Thomas M. Bohn Minsk – Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2008. 410 S., 35 Abb. = Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, 74.

Existiert bzw. existierte der Typus einer „sozialistischen Stadt“ sowjetischer Prägung überhaupt? Und wenn ja, worin lag der Maßstab für dessen Kategorisierung? Das äußere Erscheinungsbild, die urbane Morphologie, die Gestalt als (Ge­samt-)Kom­position? Oder ist es vielleicht das weniger Sichtbare, das weniger Offensichtliche, das vermeintlich weniger Dauerhafte – der gesellschaftliche Diskurs in seinen verschiedenen räumlich-sozialen Vernetzungsebenen im Hintergrund? Oder versteckt sich die „sozialistische Stadt“ gar in ihrer Idee davon, bzw. zeigt sie sich erst in der Realität ihrer Umsetzung im sowjetischen Alltag, flankiert von Fehlplanung, Gleichgültigkeit und Improvisation? Und ist nicht gerade damit justament Minsk das Paradebeispiel einer „sozialistischen Stadt“? Ein Paradebeispiel, das die markante Modernisierung im Wandel von einer Agrar- in eine urbanisierte Industriegesellschaft nach 1945 auf einer durch den Krieg weitgehend zerstörten, für die Neugestaltung eigentlich idealen tabula rasa dokumentiert?

Ein Konvolut von mehr oder weniger geordneten Fragenbündeln, die erst mit dem Scheitern des sozialistischen Experiments (in der Sowjetunion) und dem Ende der bewusst propagierten Gegenwelt zum „Westen“ zunehmend an Aktualität gewinnen. Denn erst jetzt stellt sich etwa für die nach diesem Scheitern entstandene „Transformationsforschung“ die oberfläch­liche Klischeehaftigkeit bisheriger Ansichten zur nahezu modellhaften „sozialistischen Stadt“ heraus. Das Eindampfen des Begriffs auf baulich-räumliche Idealvorstellungen, die gezielte Überwindung des Stadt-Land-Gegensatzes und die architektonisch manifestierte Ideologie des Gegensatzes zur kapitalistischen Entwicklung urbaner Zentren stellt sich als zunehmend differenzierter und individueller heraus – vor allem, wenn man die Analyse um die Betrachtung der „Gesellschaft sowjetischen Typs“ erweitert.

Forschung zur Geschichte der Stadt in der ehemaligen Sowjetunion oder der Geschichte des Urbanen nahm bislang in der (westlichen) Osteuropaforschung nur eine marginale Stellung ein, die erst in den letzten Jahren langsam durchbrochen wird (vgl. beispielsweise Julia Obertreis Tränen des Sozialismus. Wohnen in Leningrad zwischen Alltag und Utopie 1917–1937. Köln, Weimar, Wien 2004) und sich jetzt auch um die Periode nach 1945 kümmert. In der Geographie war die sozialistische Stadt ein formalisierter Typus, der zwar im Rahmen des Strukturansatzes die (nationale) Individualität der Stadt hervorhob, gerade aber am Beispiel der Sowjetunion oberflächlich blieb, weil man die Kontextualisierung mit der Gesellschaft und was noch wichtiger ist – die Differenz zwischen Anspruch (Ideologie), Realität (Alltag) und den jeweils möglichen Handlungsspielräumen, die sich daraus ergaben und selbst wieder einem dynamischen Wechselwirkungsprozess unterlagen, zu wenig mit einbezog bzw. zu wenig überhaupt als solche erkannte. Der Ansatz blieb statisch, beschreibend. Neuere Forschungen – auch mit dem Ziel, die Gegenwart des Gesamtorganismus Stadt im Rahmen des Systemwandels besser verstehen zu lernen – entdeckten ein um vieles differenzierteres Bild der vermeintlich uniformen „sozialistischen Stadt“ (vgl. u.a. die Arbeiten von Monika Rüthers Mos­kau bauen. Von Lenin bis Chruščev. Köln, Weimar, Wien 2007; Karl Schlögel Terror und Traum. Moskau 1937. München 2008; Joachim Vossen Bukarest. Die Entwicklung des Stadtraums. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin 2004): eine Vielfalt, die aus einer Mischung von historischem Substrat (vor 1918), sozialistischer Ideologie (und ihrem Wandel) sowie der alltagsweltlichen Bewältigung geformt wurde, in ihrer jeweiligen Gewichtung aber von Fall zu Fall individuelle Stadtlandschaften herauszubilden im Stande war. Diese Gewichtung zu erkennen, einzuschätzen und in ihren Folgen für den urbanen Raum und seine Gesellschaft auf verschiedenen Maßstabsebenen zu analysieren und zu kontextualisieren ist die Aufgabe solcher Einzelstudien, gleichzeitig aber auch der Ansatzpunkt für die von neuem aufgeworfene Frage nach dem letztlich Gemeinsamen der „sozialistischen Stadt“. Aus dem vom Autor Thomas M. Bohn formulierten Anspruch seiner Studie über Minsk, die Facetten eines reichhaltigen Bildes aufzublättern und sich auf die Kontrastierung von Theorie und Praxis, von Anspruch und Realität zu konzentrieren (S. 28), erwächst ein grundlegend neuer Ansatz zur Analyse des Urbanen in der Sowjetunion.

Bohn gliedert seine verdienstvolle Arbeit – neben Einleitung (I.) und Zusammenfassung (VII.) im wesentlichen in sechs Abschnitte:

Die Kritik beschränkt sich auf technische Details und versteht sich mehr als Anregung für die Publikation weiterer Ergebnisse aus dieser so reichhaltigen wie faszinierenden Forschungsleistung. So wäre etwa eine zentrale Bibliographie der gesamten Literatur – gerade im Hinblick auf die Masse und die Streulage der Publikationen zum Thema – überaus hilfreich gewesen. Bohn weist darauf hin (S. 359), dass die vollständigen bibliographischen Angaben zu weiterführender Fachliteratur aus Platzgründen nur an den gegebenen Orten im Anmerkungsapparat aufscheinen. Die wenigen Schwarzweißabbildungen (zumeist historische Aufnahmen) hätten durchaus einen eigenen Bildkommentar vertragen, evtl. auch eine Gegenüberstellung mit der heutigen Erscheinungsform der Motive, zumal der Autor gerade in der Einleitung auf das Umschlagbild zur Photographie als Quelle in spannender Weise eingeht. Es fehlt zudem ein (aktueller wie historischer) Stadtplan, der die Orientierung erleichtert hätte, wie es überhaupt der Autor versäumt hat, die bauliche Entwicklung von Minsk kartographisch umzusetzen. Ebenso wäre es der Lesbarkeit der Studie zugute gekommen, die Vielfalt der eingeflossenen Statistiken (parallel zu den Daten) auch in übersichtlichen Karto- und Diagrammen aufzulösen.

Zusammenfassend zeigt sich die nach 1945 heranwachsende sowjetische Industriemetropole Minsk in der vorliegenden Arbeit als eine an der Realität des Systems gescheiterte städtebauliche Vision, in der die Fassaden der stalinistischen Machtrepräsentation, mit jenen der Propaganda unter Chruščëv und jenen des (stillstehenden) „entwickelten Sozialismus“ während der Brežnev-Zeit wechselten und letztlich das Primat des Inhalts vor der Form galt, eine Vision, bei deren Realisierung die durch die Propaganda geweckten Erwartungen auf den Spar­zwang als strukturelles Problem einer wirtschaftlichen Realität und einer konsequenten Unfähigkeit der Behörden, dieses Problem dauerhaft zu lösen, trafen. Die neue Stadt konstituierte kein Gesamtensemble, sondern monumentale architektonische Einzelprojekte (S. 2). Minsk war über Jahrzehnte – weit entfernt von einer sozialistischen Musterstadt – ein Ort des Mangels und des Widerspruchs. So mutet es geradezu als schicksalhaft an, wenn die seit den Dreißigerjahren theoretisch verbindlichen Wohnraumnormquadratmeter pro Einwohner erst am Ende der achtziger Jahre annähernde Realität wurden. Gerade in diesem gesellschaftlichen Spannungsverhältnis muss wohl auch das Typische oder zumindest der Kern des Typischen der „sozialistischen Stadt“ liegen, zu dessen weiterer Analyse die Arbeit von Thomas M. Bohn einen wesentlichen Baustein liefert.

Kurt Scharr, Innsbruck

Zitierweise: Kurt Scharr über: Thomas M. Bohn: Minsk – Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2008. = Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, 74. ISBN: 978-3-412-20071-8, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Scharr_Bohn_Minsk.html (Datum des Seitenbesuchs)