Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 4, S. 660-663

Verfasst von: Maike Sach

 

Katharina Schmidt: Trauma und Erinnerung. Die Historisierung der Mongolen­invasion im mittelalterlichen Polen und Ungarn. Heidelberg: Winter, 2013. IV, 498 S., 15 Abb. = Heidelberg Transcultural Studies, 2. ISBN: 978-3-8253-6149-5.

Formen und Praktiken menschlichen Erinnerns sind bereits seit einigen Jahren ein fruchtbares Forschungsfeld der Geschichtswissenschaft, welches darüber hinaus vielfältige Anschlussmöglichkeiten für interdisziplinäres Arbeiten bietet. Dies ist auch der Fall bei der Untersuchung von Katharina Schmidt, die als Dissertation im Heidelberger Exzellenzcluster Asia and Europe in a Global Context, hier im Projekt D 1 Historicizing violence entstanden und von Stefan Weinfurter und Bernd Schneidmüller betreut worden ist.

Der Verfasserin geht es in ihrer Studie nicht um die Rekonstruktion des Verlaufs der Einfälle der Mongolen in das östliche Europa zu Beginn der vierziger Jahre des 13. Jahrhunderts, sondern um die Spuren, die diese Ereignisse im kollektiven Gedächtnis der betroffenen Völker hinterlassen haben. So möchte sie der Wahrnehmung der Invasion durch die Zeitgenossen und der nachfolgenden Generationen im weiteren Verlauf des Mittelalters nachspüren und dabei die Rezeptionsgeschichte des Mongoleneinfalls in Polen und Ungarn einer diachronen Analyse unterziehen. Damit grenzt Schmidt ihren Untersuchungsgegenstand auf das lateinisch schreibende Europa ein und die Rus mit ihren altrussischen Zeugnissen aus ihrem Blickfeld aus.

In einem ersten Theorieteil setzt sich Schmidt grundsätzlich mit Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozessen auseinander: Dabei führt sie zunächst in Modelle der Neurobiologie und der Psychologie ein, um verschiedene Faktoren zu benennen, die bei der Konstituierung des Gedächtnisses eine Rolle spielen. Anschließend skizziert sie verschiedene Gedächtnismodelle, die an Ideen, die Maurice Halbwachs in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts formuliert hat, anschließen und das Gedächtnis von Gruppen, seine Konstituierung und seine Funktionen – wie Identitätsstiftung – zum Inhalt haben. Die weitere Diskussion rund um Fragen der Erinnerung und des Gedächtnisses unter kulturwissenschaftlichen Vorzeichen wird am Beispiel der Forschungen von Aleida und Jan Assmann nachgezeichnet. Letzterer hat seine Ideen ursprünglich am Beispiel der altägyptischen Gesellschaft entwickelt. Schmidt skizziert die für ihren Ansatz relevanten Konzepte des kommunikativen und des kulturellen Gedächtnisses konzis: Das kommunikative Gedächtnis bezeichne die Erinnerung einer überschaubaren, national oder regional definierten Gruppe, die als Zeitzeugen Inhalte meist mündlich tradiere; diese seien in diesem Prozess aber durchaus auch Veränderungen unterworfen. Im kulturellen Gedächtnis seien dagegen eher als außergewöhnlich apostrophierte Inhalte abgespeichert, die sich nicht auf vergleichsweise kurz zurückliegende Vergangenheiten bezögen, von denen Augenzeugen berichten könnten. Schmidt setzt sich angesichts der Unterschiedlichkeit altägyptischer und mittelalterlicher Erinnerungsgemeinschaften kritisch mit den Möglichkeiten eines Modelltransfers auseinander und führt als Hilfskonstrukt das „master narrative“ in ihre Arbeit ein, um den Besonderheiten der mittelalterlichen Gesellschaften gerecht zu werden. Ferner stellt sie für ihr Erkenntnisinteresse relevante Überlegungen Johannes Frieds vor, der sich in Anschluss an neuere neurobiologische Forschungen zur Struktur des Gehirns und aus dem Bereich der Anthropologie in verschiedenen Arbeiten mit den Faktoren beschäftigt hat, die Wahrnehmung und Erinnerung beeinflussen und memorierte Inhalte verformen bzw. auch zur Implantierung von Erinnerung führen (monographisch zusammengefasst in: Johannes Fried Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. München 2004).

Der zweite Theorieteil ist Erkenntnissen aus dem Bereich der Trauma- und Gewaltforschung gewidmet, in dem Schmidt neben der Klärung von Begriffen einen knappen Überblick über psychoanalytische und kulturwissenschaftliche Traumamodelle bietet. Ferner arbeitet sie die Besonderheiten der Narrative von traumatisierten Personen oder Gruppen heraus, die insbesondere in Deutungen und Umdeutungen erlittener Niederlagen bestünden, die ihrerseits charakteristische Muster aufwiesen.

Anschließend wendet Schmidt die theoretischen Modelle und Konzepte konsequent auf das überlieferte Quellenmaterial an, darunter Chronikberichte, Heiligenviten, Klagegedichte, Briefe und Arengen, aber auch Inschriften sowie bildliche Darstellungen. Besonders am Beispiel eines bislang eher wenig beachteten Klageliedes kann sie die Fruchtbarkeit ihres Ansatzes nachweisen.

Den Rezeptionsprozess selbst arbeitet die Verfasserin chronologisch auf, indem sie mit der Analyse der Darstellung der traumatisierenden Ereignisse rund um die mongolische Invasion und des Lebens der von ihnen betroffenen Zeitgenossen beginnt. Ein Schwerpunkt liegt auf der Erarbeitung der Perspektive der Opfer, allerdings untersucht Schmidt auch die Darstellung der Mongolen als Täter.

Im nächsten Abschnitt ihrer Arbeit stellt Schmidt die verschiedenen Narrative und Deutungen vor, die die direkt von den Einfällen betroffenen Menschen über die Ereignisse entwickelt haben. In Anschluss an ihre theoretischen Erwägungen verweist die Verfasserin schlüssig auf die psychologischen Funktionen dieser Narrative für die traumatisierten Überlebenden. Sie kann dabei die identitätsstiftenden Potentiale der gemeinsamen Erfahrung einer Niederlage und absoluter Unterlegenheit herausarbeiten.

Insbesondere die Überführung der Ereignisse zunächst in das kommunikative Gedächtnis der nachgeborenen Generation(en), ihre Verarbeitung und Neubewertung lässt die Erinnerung an die Invasion in der Analyse Schmidts als ein flexibles Konstrukt erscheinen. Diesen komplexen Prozess sowie die Modellierung der Mongoleneinfälle als legendenhaftes Geschehen bei ihrer anschließenden Einbettung in das kulturelle Gedächtnis zeichnet Schmidt in zwei weiteren Teilen ihrer Untersuchung anhand verschiedener Zeugnisse der dynastischen Erinnerung, der Heiligenverehrung wie auch lokaler Erinnerung an polnischen und ungarischen Beispielen einleuchtend nach.

Besonders spannend sind die folgenden Passagen, in denen Schmidt die Reaktivierung des kollektiven Traumas der Mongoleneinfälle in regionalen und neuen politischen Kontexten aufzeigt: Hier sei nur beispielhaft erwähnt, dass die Autorin aus den Quellen zur spätmittelalterlichen Rezeption der Mongoleninvasion angesichts der wachsenden Bedrohung durch die Osmanen seit der Mitte des 15. Jahrhunderts zunächst eine Parallelisierung zwischen Mongolen und Osmanen herauspräpariert, die schließlich in eine Verschmelzung dieser beiden, zeitgenössisch als „Feinde der Christenheit“ beschriebenen Gegner in der frühen Neuzeit münden sollte.

Zum Abschluss widmet sich Schmidt schlaglichtartig der Wahrnehmung der Invasion in Böhmen sowie der Rezeption der Mongoleneinfälle bis in die Neuzeit, die die Untersuchung teilweise abrunden. Der Ausblick zur Rezeption im „transkulturellen Vergleich“, wo einige Stichworte zur Wahrnehmung der Mongolen im muslimischen Raum nach der Eroberung des Kalifats von Bagdad, in China, Japan und in der Rus auf knappem Raum präsentiert werden, ruft allerdings im Zusammenhang mit der Rus Fragen in Erinnerung, die sich bereits bei der Lektüre der Einleitung stellten: Die Verfasserin hat ihren Untersuchungsraum auf das lateinisch schreibende (und der Westkirche zuzurechnende) Gebiet mit dem Argument beschränkt, dass Polen und Ungarn eine „‚Erinnerungsgemeinschaft‘, nicht zuletzt aufgrund der engen Verbindungen zwischen den beiden Königreichen“ gebildet hätten (S. 4). Für die Rus hätten dagegen – so Schmidt völlig andere Voraussetzungen für den Umgang mit der Invasion bestanden, vor allem in Gestalt der Oberherrschaft, die die Mongolen nach der Eroberung etabliert hätten (S. 5). Das ist zwar nicht falsch, verschleiert aber in der Verallgemeinerung die Kontakte der formal unter tatarischer Oberherrschaft befindlichen ostslawischen Fürsten von Halyč-Wolhynien, die infolge der Mongoleninvasion keineswegs so isoliert waren wie die Fürsten des russischen Nordostens: Vielmehr betrieben sie eine aktive Politik gegenüber den westlichen Nachbarn, mit denen sie in Bündnissen und Familienverbindungen standen, was ebenfalls einen bestimmten Kommunikationsraum kreiert haben dürfte. Daniil von Halyč-Wolhynien empfing um 1254 sogar die Königskrone aus der Hand eines päpstlichen Legaten.

Darüber hinaus konnten die Zeitgenossen, die die Invasion in Polen und Ungarn überlebt hatten, zu diesem Zeitpunkt gar nicht wissen, ob es nicht vielleicht doch noch zu einer Eroberung nebst ihren vor allem in der nordöstlichen Rus zu besichtigenden Folgen kommen würde, die als Argument für die Abgrenzung des Untersuchungsraums herangezogen werden. Dieses Problem wird auch in Schmidts Darstellung an einigen Stellen erwähnt, ohne allerdings konzeptionelle Konsequenzen zu zeitigen: So berichtet die Verfasserin selbst aus ungarischen Quellenzeugnissen, dass für die Zeitgenossen der Ausgang der Invasion ungewiss gewesen sei (S. 82, vgl. auch S. 152), und verweist auf die „Dauerpräsenz des Traumas“ angesichts der Furcht vor neuen Einfällen der Golden Horde in Ungarn (S. 215). Vor diesem Hintergrund wäre eine Einbeziehung der russischen Sicht gerade für die Historisierung der Mongo­len­invasion im Spannungsfeld von Trauma und Erinnerung eigentlich naheliegend gewesen, um in einem weiteren Schritt die Strategien des Umgangs einer christlichen Gesellschaft unter den Bedingungen der mongolischen Oberherrschaft im Vergleich zu den Verhältnissen in Polen und Ungarn herauszuarbeiten, die zwar von einer solchen Oberherrschaft faktisch verschont blieben, aber nicht vor der damit verbundenen Angst, die für die von Schmidt ja wiederum behandelten Folgen für die Reaktivierung des Traumas eine wesentliche Rolle spielt. Fast möchte man fragen, ob nicht die Wahrnehmung des östlichen Europas durch den Umstand verzerrt wird, dass das Altrussische leider nicht zu den Sprachen gehört, die in der allgemeinen Mediävistik weite Verbreitung gefunden hat. Mit Blick auf die Quellensprache(n) und auf den Charakter der Untersuchung als Qualifikationsschrift, deren Anfertigung nur eine begrenzte Zeit lang finanziert wird, ist eine räumliche Begrenzung hier sicher arbeitspraktisch sinnvoll gewesen. Positiv ist der Verfasserin anzurechnen, dass sie polnische und ungarische Forschungsliteratur rezipiert hat, was ebenfalls nicht selbstverständlich ist.

Trotz dieser Bemerkungen ist abschließend festzuhalten, dass Katharina Schmidt eine anregende Arbeit vorgelegt hat, der viele Leser zu wünschen sind, und die durch die Aussparung der russischen Perspektive vielleicht anderen ein Arbeitsfeld eröffnet hat, das an die vorliegende Untersuchung anschließen kann. Die Monographie ist durch ein Namens- und Ortsregister erschlossen und verfügt über Abbildungen der im Text besprochenen Bildzeugnisse in guter Qualität.

Maike Sach, Kiel/Mainz

Zitierweise: Maike Sach über: Katharina Schmidt: Trauma und Erinnerung. Die Historisierung der Mongolen­invasion im mittelalterlichen Polen und Ungarn. Heidelberg: Winter, 2013. IV, 498 S., 15 Abb. = Heidelberg Transcultural Studies, 2. ISBN: 978-3-8253-6149-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Sach_Schmidt_Trauma_und_Erinnerung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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