaken (im Kaukasus).

Offen – und darauf verweist die Autorin gelegentlich – bleibt die Erweiterung des Krimdiskurses als Massenphänomen während der Zeit der Sowjetunion mit weitreichenden Folgen im Zuge des Zerfalls der UdSSR im Jahr 1991 (S. 13 ff). Die Krim galt zwar nach 1917 einerseits – wie Jobst bemerkt – als Allunions-Sanatorium (Majakovskij in einem Gedicht von 1928; S. 329), sie stand jedoch andererseits jahrzehntelang in Konkurrenz zum bewusst aufgebauten ideologischen Gegenbild der anderen Roten Riviera an der östlichen Schwarzmeerküste rund um Soči. Geradezu beispielhaft vereinigen zudem die unmittelbar im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg gedrehten sowjetischen Spielfilme „Admiral Nachimov“ (1946) und „Admiral Užakov“ (1953) in fast synkretistischer Manier den imperialen Raumdiskurs der Taurischen Reise Katharinas II. (vgl. die Schilderung bei Jobst, die auf das Filmszenario von Užakov detailliert Bezug nimmt, S. 359) mit jenem der sowjetischen Großmachtstellung am Schwarzen Meer. Beide Filme sind kontextuell untrennbar in die Zeit nach dem Großen Vaterländischen und des beginnenden Kalten Krieg eingebettet. Seit 2000 wird zusätzlich der wiederaufgenommene Versuch des Kremls ebenso wie breiter Gesellschaftskreise merkbar, vorrevolutionäre imperiale Machtansprüche und Größenideologie mit den Diskursen sowjetischer Gründungsmythologie zusammenzuführen.

Wenn die Autorin in ihrer Schlussbetrachtung zu offenen Forschungsfeldern u. a. auch darauf hinweist, dass eine konzise Geschichte der Krim noch aussteht (S. 416), so schließt das einen wünschenswerten Vergleich dieses Diskurses mit den rund um die Eroberung des Kaukasus geführten Diskursen ebenso mit ein wie eine Fortführung dieser – in jeder Hinsicht bemerkenswert und spannend verfassten – Studie in die sowjetische und postsowjetische Periode nach 1917 bzw. nach 1991.

Kurt Scharr, Innsbruck

Zitierweise: Kurt Scharr über: Kerstin S. Jobst: Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich. Konstanz: UVK, 2007. 485. S. = Historische Kulturwissenschaft, 11. ISBN 978-3-89669-638-0, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Scharr_Jobst_Die_Perle_des_Imperiums.html (Datum des Seitenbesuchs)

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