Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 256-264
Verfasst von: Sabine Rutar
Im Sinne eines Nachrufs: Die Geschichte Jugoslawiens von Holm Sundhaussen (* 17.4.1942 – † 21.2.2015) als Vermächtnis
„Zurück blieb die kleine Schar der Jugoslawien-Forscher, die den geistigen
Scherbenhaufen wieder zusammenzusetzen versuchen.“
Holm Sundhaussen: Das „Schweigen der Lämmer“ und
andere Ver(w)irrungen in den 1990er Jahren, in:
Südosteuropa 60 (2012), H. 4, S. 555–567, S. 567.
Holm Sundhaussen: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2012. 567 S. ISBN: 978-3-205-78831-7.
Auf 567 Seiten erschließt Sundhaussen den interessierten Leserinnen und Lesern die Geschichte Jugoslawiens seit seiner erneuten Gründung im Zuge der zweiten Sitzung des Antifaschistischen Rates der Volksbefreiung Jugoslawiens (AVNOJ) im bosnischen Jajce im November 1943. Das zweite, sozialistische Jugoslawien entstand aus dem Volksbefreiungskampf der kommunistisch geführten Partisanenbewegung gegen die nationalsozialistische und faschistische Besatzung. Seine Gründung schloss massive Gewalt, Willkür und Repression gegen als Feinde wahrgenommene Teile der jugoslawischen Gesellschaft ein. Ein halbes Jahrzehnt nach der Etablierung des Staates begann mit dem Ausschluss aus der Kominform durch Stalin 1948 die Geschichte Jugoslawiens zwischen den Blöcken des Kalten Krieges. Das wirtschaftliche Experiment der betrieblichen Selbstverwaltung avancierte im darauffolgenden Jahrzehnt zu einem sozialistischen Vorzeigeprojekt, das nicht zuletzt in der westeuropäischen Linken beträchtliches Interesse (und beträchtliche Hoffnungen) weckte. 1968 und die Ölkrise von 1973 markierten auch für Jugoslawien eine Zeit sozialer Proteste und die endgültige Offenbarwerdung wirtschaftlicher Probleme. Nicht zuletzt bestimmten nationale Konflikte fortan die politische Agenda. Titos Tod im Mai 1980 und Gorbatschows Perestrojka-Politik seit 1985 raubten Jugoslawien schließlich zuerst sein letztes inneres Kohäsionssymbol und dann auch seinen äußeren ideologischen Gegner im Osten. Kombiniert mit dem Scheitern der Wirtschaftspolitik und den innerjugoslawischen Verteilungskämpfen mündete dies nicht nur, wie im Rest Europas, in die ultimative Legitimationskrise des staatssozialistischen Modells, sondern generierte kriegerische Auseinandersetzungen und Massengewalt sowie sieben neue Staatsgründungen – Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Mazedonien, Kosovo – von denen mindestens die Hälfte bis heute alles andere als konsolidiert ist. Sundhaussen hegte diesen Staaten gegenüber eine große Skepsis. Sie seien aus „hastig anberaumten Volksbefragungen“ hervorgegangen (S. 15) und, von Slowenien abgesehen, kaum geeignet, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern (S. 531). In Bosnien-Herzegowina beispielsweise setzten Politiker den Krieg mit anderen Mitteln fort. Sundhaussen zitiert immer wieder Quellen, die den baldigen Zerfall prophezeien.
Die Geschichte Jugoslawiens ist „ungewöhnlich“, ja, und so kompliziert, dass der kombinierte Effekt von rasch hervorgezauberten „Erklärungen“ angesichts des Desasters der 1990er Jahre und von beschleunigten, nicht immer nachhaltigen Konfliktlösungs-, Demokratisierungs-, Multiethnisierungs- und Staatsbildungsbemühungen internationaler wie auch nationaler Akteure ein Narrativ des Scheitern-Müssens hervorgebracht hat. „Viele Politik- und Sozialwissenschaftler haben […] versucht, das Ende Jugoslawiens mit verschiedenen Theorien zu erklären. Gelungen ist ihnen das nicht. Keiner dieser Versuche war völlig überzeugend oder konsensfähig […].“ (S. 11) Die Sozialwissenschaften im Gewand der „Transformationsforschung“ sekundierten das historisch-empirisch nicht belegbare Narrativ des von Anbeginn an zum Scheitern verurteilten Staates, das blind war für das „Ungewöhnliche“, ja Verwegene und teilweise Richtungsweisende des jugoslawischen Staatsexperimentes. Sundhaussens gelegentliche Anspielungen und Vergleiche zwischen dem Bundesstaat Jugoslawien der 80er Jahre und der damaligen EG bzw. heutigen EU machen zwar evident, dass Jugoslawien deutlich mehr als die heutige EU gewesen ist, dass aber die Parallelen – Proporz, Verfassungsbürokratie, Partikularinteressen – frappierend sind.
Das historiographische Ex-post-Narrativ des Scheitern-Müssens beweist bereits an sich eindrücklich, dass Jugoslawien nicht nur am antidemokratischen Primat der kommunistischen Partei scheiterte („Nicht die vorhandenen Probleme waren das Problem, sondern die Nichtakzeptanz jeder Form von politischem Pluralismus.“ S. 27), sondern dass es auch dem streng nationalstaatlich ausgerichteten europäischen Zeitgeist entgegenlief, der nicht von ungefähr in den Nachfolgestaaten eine rigorose, geradezu verzweifelt-pathologische Ausprägung erfahren hat. Ein zu großer Anteil der jüngsten Historiographie in den Nachfolgestaaten (und nicht nur dort) geht in analoger Weise teleologisch, verengt und auch ideologisiert vor, wie es die titoistische Geschichtsschreibung zuvor tat – nur unter anderen, oft sogar unreflektierteren Vorzeichen. Das muss sich ändern, so der Grundtenor von Sundhaussens Buch, dem die Rezensentin nur zustimmen kann.
Wer weiß, wie sehr diese Spannung, die der von Sundhaussen untersuchten entspricht, 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, zwischen Polen und Deutschen ein Thema ist, kann sich auch ohne spezifische Kenntnisse bewusst machen, wie schwer sich die ehemals jugoslawischen Kriegsgegner 20 Jahre nach dem Vertrag von Dayton und 16 Jahre nach dem Abkommen von Kumanovo mit ihrer jeweiligen Verantwortung tun. Der Umgang mit der Vergangenheit, wie er im Tito-Jugoslawien betrieben wurde, tut das seine, um die Situation zu verkomplizieren: „Die Logik der Kommunisten von damals war die gleiche wie die Logik der Antikommunisten von heute: Wir haben einen gerechten Krieg, einen Befreiungs- und Verteidigungskrieg geführt. Diejenigen, die einen gerechten Krieg führen, können – gleichsam per definitionem – keine Verbrechen begehen. Alle, die an einem gerechten Krieg – in welcher Form immer – beteiligt waren, sind damit automatisch exkulpiert. So argumentieren nicht nur Partisanen, sondern auch ihre Gegner. Hätten sich die Ustasche an der Macht halten können oder hätten sich die Tschetniks im Bürgerkrieg durchgesetzt, wäre es nach Kriegsende zu ähnlichen Massakern mit ähnlicher Begründung gekommen wie bei den Kommunisten (nur mit anderen Vorzeichen).“ (S. 61).
Die ungewöhnliche Geschichte des jugoslawischen Staates möchte um viele Facetten ergänzt werden. Es „ist fast alles noch im Fluss, einschließlich der Frage, wie man die Geschichte dieser Staaten seit dem Untergang Jugoslawiens schreiben soll.“ (S. 9) Wer also auf der Suche nach einer spannenden Forschungsfrage ist, beginne mit diesem Buch bzw. mit seinen Ambivalenzen und offenen Flanken: „[…] nie zuvor hatte die Jugoslawien-Forschung einen so umfangreichen Zugriff auf einschlägige Dokumente wie heute. Die Erschließung dieses Materials bleibt eine Jahrhundertaufgabe.“ (S. 33)
Holm Sundhaussen hat signifikanten Anteil daran, dass dieser Aufgabe Tür und Tor offen stehen: Mit diesem Buch ist (fast) das gesamte historische Wissen über Jugoslawien seit dem Zweiten Weltkrieg sowie über seine Nachfolgestaaten bis 2011 in kongenialer Weise synthetisiert, inklusive der Benennung offener „Fragen“ (S. 24–28) sowie, nicht minder wichtig, richtungsweisender methodischer Überlegungen. Vor allem aber birgt die Weiterentwicklung dieses Forschungsfeldes das Potential, unsere Kenntnisse über weiterreichende, universelle Themenkomplexe menschlichen Zusammenlebens im 20. Jahrhundert (und darüber hinaus) zu erweitern – Staatlichkeit, Legitimität, Loyalität, Zerfall, Gewalt, Krieg, Menschenrechte. Gerade weil die Menschen in Jugoslawien ganz „gewöhnlich“ handelten.
Zitierweise: Sabine Rutar: Im Sinne eines Nachrufs: Die Geschichte Jugoslawiens von Holm Sundhaussen (* 17.4.1942 – † 21.2.2015) als Vermächtnis, Rezension über: Holm Sundhaussen: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2012. 567 S. ISBN: 978-3-205-78831-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Rutar_Sundhaussen_Jugoslawien_und_seine_Nachfolgestaaten.html (Datum des Seitenbesuchs)
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1Vgl. die Nachrufe von Ulf Brunnbauer, in: H-Soz-Kult (23.03.2015): <http://www.hsozkult.de/news/id/nachrichten-2649> (14.05.2015); Jürgen Kocka Zum Tode des Serbien-Historikers Holm Sundhaussen. Aufklärerische Kritik am Nationalismus, in: Der Tagesspiegel (25.02.2015), <http://www.tagesspiegel.de/wissen/zum-tode-des-serbien-historikers-holm-sundhaussen-aufklaererische-kritik-am-nationalismus/11422394.html> (18.05.2015); Đorđe Tomić / Marija Vulesica, in: Südosteuropäische Hefte 4 (2015), H. 1: <http://suedosteuropaeische-hefte.org/>, sowie Hannes Grandits, ebd., mit Verweisen auf weitere Nachrufe (14.05.2015).
2Jugoslavija: od početka do kraja. Muzej istorije Jugoslavije. Belgrad, 01.12.2012–03.03.2013: <http://mij.rs/poseta/izlozbe/66/jugoslavija-od-pocetka-do-kraja.html> (14.05.2015).
3Vgl. Alexander Kiossev Self-Colonizing Metaphor, in: Zbynek Baladrán / Vit Havránek (eds.): Atlas of Transformation. Prag, Zürich 2010: <http://monumenttotransformation.org/atlas-of-transformation/html/s/self-colonization/the-self-colonizing-metaphor-alexander-kiossev.html> (14.05.2015), zur diesbezüglichen Selbststilisierung in den Ländern des südöstlichen Europas; sowie Maria Todorova The Process of Remembering Communism, in: Maria Todorova (Hg.): Remembering Communism. Genres of Representation. New York 2010, S. 9–34, für eine allgemeine Bestandsaufnahme zum Stand der (vergleichenden) Geschichte zu den Staatssozialismen.
4Vgl. Reinhart Koselleck Deutschland – eine verspätete Nation, in: Reinhard Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt/M. 2000, S. 359–380; Thomas Welskopp Identität ex negativo. Der „deutsche Sonderweg“ als Metaerzählung in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft der siebziger und achtziger Jahre, in: Konrad H. Jarausch / Martin Sabrow (Hg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Göttingen 2002, S. 109–139.
5Eine der bekanntesten und detailliertesten Analysen, die auf diesem analytischen Fehlschluss beruht, ist Sabrina P. Ramet The Three Yugoslavias: State-Building and Legitimation, 1918–2005, Washington/DC 2005. Dadurch, dass sie den titoistischen Staat als a priori illegitim begreift, setzt sie sich nicht damit auseinander, ob die politisch maßgeblichen Akteure nach Legitimität strebten und/oder diese (zumindest zeitweise) erlangten. Gleichzeitig beharrt sie auf der Existenz einer Krise eben derselben Legitimität.
6John Breuilly Conclusion: National Peculiarities?, in: John Breuilly: Labour and Liberalism in Nineteenth Century Europe. Essays in Comparative History. Manchester 1992, S. 273–295, S. 278–279.
7Vgl. Svjetlan Lacko Vidulić / Boris Previšić (Hg.): Traumata der Transition. Erfahrung und Reflexion des jugoslawischen Zerfalls. Tübingen [u. a.] 2015. = Kultur – Herrschaft – Differenz, 19.
8Vgl. Slowenien wird zum neuen Sorgenkind der EU, in: Handelsblatt (28.6.2011) <http://www.handelsblatt.com/politik/international/eurokrise-slowenien-wird-zum-neuen-sorgenkind-der-eu/4331692.html> (14.05.2015).
9Robert Jolić Fabrications on Medjugorje: on Mart Bax’ Research, in: Studia ethnologica Croatica 25 (2013), S. 309–328.
10Vgl. die Kritik zweier früherer Rezensenten, die sich uneinig sind, ob Sundhaussen die Verantwortlichkeiten der Serben am Krieg zu wenig oder zu viel betont: Ludwig Steindorff in: H-Soz-Kult, 10.9.2013, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-20298> (14.05.2015); und Marie-Janine Calic Ohnmächtig ist der böse Mann allein!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, (01.12.2012).
11Holm Sundhaussen Geschichte Serbiens. 19.–21. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2007, S. 24.
12Holm Zundhausen Istorija Srbije. Od 19. do 21. veka. Beograd 2008. Zur heftigen Debatte, die die serbische Übersetzung des Buches hervorrief vgl. Nenad Stefanov Jargon der eigentlichen Geschichte: Vom Nichtverstehen und dem Fremden. Zur Diskussion um Holm Sundhaussens Geschichte Serbiens in der serbischen Öffentlichkeit, in: Südosteuropa 58 (2010), H. 2, S. 220–249.
13Latinka Perović Prošlost nije isto što i istorija, in: Politika (20.2.2009), unter <http://www.politika.rs/rubrike/Kultura/Proshlost-nije-isto-shto-i-istorija.sr.html> (14.05.2015).
14Holm Sundhaussen „Wenn ein Deutscher eine serbische Geschichte schreibt …“. Ein Beitrag zum (Miss)Verstehen des Anderen, in: Zeitgeschichte-online (März 2011), <http://www.zeitgeschichte-online.de/kommentar/wenn-ein-deutscher-eine-serbische-geschichte-schreibt> (14.05.2015).
15Robert Traba Warum Besatzung? Reflexionen über die deutsch-polnische Geschichte, in: Historie. Jahrbuch des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften 7 (2013/2014): Besatzung, S. 7–26, S. 21.
16Sundhaussen „Wenn ein Deutscher eine serbische Geschichte schreibt …“. Vgl. Holm Sundhaussen Metakriege, Kriegserfahrung und Kriegsbewältigung im ehemaligen Jugoslawien, in: Joachim von Puttkamer / Gabriella Schubert (Hg.): Kulturelle Orientierungen und gesellschaftliche Ordnungsstrukturen in Südosteuropa. Wiesbaden 2010, S. 161–200.
17Klaus-Dieter Frankenberger Wie wird die Welt 2015? In der Ära der Krisen und Konflikte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (01.01.2015): <http://www.faz.net/aktuell/politik/wie-wird-die-welt-2015-in-der-aera-der-krisen-und-konflikte-13348598.html> (14.05.2015).
18Vgl. Xavier Bougarel / Hannes Grandits / Nenad Stefanov (Hg.): Did the Wars in Yugoslavia Change the Perception of Societal Conflicts? Debates in France and Germany, in: Themenheft Südosteuropa 61 (2013), H. 4.
19Völkerrechtler widersprechen Putin. Warum die Krim nicht Kosovo ist, in: Neue Zürcher Zeitung (18.11.2014): <http://www.nzz.ch/international/warum-die-krim-nicht-kosovo-ist-1.18427309> (14.05.2015).
20Vgl. z. B. A Tunisian-Egyptian Link That Shook Arab History, in: New York Times (13.02.2011), <http://www.nytimes.com/2011/02/14/world/middleeast/14egypt-tunisia-protests.html?_r=2&hp> (14.05.2015); Stephen R. Grand Understanding Tahrir Square. What Transitions Elsewhere Can Teach Us About the Prospects for Arab Democracy. Washington 2014; und Christopher K. Lamont / Jan van der Harst / Frank Gaenssmantel (Hg.): Non-Western Encounters with Democratization. Imagining Democracy after the Arab Spring. Farnham, Burlington 2015.