Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 1, S. 146-148

Verfasst von: Pavel Ščerbinin

 

Nikolaj L. Pobol’ / Pavel M. Poljan: Okkupirovannoe detstvo. Vospominanija tech, kto v gody vojny ešče ne umel pisat’ [Besetzte Kindheit. Erinnerungen von Menschen, die in den Kriegs­jahren noch nicht in der Lage waren zu schreiben]. Avtor predislovija P. Poljan. Moskva: Rosspėn, 2010. 381 S., Abb. = Čelovek na obočine voiny. ISBN: 978-5-8243-1404-5.

Bernd Bonwetsch: Kriegskindheit und Nachkriegsjugend in zwei Welten. Deutsche und Russen blicken zurück. Essen: Klartext, 2009. 327 S., 10 Abb. ISBN: 978-3-8375-0187-2.

Das Erscheinen der beiden Erinnerungsbücher über die Kindheit im Zweiten Weltkrieg spiegelt das wachsende Interesse der Öffentlichkeit und auch der Historiker für die tragischen Seiten der Kindheit im Krieg wider. Die Spezifik dieser Erinnerungen an den Kriegsalltag liegt darin, dass sie von Erwachsenen auf der Basis lebhafter und nachhaltiger Eindrücke verfasst worden sind. Beide Ausgaben sind sehr unterschiedlich in ihrer Herangehensweise, in ihren bibliographischen Angaben, im Umfang, in der editorischen Aufmachung, in der Auflage, aber sie weisen zugleich auch Gemeinsamkeiten auf:

1. Die Memoiren sind von der Generation des Krieges, der „Kriegskinder“, geschrieben und repräsentieren eine besondere Weise historischer Rekonstruktion der Kriegs- und Nachkriegszeit, gebrochen im Prisma der Erinnerungen fünfzig Jahre danach.

2. Die Erinnerungen enthalten aus der heutigen Sicht der Autoren die für sie wichtigsten Eindrücke und Ereignisse aus ihrer Kindheit und Jugend.

3. Die Memoiren lesen sich unterhaltsam, sie brillieren mit genauen,  amüsanten, tragischen und komischen, auch stereotypen Erlebnissen, die sich in der Erinnerung festgesetzt haben.

4. Beide Ausgaben sind mit Photodokumenten der Kriegszeit und Photographien aus persönlichem Besitz ausgestattet.

5. Die Erinnerungen sprechen die unterschiedlichsten Seiten alltäglicher Lebensweise an: Routinen und Feiern, Essen, Arbeit und Lernen, die Beziehungen in der Familie und zur Umgebung, das Verhältnis zu Fremden, zum „Feind“ in der Brechung weltanschaulicher, ethnischer, konfessioneller und soziokultureller Vorstellungen und kindlicher Eindrücke.

6. In den Erinnerungen spiegeln sich traumatisierende Ereignisse wider (Ortsveränderungen, Verluste, physische und moralische Leiden der Kriegs- und Nachkriegszeit). Die Kinder und Jugendlichen Deutschlands und der UdSSR waren Opfer der kriegerischen Ereignisse und der Nachkriegszerstörungen sowie der sozialen Verwerfungen und Umbrüche. Sie hatten inner- und außerhalb der Familien neue Werte und Verhaltensnormen zu erlernen.

7. In den kindlichen Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit brechen sich auch politische und ideologische Wirkungen der beiden Diktaturen, die Einstellungen der Eltern und des Umfeldes zu den sozialen und politischen Institutionen der Zeit.

Selbstverständlich gibt es auch gravierende Unterschiede:

Die russischen Erinnerungen in „Besetzte Kindheit“ werden eingeleitet von einem der Herausgeber, dem Historiker und Geographen Pavel Poljan. Er betont, dass die Erinnerungen der beiden Jungen (Vladimir Vyčerovs und Boris Mironovs) und der beiden Mädchen (Esfir Bogdanovas und Žanna Zajončkovskajas) über die Kindheit unter deutscher Besatzung früher kaum hätten erscheinen können. Die sowjetischen Menschen hatten sich daran gewöhnt, „nicht unnötig zu reden“, denn sie hatten allen Grund, die unvermeidlichen Folgen öffentlicher Erinnerungen an das Leben „jenseits der Frontlinien“ zu fürchten. (Ich verweise nur darauf, dass bis in die Zeit Gorbačevs hinein die Bürger der UdSSR verpflichtet waren, in den Fragebögen Angaben darüber zu machen, ob sie oder ihre Verwandten in den besetzten Gebieten gelebt hatten.)

Die russischen Memoirenschreiber verlebten ihre Kindheit geographisch in ländlichen Gegenden der Gebiete (oblasti) von Kursk, Poltava und Pskov. Alle beschreiben sie das Verhältnis der Dorfbewohner zu den Deutschen, Kollaboration und zwischenmenschliche Beziehungen der Dorfbewohner zu den „Okkupanten“. Im Unterschied zur sowjetischen Propaganda und ihren Feindbildern bewahrten sich diese Kinder ihre eigenen Erinnerungen an deutsche Soldaten und Offiziere: Sie schreiben, dass diese mit Medikamenten aushalfen, Süßigkeiten und Geschenke verteilten; sie erinnern sich an ihre Gutmütigkeit und Höflichkeit.

Besonders erinnert werden die Frömmigkeit der Einwohner und das neu entstehende kirchliche Leben in den besetzten Gebieten. Es überrascht das Bekenntnis, dass die Beziehungen der Einwohner zu den Partisanen angespannt waren, da sie wussten, dass Partisanenaktivität Strafaktionen der deutschen Seite hervorrufen und sich das Leben der Dorfbewohner deshalb dramatisch verschlechtern würde. Außerdem kommen in den Erinnerungen „gewöhnlicher Kinder in ungewöhnlicher Zeit“ die wenig freundlichen Beziehungen vieler Dorfbewohner zur kommunistischen Politik, zum Verbot, Pferde zu halten, zur Kollektivierung usw. zum Ausdruck.

Im Resümee ist der Gerechtigkeit halber festzuhalten, dass in dem Sammelband viele Klischees und traditionelle Bewertungen über die „Okkupanten“ und das Heldentum der Partisanen in Frage gestellt werden. So erinnert sich Boris Mironov, dass die Kämpfer der spontan entstandenen Einheiten „die friedlichen Einwohner hassten, sie verantwortlich machten für Niederlagen, auch dafür, dass man ihnen die Kampfeinsätze nicht anrechnete; deshalb beraubten sie die Bauern“ (S. 197). Darüber hinaus werden die Kriegserinnerungen oft ergänzt durch Skizzen über das Dorf der Nachkriegszeit, über die Erfahrungen der 1950er und 1960er Jahre und zuletzt durch aktuelle Reflexionen.

Ein ganz anderes Profil liefern die Erinnerungen in „Kriegskindheit und Nachkriegsjugend“ der sieben Historiker aus Russland und der zehn aus Deutschland, darunter nur drei Frauen. Es handelt sich um Spezialisten der osteuropäischen oder deutschen Geschichte: Hans Lemberg: Kindheit und Jugend in Mitteleuropa; Julia Oswalt: Zwischen den Welten 19341953; Gert von Pistohlkors: Ein jugendlicher Deutschbalte aus Estland; Carsten Goehrke: „Pommerland ist abgebrannt“; Hans-Heinrich Nolte: Kindheit und Jugend in Deutschland; Claus Scharf: Vaterlos glücklich; Bernhard Schalhorn: Zwischen Neu-Tempelhof und Ratingen; Bernd Bonwetsch: Heimatlos; Karl-Heinz Schlarp: Zwischen Nachkriegsmisere und Wohlstandsgesellschaft; Hans Hecker: Wer kann sich schon an seine Taufe erinnern?; Galina Saposchnikowa: Der Krieg meiner Kindheit und Jugend; Ludmilla Thomas: Kindheit in Sibirien; Arkady Tsfasman: Abschied von einer Illusion; Viktor Pawlow: Auf dornigem Weg zum Wunschberuf; Sergei Suchorukow: Ein Leben, das auch nicht hätte sein können; Alexei Filitow: Wie man ein Historiker wird; Michail Jerin: Kinder des Krieges).

Prof. Bernd Bonwetsch erzählt in seinem einleitenden Beitrag „Normale Erinnerung – un­normale Zeiten“ detailliert, wie auf einer Konferenz in Kemerovo im September 2006 die Idee für einen solchen Sammelband von Erinnerungen entstand und wie er schließlich ausgeführt wurde. In den Erinnerungen der russischen und deutschen Historiker sticht die geographische Weite hervor und mehr noch die sehr uneinheitliche Bewertung des Erlebten. Wenn die deutschen Historiker auf eine bürgerliche Erziehung und Ausbildung zurückblicken, so erfolgte diese bei den russischen Kollegen unter den Bedingungen sozialistischer Sozialisation. Die russischen Autoren lebten nicht in den besetzten Gebieten, die deutschen hingegen kamen aus den ostmitteleuropäischen Regionen – dem Baltikum und den Sudetengebieten sowie aus der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR. Alle Erinnerungen werden begleitet von biographischen Angaben über die Herkunft, die familiäre Situation, die Ausbildung und die wissenschaftlichen Interessen. Dieses ist nicht unwichtig für die Rezeption der Texte.

Die Erinnerungen der professionellen Historiker über ihre Kindheit im Krieg und in der Nachkriegszeit unterscheiden sich durch ihren strengen und logischen Aufbau, durch wertende Urteile und eine strenge Chronologie. Manchmal erscheinen sie mir zu sehr gefiltert durch die heutige Sicht auf die Vergangenheit. Sie enthalten wenig Emotionen, nur wenige Aussagen über damalige Empfindungen, sind zurückhaltend mit psychologischen Charakterisierungen und lassen kaum eine persönliche Sicht auf die Ereignisse erkennen. Auf der anderen Seite werden Einblicke gewährt, nicht nur ins Familienleben, sondern auch in die Techniken des Überlebens im Krieg und in den Trümmern der Nachkriegszeit.

Wenn der oft erbärmliche Nachkriegsalltag der sowjetischen Autoren eingefärbt ist durch den Sieg, so standen die Erlebnisse der deutschen Kinder unter dem Eindruck der Niederlage und der „Wanderung“, der Bekanntschaft mit der Roten Armee und ihrer Verbündeten. Außer Frage steht, dass auf Sympathie oder Abneigung der Kinder und Jugendlichen nicht nur familiäre Traditionen und nationale Bedingungen Einfluss nahmen, sondern vor allem das aktuelle Verhalten der jeweiligen Besatzer. So erinnert sich Karl-Heinz Schlarp an seine Begeisterung für den amerikanischen way of life, die amerikanische Kultur und die Filme in Ludwigsburg (S. 182).

Beide Bände enthalten ohne Zweifel viele neue Informationen über die „Kriegs­kinder“. Sie lassen die unterschiedlichen weltanschaulichen und psychologischen Entwicklungen und Traditionen der Deutschen und Russen unter den Bedingungen des Alltags im Krieg und in der Nachkriegszeit erkennen. Beide Bücher verdienen die Aufmerksamkeit sowohl von professionellen Historikern als auch eines breiteren Publikums, das sich für das Erleben des Krieges und der Nachkriegszeit interessiert.

Pavel Ščerbinin, Tambov

Zitierweise: Pavel Ščerbinin über: Nikolaj L. Pobol’ / Pavel M. Poljan Okkupirovannoe detstvo. Vospominanija tech, kto v gody vojny ešče ne umel pisat’ [Besetzte Kindheit. Erinnerungen von Menschen, die in den Kriegs­jahren noch nicht in der Lage waren zu schreiben]. Avtor predislovija P. Poljan. Moskva: Rosspėn, 2010. 381 S., Abb. = Čelovek na obočine voiny. ISBN: 978-5-8243-1404-5.Bernd Bonwetsch: Kriegskindheit und Nachkriegsjugend in zwei Welten. Deutsche und Russen blicken zurück. Essen: Klartext, 2009. 327 S., 10 Abb. ISBN: 978-3-8375-0187-2., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Scerbinin_SR_Deutsche_und_russische_Kindheit_im_Zweiten_Weltkrieg.html (Datum des Seitenbesuchs)

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