Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 3, S. 470-471

Verfasst von: Claus Scharf

 

Peter Hoffmann: Aleksandr Nikolaevič Radiščev (1749–1802). Leben und Werk. Frankfurt a.M. [usw.]: Lang, 2015. XVI, 332 S. ISBN: 978-3-631-65896-3.

Am Beispiel von Aleksandr N. Radiščev und Peter Hoffmann bestätigt sich, dass nicht nur Bücher, sondern auch Autoren ihre Schicksale haben. Niemand in Deutschland hat sich so lange und so intensiv mit Leben und Werk des russischen Schriftstellers beschäftigt wie der Historiker des Jahrgangs 1924. In den letzten Jahren hat er sein Leben vom Dienst in der Waffen-SS über die Berufstätigkeit als einer der führenden Experten der DDR für die Geschichte Russlands und der deutsch-russischen Beziehungen im 18. Jahrhundert bis ins wissenschaftlich noch äußerst produktive Rentenalter freimütig bilanziert und einige seiner jahrzehntelangen Forschungsgebiete in Buchform zum Abschluss gebracht. Im gleichen Sinn verdient Respekt, dass er auch sein neues Buch als ein Vermächtnis versteht (S. 294–295). Vom Vorwort bis zum Fazit bekennt er mehrmals nahezu wortgleich, Radiščev, „der damaligen sowjetischen Forschung folgend“ (S. XII),  anfangs als den ersten Revolutionär in der Geschichte Russlands gesehen zu haben. Doch in mehreren Schritten habe er inzwischen die Einsicht gewonnen, dass in Russland am Ende des 18. Jahrhunderts die Entscheidung für eine revolutionäre oder liberale Entwicklung noch nicht getroffen werden konnte. Wer immer diese Entscheidung hätte treffen sollen, bleibt unklar, doch gewiss ist die Erkenntnis nicht falsch, es sei Radiščev um die persönliche Freiheit gegangen. So rechnet Hoffmann den kompromisslosen Ankläger von Selbstherrschaft, Leibeigenschaft und Behördenwillkür heute unter die Vorläufer sowohl der revolutionären als auch der liberalen Bewegung in Russland, während vielleicht das für die „Sattelzeit“ eingeführte Begriffspaar „Reform vs. Revolution“ angemessener wäre. Von seinem scheinbar unangreifbaren Standpunkt aus beurteilt er auch die gesamte Forschungstradition bis in die postkommunistische Zeit. Wer sich dieser Auffassung nicht anschließen kann, den trifft der Vorwurf der „Einseitigkeit“, obgleich Hoffmann die wissenschaftlichen Erträge solcher „einseitigen“ Autoren wie Babkin, Makogonenko, Starcev, Zapadov und Tatarincev gelten lässt und ihren quellennahen Interpretationen in seiner Faktographie mitunter durchaus eng folgt. Es wäre wohl zu viel verlangt, von ihm eine Periodisierung der doktrinären Radiščev-Deutungen zu erwarten, in denen es nicht allein um die Formationslehre, die Klassengegensätze und die Abgrenzung zwischen liberalen Aufklärern und dem einen Revolutionär im Russischen Reich des 18. Jahrhunderts ging. Vielmehr wurde Radiščev nach 1945 vor allem als „großer Sohn des großen russischen Volkes“ gefeiert, waren beim Kampf gegen den Kosmopolitismus ausländische Einflüsse verfemt und diskutierten noch bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts angesehene Literaturhistoriker ernsthaft die Frage, ob es nicht herabsetzend sei, einen Revolutionär mit dem literarischen Sentimentalismus statt mit dem „fortschrittlichen“ Realismus in Verbindung zu bringen.

Hoffmann nennt sein Buch eine „zusammenfassende biographische Monographie“ (S. XIII). Zwar gliedert es sich nach Vorwort und Einleitung in zehn einleuchtende Kapitel einer Biographie und ein Fazit, aber der Anlage nach ist es nicht zu einer Darstellung geraten, die für ihren Helden Interesse wecken könnte, sondern in weiten Teilen zu einem detaillierten Forschungsbericht für das Fachpublikum unter Slavisten und Historikern. Erläuterungen der Quellen, sogar mit Nachweisen einzelner Druckerzeugnisse in den Bibliotheken, und allgemeine Urteile über die wissenschaftlichen Autoren und ihre Untersuchungen werden nicht grundsätzlich in den Anmerkungen abgehandelt, sondern unterbrechen an vielen Stellen die fortlaufende Erzählung über Leben und Werke Radiščevs. Den stärksten Eindruck hinterlassen Hoffmanns ehrliche Bekundungen, dass für einzelne Fragen die Quellen fehlen, mitunter Widersprüche in den Quellen nicht aufzulösen sind oder gar die Autorschaft nicht aller Schriften aus der maßgeblichen Werkausgabe von 1938–1952 gesichert ist. Ärgerlich sind hingegen, vor allem in der Einleitung, Sätze im Text, die lediglich die bibliographischen Angaben eines Titels in den Fußnoten verbalisieren, auch wenn sie ohne eine weiterführende Erklärung hinzufügen, die Veröffentlichung sei „nützlich“. Zudem schränkt der Autor den angeblich synthetisierenden Charakter seines Buches eingangs sofort wieder mit dem Vorbehalt ein, sich als Historiker lieber nicht zu philosophischen und literarischen Problemen äußern zu wollen. In der Tat geht er zum Beispiel nicht darauf ein, dass Radiščev als Verehrer Lomonosovs sein Hauptwerk mit einem Zitat aus der Telemachide von Tredjakovskij eröffnete. Dass dieser nur im Zusammenhang mit seiner Rolle in der Entwicklung russischer Versmaße erwähnt wird, hat die Konsequenz, dass der Bezug zu Fénelon und zur gesamten Literatur über gute und schlechte Herrscher im 18. Jahrhundert versäumt wird. Aber konsequent kann Hoffmann den Verzicht auf philosophische und literarische Aspekte bei diesem Schriftsteller und angesichts einer überwiegend von Literaturhistorikern geprägten Forschungstradition gar nicht durchhalten. Und dass er auch sehr wohl in der Lage ist, weltanschauliche Probleme präzise zu interpretieren, wenn es die Quellenlage und der Forschungsstand erlauben, beweist er überzeugend in einem Exkurs über die Beziehung zwischen den Freimaurern und Radiščev (S. 93–95): Dieser habe sich trotz mancher Gemeinsamkeiten in der humanistischen Gesinnung nach einem kurzfristigen Kontakt klar wieder von ihnen distanziert und dennoch die Freundschaft mit Aleksej Kutuzov bewahrt, der ihm schon im Pagenkorps, in Leipzig und danach im Staatsdienst in Petersburg am nächsten gestanden hatte. Und ebenso fest bekannte sich Kutuzov während seiner Berliner Aktivitäten mit den Rosenkreuzern zu jener Freundschaft sogar, als er aus Anlass des Gerichtsverfahrens gegen Radiščev Wert darauf legte, dass dessen radikale Botschaften nichts mit der Freimaurerei zu tun hätten und dass diesen Befund aus beider Korrespondenz eigentlich auch die Untersuchungsbehörden kennen müssten.

Die Schwerpunkte der Darstellung sind eindeutig dort zu erkennen, wo eigene Untersuchungen vorausgegangen sind. So fällt das Kapitel über die Studienjahre Radiščevs und seiner russischen Kommilitonen – gleichzeitig mit Goethe – an der Universität Leipzig dank der Vorarbeiten von Hoffmann selbst, Erhard Hexelschneider und Siegfried Hillert mit 48 Seiten erheblich länger aus als die Interpretation des wichtigsten Werkes, der Reise von Petersburg nach Moskau, mit 29 Seiten. Daneben profitieren die Kapitel über den Staatsdienst Radiščevs insbesondere von Hoffmanns Archivforschungen über den Petersburger Hafen und den Hafenzoll sowie die Aufgabenbereiche und den Dienstalltag des bis zum Kollegienrat und Ordensträger aufsteigenden Kritikers von Staat und Gesellschaft. Und zu den besonderen Höhepunkten sind auch Hoffmanns Ausführungen über eine der ersten literarischen Arbeiten Radiščevs nach der Rückkehr aus Leipzig zu rechnen: Gegen Honorar übersetzte er 1773/74 aus dem Deutschen ein Offiziershandbuch für alle Ränge, als dessen Verfasser der frühere preußische Militärschriftsteller Anthon Leopold von Oelsnitz (1722–1787) nachgewiesen werden kann, der allerdings zum Zeitpunkt der Übersetzung längst als Oberst in der polnischen Armee diente. Dass bisher weder der russische Zieltext der Oficerskija upražnenija sprachlich und militärgeschichtlich untersucht, noch die deutschsprachige Vorlage ermittelt wurde, zeigt nach Hoffmann, dass die Radiščev-Forschung längst nicht am Ende ist. Dem ist zuzustimmen, und wer je sich daran macht, eine besser lesbare Biographie Radiščevs zu verfassen, tut gut daran, sich an den Stärken des Buches von Hoffmann zu orientieren.

Claus Scharf, Mainz

Zitierweise: Claus Scharf über: Peter Hoffmann: Aleksandr Nikolaevič Radiščev (1749–1802). Leben und Werk. Frankfurt a.M. [usw.]: Lang, 2015. XVI, 332 S. ISBN: 978-3-631-65896-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Scharf_Hoffmann_Aleksandr_Nikolaevic_Radiscev.html (Datum des Seitenbesuchs)

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