Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 1, S. 126-127

Verfasst von: Kurt Scharr

 

Angela Harre: Wege in die Moderne. Entwicklungsstrategien rumänischer Ökonomen im 19. und 20. Jahrhundert. Wiesbaden: Harrassowitz, 2009. 249 S., 6 Abb. = Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas, 18. ISBN: 978-3-447-06003-5.

Obwohl Rumänien seit 2007 Mitglied der Europäischen Union ist, erfährt dieses Land bislang innerhalb der ‚europäischen Öffentlichkeit‛ nur eine sehr selektive Aufmerksamkeit, die summarisch entweder auf touristische Aspekte reduziert ist oder exklusiv tagespolitische, zumeist negative Erscheinungen wahrnimmt. Eine intensive Diskussion des rumänischen Staates in seiner Gesamtheit, seiner Gesellschaft und seinen historischen Wurzeln findet selbst in der Wissenschaft nur marginal statt. Erfreulicherweise sind ungeachtet dessen von universitärer Seite zu diesem Thema Monographien und Sammelbände erschienen, die eine geistige Auseinandersetzung mit Rumänien immerhin dokumentieren, auch wenn eine breitere Rezeption dieser Publikationen bislang allerdings noch auf sich warten lässt (etwa L. Boia: Geschichte und Mythos. Über die Gegenwart des Vergangenen in der rumänischen Gesellschaft. Wien 2003; Krista und Cornelius Zach (Hg.): Modernisierung auf Raten. München 2004; Thede Kahl / Larisa Schippel: Kilometer Null. Politische Transformation und gesellschaftliche Entwicklungen in Rumänien seit 1989, Berlin 2010). Dabei wären gerade diese Studien dazu geeignet, das Verständnis Rumäniens auf eine neue Basis zu stellen. Sie versuchen jene aus westlicher Perspektive oftmals nur schwer nachvollziehbaren Entwicklungen dieses Kulturraumes nicht nur in einen Kontext mit dem allgemeinen Wandel zu stellen, sondern auch die Genese des rumänischen Staatsverständnisses über eine tiefgreifende Innensicht zu beleuchten. Der bibliographische Anhang bei Harre bietet ein breites Spektrum der zu diesem Thema verfügbaren Sekundärliteratur.

Die Autorin legt mit der Publikation ihrer an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder 2007 angenommenen Dissertation eine konzise Studie vor, die auf Basis der Dis­kurs­analyse einen dichten Überblick über die rumänischen Entwicklungstheorien im Wesentlichen von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges liefert. Als Koordinatorin des Forschungsschwerpunktes „Agrarismus in Ostmitteleuropa 1880–1950“ an der Forschungsstelle für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Viadrina verfolgte Frau Harre im Besonderen die Rezeptionsgeschichte der spezifisch rumänischen Modernisierungstheorien und ihrer jeweiligen Interpretation bzw. zeitgenössisch wie räumlich angepassten Umformung. Schon zuvor hatte sie sich in ihrer Abschlussarbeit zum rumänischen Nationalökonomen Mihail Manoilescu mit diesen Fragen auseinandergesetzt. Harre gliedert die vorliegende Arbeit entsprechend den Hauptrichtungen rumänischer Modernisierungsbewegungen in vier zentrale Abschnitte (Traditionalismus, Industrialismus, Argrarismus und Faschismus). Damit wird eine Chronologie suggeriert, die Harre aber geschickt auflöst, indem sie durch Rückblicke in den betreffenden Kapiteln immer wieder auf die zeitweise Parallelität dieser Modelle mit ihrer jeweils unterschiedlichen zeitgenössischen Bedeutung verweist. Im Vergleich zur relativ gut ausgeleuchteten Zwischenkriegszeit fehlt jedoch für das 19. Jahrhundert eine Darstellung des politischen Systems. So könnte schon eine Skizze der Verfassungsrealität den nötigen Kontext zu den jeweiligen Modernisierungstheorien herstellen.

Regional beschränkt Harre ihre Studie auf den Raum des Regatul Vechi bzw. die Fürstentümer Moldau und Walachei. Den siebenbürgischen Raum spart die Autorin mit dem Hinweis auf die Verschiedenheit des Wirtschaftsdenkens aus (S. 18). Dadurch werden gleichzeitig die erheblichen strukturellen Differenzen zwischen Altreich und neuen Territorien, mit denen Großrumänien nach 1918 konfrontiert war, unterstrichen. Harre vergibt sich damit allerdings die Möglichkeit einer vergleichenden Analyseachse zwischen diesen Räumen mit stark fragmentierten Entwicklungsgeschwindigkeiten. Deutlich zeigt sich dies in den zeitweise nicht zu umgehenden Rückgriffen auf Entwicklungen in Siebenbürgen, deren Bedeutung für die rumänische Staats- und Nationsidee unbestritten bleibt und auf die Harre zeitweise argumentativ zurückgreifen muss (vgl. S. 38, 86). Die ohnedies schon für das Altreich vielschichtig und kompliziert gelagerte Rezeptionsgeschichte europäischer Modernisierungstheorien hätte sich andererseits durch eine Einbeziehung eines stark westlich angebundenen Raumes wie Siebenbürgens (oder der Bukowina) erheblich – wohl auch auf Kosten der inneren Verständlichkeit – ausgeweitet.

Das hier ausgebreitete diskursive Spannungsfeld Entwicklungsmodelle – Alternativen – Strategien (der Umsetzung) lässt sich vereinfacht auf ein in Rumänien geprägtes geradezu stereotypes Schlagwort eindampfen, das für die dortigen Modernisierungsbewegungen vielfach zutrifft: Formen ohne Inhalt. In allen vier analysierten Ismen spiegelt sich letztlich ungeachtet ihrer programmatischen Differenzen eine persistent zwiespältige Haltung der regierenden Elite gegenüber den diffus bleibenden Massen der bäuerlichen Bevölkerung. Selbst die zeitweise von der Unterstützung der Bauernschaft erheblich profitierende Strömung des Agrarismus hatte weniger die Demokratisierung der Gesellschaft zum Ziel denn die Errichtung einer „Bauerndiktatur mit demokratischem Antlitz“ (S. 204). Auch der Faschismus wusste lediglich diesen Bevölkerungsteil geschickt zu instrumentalisieren, indem er ihm Stabilität und eine radikale Abkehr von dauernden Reformen versprach. Die von Harre nur mehr rudimentär im Ausblick angerissene Periode des Sozialismus nach 1945 zeigt zahlreiche Kontinuitäten und Persistenzen während der Ären von Dej und Ceauşescu auf. Insofern unterscheidet sich Rumänien deutlich von anderen vormaligen Mitgliedsstaaten des RGW, wo der Bruch mit dem Staatssozialismus  wesentlich klarer war.

Die im 19. Jahrhundert bewusst verhinderte Herausbildung eines städtischen Bürgertums als klassischem Träger von Modernisierung und gesellschaftlicher Umgestaltung bzw. eine dazu spiegelbildliche isolationistische Haltung der Eliten nach außen ohne Bereitschaft zur Schaffung einer breiten gesellschaftlichen Machtbasis führte in der Konsequenz zu einer ausgesprochen dichotomen Gesellschaft, deren strukturelle ‚Defizite‘ sich im heutigen Rumänien sowohl in gesellschaftlicher als auch in räumlicher Hinsicht nach wie vor stark durchpausen. Die von der Autorin ausgewählten wenigen und als Einstieg zum jeweiligen Kapitel bewusst platzierten zeitgenössischen Photographien Willy Praghers verdichten auf ihre Weise diese Situation. Sie unterstreichen oftmalige Parallelitäten, die Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit. Die beigefügte Literaturliste eröffnet zudem in ihrer Zusammenstellung auch den Zugang zu einem bibliographisch sonst nur schwer zu erschließenden Fundus an gedruckten Primärquellen, wenngleich es leider verabsäumt wurde, bei den nicht publizierten Manuskripten deren Standort anzugeben.

Frau Harre legt mit ihrer Studie insgesamt einen fundamentalen Beitrag nicht nur zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Rumäniens vor, sondern liefert damit auch einen wesentlichen Eckstein zum Verständnis des Gegenwärtigen.

Kurt Scharr, Innsbruck

Zitierweise: Kurt Scharr über: Angela Harre: Wege in die Moderne. Entwicklungsstrategien rumänischer Ökonomen im 19. und 20. Jahrhundert. Wiesbaden: Harrassowitz, 2009. 249 S., 6 Abb. = Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas, 18. ISBN: 978-3-447-06003-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Scharr_Harre_Wege_in_die_Moderne.html (Datum des Seitenbesuchs)

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