Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 2, S. 346-348

Verfasst von: Yuliya von Saal

 

Ignaz Lozo: Der Putsch gegen Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2014. 501 S., 33 Abb., 14 Dok.ISBN: 978-3-412-22230-7.

Der August-Putsch gegen Michail Gorbačev im Jahr 1991 gehört zweifelsohne zu den Ereignissen der Zeitgeschichte, bei denen man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Das liegt nicht nur an der Dramatik des Geschehenen, sondern auch an der Vielzahl der subjektiven und konträren Darstellungen der Zeitzeugen sowie an Verschwörungstheorien, die sich vor allem um die angebliche Komplizenschaft Gorbačevs ranken und sogar Eingang in einige Geschichtslehrbücher Russlands gefunden haben. Hinzu kommt die Neubewertung des Putsches bzw. seine Rehabilitierung im postsowjetischen Russland mit der daraus resultierenden politischen Metamorphose der Zeitzeugen. Wie aus ehemaligen Gegnern Verbündete und aus Verbrechern Helden werden, zeigt etwa der Fall von Aleksandr Ruckoj. Als russischer Vizepräsident im August 1991 organisierte er noch auf Jelzins Seite den Widerstand gegen die Putschisten, 20 Jahre später verteidigte er ebendiese als „Patrioten“. Angesichts solcher Ungereimtheiten dürfte es also wenig verwundern, dass fast 25 Jahre nach dem Putsch noch keine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung vorliegt. Dieser Mangel wird nun vom Fernsehjournalisten und Osteuropahistoriker Ignaz Lozo behoben. Auf Basis seiner Doktorarbeit hat er auf 400 Seiten souverän und wissenschaftlich überzeugend ein ganzes Knäuel an Legenden, persönlichen Schuldzuweisungen und Mutmaßungen entfilzt. Gestützt auf eine Kombination von Quellen, eine rund eintausend Seiten starke staatsanwaltliche Anklageschrift, Erinnerungsliteratur und persönliche Gespräche mit den Zeitzeugen, liefert er in acht Kapiteln eine schlüssige Geschichte der Putsch-Tage und seiner politischen Folgen. Als ehemaliger ZDF-Reporter in Moskau erweist Lozo sich als exzellenter Kenner der Materie: Die Hintergründe und Motive für den Putsch (Kap. 4), Gorbačevs Rolle (Kap. 5), die Entscheidungsabläufe des Putsches und die Gründe für sein Scheitern (Kap. 6) rekonstruiert er zu einem Gesamtbild, das mit den verbreiteten Mythen aufräumt und den Forschungsstand auf den neuesten Stand bringt.

Wenngleich im Titel des Buches Der Putsch gegen Gorbatschow steht, lehrt sein Inhalt, dass der Putsch sich in erster Linie gegen den Führer der Sowjetrepublik Russland, Boris Jelzin, richtete. Natürlich war es Gorbačev, der die Reformen einführte und ihre system­sprengende Vertiefung zuließ – aus Sicht orthodoxer Kräfte ein Verrat an der Sowjetunion und deren leninistisch-marxistischen Prinzipien. Doch längst befand sich der einstige Reformer in der Defensive, seit 1990 zunehmend versuchend, eine Mittlerrolle zwischen den demokratischen Kräften und Systembewahrern einzunehmen. Sein Herausforderer Jelzin gewann hingegen um so mehr an Macht, je stärker er die sowjetische Führung mit ihren Strukturen bekämpfte und die Zerschlagung der KPdSU betrieb. Es war ja auch kein Zufall, dass der Putsch im Wesentlichen von der Spitze des KGB (Vladimir Krjučkov), des Parteiapparates der KPdSU (Oleg Šenin) sowie der Rüstungsindustrie (Oleg Baklanov) getragen wurde, ging es doch vordergründig um Systemrettung und den Erhalt der eigenen Machtposition mit materiellen Privilegien in den zentralen sowjetischen Strukturen. Die in historischen Darstellungen weit verbreitete Behauptung, ein vom KGB abgehörtes Gespräch über die künftigen personellen Besetzungen in der neuen Union zwischen Gorbačev, Jelzin und dem kasachischen Präsidenten Nursultan Nazarbaev in Novo-Ogarevo sei der Auslöser für den Putsch gewesen, weist Lozo dennoch als falsch und auf Hörensagen basierend zurück. Bei der Schilderung der Hintergründe und Motive für den Putsch räumt er auch mit der ebenso verbreiteten Behauptung der Putschisten auf, diese seien über die Verhandlungen in Novo-Ogarevo nicht ausreichend informiert und von der letzten Fassung des neuen Unionsvertrages geschockt gewesen. Die Putschisten haben den Inhalt des Vertragstextes nicht nur gekannt, so Lozo, sondern zum Teil sogar an seiner Ausarbeitung mitgewirkt. Für das Handeln auslösend sei vielmehr die TV-Ansprache von Gorbačev am 2. August gewesen, in welcher er die Vorverlegung der Unterzeichnung des Vertrages auf den 20. August und somit eine gewisse Unumkehrbarkeit des „juristischen Endes“ der Sowjetunion ankündigte. Bereits am 5. August begannen dann auch die ersten Vorbereitungen für den Putsch, initiiert von Krjučkov, Baklanov und Šenin, während andere Putschisten bzw. deren Unterstützer nach und nach und teilweise widerwillig in das Vorhaben hineingezogen wurden. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die von Lozo thematisierte einschüchternde Rolle des KGB und die tiefe Geheimdienstkultur, die er für das Zustandekommen des Putsches mitverantwortlich macht und derentwegen er zur differenzierteren Beurteilung der daran Beteiligten auffordert. Dementsprechend wird etwa die Rolle von Lukjanov, damals Vorsitzender des Obersten Sowjets, korrigiert. Von Jelzin fälschlicherweise als „Chefideologe“ des Putsches bezeichnet, nahm er in Wirklichkeit an seinen Vorbereitungen gar nicht teil.

Das Kalkül der Systembewahrer bestand zunächst darin, Gorbačev selbst dazu zu bringen, den Ausnahmezustand zu verhängen und die demokratischen Kräfte auszuschalten. Es war sein Verdienst, den Putschisten eine Absage zu erteilen und sie damit in die Bredouille zu bringen. Wenngleich der Autor zahlreiche Behauptungen über die Komplizenschaft Gorbačevs als erwiesenermaßen absurd bezeichnet, sieht er ihn doch in politischer Mitverantwortlung für das Geschehene. Denn er habe die Systembewahrer durch Konzessionen sowie durch personellen Entscheidungen an der Jahreswende 1990/1991 gestärkt und die konservativen Kräfte zum Verhängen des Ausnahmezustandes geradezu provoziert, indem er selbst die Möglichkeit eines Ausnahmezustandes im Frühjahr 1991 erörterte und die Verhängung als politische Option nicht ausschloss.

Nicht weniger sachlich setzt sich Lozo mit Jelzins Rolle während der Putsch-Tage auseinander. Ihm unterstellt er eine offensichtliche Übertreibung und Dramatisierung der Lage. Statt einer angeblich lebensgefährlichen Konfrontation zwischen dem GKČP (Staatskomitee für Ausnahmezustand) und Jelzin bestand zwischen beiden Lager eine Art Band der „Familiarität“: Die Akteure kannten sich persönlich sehr gut und es gab eine Reihe von Kontakten, wobei die Tür für Verhandlungen mit Jelzin immer offen blieb. Schließlich setzten die Putschisten ursprünglich auf Verhandlungen mit ihm seine Kommunikationsverbindungen wurden daher nicht abgeschaltet. Darüber hinaus gingen sie davon aus, dass Jelzin auf Grund seiner Gegnerschaft zu Gorbačev das Vorgehen des Komitees billigen bzw. dulden würde. Man wundert sich nur, wie naiv diese Vorstellung war, hätte doch Jelzin damit sein eigenes machtpolitisches Todesurteil unterschrieben. Als Legende erweist sich auch die weit verbreitete und im historischen Diskurs stets reproduzierte Vorstellung, es habe einen Befehl gegeben, das Weiße Haus zu stürmen, und nur die Befehlsverweigerung des Militärs sowie der Mut des russischen Präsidenten samt seiner Entourage hätten das Schlimmste verhindert. In der Tat gab es zwar Gespräche und Vorbereitungen zum Armeeeinsatz, doch kein konkretes strategisches Ziel, keine Anweisungen und gar keine Einigkeit des Komitees für eine harte Linie. Es gab also keinen Angriff auf das Weiße Haus, sehr wohl aber nächtliche Patrouillenfahrten der Armee-Panzer, die am Abend des 20. August eine Atmosphäre der Bedrohung schufen und den Tod von drei Demonstranten zur Folge hatten. Die Demonstrationen der Moskauer und Leningrader sowie die drei Opfer haben jedoch zweifelsohne dazu beigetragen, dass der Befehl zum Einsatz nie gegeben wurde und dass der Putsch scheiterte.

Ebenso ergiebig ist das Kapitel über die kaum thematisierten politischen Folgen des Putsches und seine politische Einordnung. Es ist unumstritten, dass der Putsch den Untergang der UdSSR beschleunigte, während ihn Jelzin zum Ausbau der eigenen Macht benutzte. Wenig weiß man hingegen über die anschließenden staatsanwaltlichen Ermittlungen und den Gerichtsprozess gegen die Mitglieder des Komitees, die Lozo zu Recht als politisch bewertet (S. 328). Ebenso willkürlich wie ergebnislos wurden vor dem Hintergrund von Jelzins Rechtsbrüchen als Präsident des postsowjetischen Russlands die Ermittlungen mit der Amnestie vom Februar 1994 eingestellt. Die Verurteilten kehrten ins politische Leben zurück, stiegen sogar beruflich auf und konnten selbstbewusst ihre Sichtweise auf die Ereignisse vertreten. So wird auch der heutige Diskurs nicht von Historikern, sondern von den jeweiligen Akteuren und Zeitzeugen geführt. Wie sehr diese indes von persönlichen machtpolitischen und Rachemotiven angetrieben werden, die zu ständig weitertradierten verzerrten Darstellungen und Legendenbildungen führt, zeigt dieses Buch in aller Deutlichkeit. Es bleibt nur zu hoffen, dass Lozos Werk, das im Herbst 2014 erfreulicherweise auch übersetzt in Russland erschien, zur Versachlichung der Diskussion beiträgt. Zweifelsohne gehört dieses solide und darüber hinaus sehr spannend bzw. flüssig geschriebene Buch ins Bücherregal eines jeden Osteuropahistorikers.

Yuliya von Saal, München

Zitierweise: Yuliya von Saal über: Ignaz Lozo: Der Putsch gegen Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2014. 501 S., 33 Abb., 14 Dok.ISBN: 978-3-412-22230-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Saal_Lozo_Der_Putsch_gegen_Gorbatschow.html (Datum des Seitenbesuchs)

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