Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 256-264

Verfasst von: Sabine Rutar

 

Im Sinne eines Nachrufs: Die Geschichte Jugoslawiens von Holm Sundhaussen (* 17.4.1942 – † 21.2.2015) als Vermächtnis

 

„Zurück blieb die kleine Schar der Jugoslawien-Forscher, die den geistigen

Scherbenhaufen wieder zusammenzusetzen versuchen.“

 

Holm Sundhaussen: Das „Schweigen der Lämmer“ und

andere Ver(w)irrungen in den 1990er Jahren, in:

Südosteuropa 60 (2012), H. 4, S. 555–567, S. 567.

 

Holm Sundhaussen: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2012. 567 S. ISBN: 978-3-205-78831-7.

Am 21. Februar 2015 verstarb Holm Sundhaussen, Doyen der deutschsprachigen Südosteuropa-Forschung, im Alter von 72 Jahren in Regensburg, völlig unerwartet und viel zu früh.1 Auf traurige und unvermittelte Weise wurde die Besprechung seines 2012 erschienenen Buches Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen zu einem Nachruf, das Buch selbst zu seinem vielleicht wichtigsten historiographischen Vermächtnis.
Sundhaussens Geschichte Jugoslawiens seit 1943 und der Nachfolgestaaten bis 2011 trägt einen Untertitel, der auf jedes Buch passen würde, das von Staatsgründung und Staatsbildung, von Krieg, Zerfall, wiederum Staatsgründung und ‑bildung sowie von radikalen gesellschaftlichen Transformationen handelt. Der Untertitel ist hier allerdings Programm: wider jene geschichts- und sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweisen, die in auffällig unreflektierter Weise entlang der in den 1990er Jahren rasch und unheilvoll wiederbelebten Pulverfass- und Balkanisierungsmetaphern, Zuschreibungen historisch nicht belegbarer kollektiver negativer Eigenschaften sowie a priori angenommener kultureller und zivilisatorischer Rückständigkeit argumentieren. Jugoslawien war sicherlich eine ungewöhnliche Geschichte, „eines der spannendsten und kontroversesten Staatsbildungsexperimente des 20. Jahrhunderts“ (jednog od najzanimljivijih i najkontroverz­nijih državotvornih eksperimenata u XX veku), wie es 2012/2013 im Ausstellungskatalog Jugoslawien: vom Anfang bis zum Ende des Museums für die Geschichte Jugoslawiens in Belgrad hieß.2 Aber es war mitnichten eine Geschichte, die nicht anderswo in ähnlicher Komplexität und Intensität auch geschehen wäre und geschieht. Insofern war sie „gewöhnlich“ und ist vergleichbar.

Auf 567 Seiten erschließt Sundhaussen den interessierten Leserinnen und Lesern die Geschichte Jugoslawiens seit seiner erneuten Gründung im Zuge der zweiten Sitzung des Antifaschistischen Rates der Volksbefreiung Jugoslawiens (AVNOJ) im bosnischen Jajce im November 1943. Das zweite, sozialistische Jugoslawien entstand aus dem Volksbefreiungskampf der kommunistisch geführten Partisanenbewegung gegen die nationalsozialistische und faschistische Besatzung. Seine Gründung schloss massive Gewalt, Willkür und Repression gegen als Feinde wahrgenommene Teile der jugoslawischen Gesellschaft ein. Ein halbes Jahrzehnt nach der Etablierung des Staates begann mit dem Ausschluss aus der Kominform durch Stalin 1948 die Geschichte Jugoslawiens zwischen den Blöcken des Kalten Krieges. Das wirtschaftliche Experiment der betrieblichen Selbstverwaltung avancierte im darauffolgenden Jahrzehnt zu einem sozialistischen Vorzeigeprojekt, das nicht zuletzt in der westeuropäischen Linken beträchtliches Interesse (und beträchtliche Hoffnungen) weckte. 1968 und die Ölkrise von 1973 markierten auch für Jugoslawien eine Zeit sozialer Proteste und die endgültige Offenbarwerdung wirtschaftlicher Probleme. Nicht zuletzt bestimmten nationale Konflikte fortan die politische Agenda. Titos Tod im Mai 1980 und Gorbatschows Perestrojka-Politik seit 1985 raubten Jugoslawien schließlich zuerst sein letztes inneres Kohäsionssymbol und dann auch seinen äußeren ideologischen Gegner im Osten. Kombiniert mit dem Scheitern der Wirtschaftspolitik und den innerjugoslawischen Verteilungskämpfen mündete dies nicht nur, wie im Rest Europas, in die ultimative Legitimationskrise des staatssozialistischen Modells, sondern generierte kriegerische Auseinandersetzungen und Massengewalt sowie sieben neue Staatsgründungen – Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Mazedonien, Kosovo – von denen mindestens die Hälfte bis heute alles andere als konsolidiert ist. Sundhaussen hegte diesen Staaten gegenüber eine große Skepsis. Sie seien aus „hastig anberaumten Volksbefragungen“ hervorgegangen (S. 15) und, von Slowenien abgesehen, kaum geeignet, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern (S. 531). In Bosnien-Herzegowina beispielsweise setzten Politiker den Krieg mit anderen Mitteln fort. Sundhaussen zitiert immer wieder Quellen, die den baldigen Zerfall prophezeien.

Die Geschichte Jugoslawiens ist „ungewöhnlich“, ja, und so kompliziert, dass der kombinierte Effekt von rasch hervorgezauberten „Erklärungen“ angesichts des Desasters der 1990er Jahre und von beschleunigten, nicht immer nachhaltigen Konfliktlösungs-, Demokratisierungs-, Multiethnisierungs- und Staatsbildungsbemühungen internationaler wie auch nationaler Akteure ein Narrativ des Scheitern-Müssens hervorgebracht hat. „Viele Politik- und Sozialwissenschaftler haben […] versucht, das Ende Jugoslawiens mit verschiedenen Theorien zu erklären. Gelungen ist ihnen das nicht. Keiner dieser Versuche war völlig überzeugend oder konsensfähig […].“ (S. 11) Die Sozialwissenschaften im Gewand der „Transformationsforschung“ sekundierten das historisch-empirisch nicht belegbare Narrativ des von Anbeginn an zum Scheitern verurteilten Staates, das blind war für das „Ungewöhnliche“, ja Verwegene und teilweise Richtungsweisende des jugoslawischen Staatsexperimentes. Sundhaussens gelegentliche Anspielungen und Vergleiche zwischen dem Bundesstaat Jugoslawien der 80er Jahre und der damaligen EG bzw. heutigen EU machen zwar evident, dass Jugoslawien deutlich mehr als die heutige EU gewesen ist, dass aber die Parallelen – Proporz, Verfassungsbürokratie, Partikularinteressen – frappierend sind.

Das historiographische Ex-post-Narrativ des Scheitern-Müssens beweist bereits an sich eindrücklich, dass Jugoslawien nicht nur am antidemokratischen Primat der kommunistischen Partei scheiterte („Nicht die vorhandenen Probleme waren das Problem, sondern die Nichtakzeptanz jeder Form von politischem Pluralismus.“ S. 27), sondern dass es auch dem streng nationalstaatlich ausgerichteten europäischen Zeitgeist entgegenlief, der nicht von ungefähr in den Nachfolgestaaten eine rigorose, geradezu verzweifelt-pathologische Ausprägung erfahren hat. Ein zu großer Anteil der jüngsten Historiographie in den Nachfolgestaaten (und nicht nur dort) geht in analoger Weise teleologisch, verengt und auch ideologisiert vor, wie es die titoistische Geschichtsschreibung zuvor tat – nur unter anderen, oft sogar unreflektierteren Vorzeichen. Das muss sich ändern, so der Grundtenor von Sundhaussens Buch, dem die Rezensentin nur zustimmen kann.

Die Historisierung der jüngsten Vergangenheit und der systemischen Veränderungen von 1989/90 hat erst begonnen. Unter keinen Umständen sollte die Zeitgeschichte des südöstlichen Europas seit 1945 als ein Schiffswrack-Narrativ betrieben werden, das – implizit oder explizit – annimmt, dass die Nationalisierungs-, Modernisierungs- und Staatsbildungsprojekte des 20. Jahrhunderts in der Region a priori zum Scheitern verurteilt waren.3 Die Annahme einer Art normativen Messlatte (der „Westen“), an der alles Andere zu messen sei, und die für das Gefühl der Rückständigkeit oder Verspätung verantwortlich ist, ist kein Alleinstellungsmerkmal der Geschichtsschreibung zum südöstlichen Europa, daran sei erinnert. Jahrzehntelang waren deutsche Selbstbilder von Vorstellungen einer verspäteten Nationswerdung, eines „Sonderwegs“, geprägt, bevor man begann, die eigenen Grundannahmen zu differenzieren.4
Die Geschichte Jugoslawiens gehörte seit dem Staatszerfall zu denjenigen Narrativen, in welchen ex post facto-Interpretationen besonders evident waren, konditioniert durch die dringlichste aller Fragen: Warum generierte der Zerfallsprozess so massive Gewalt? Die Vermutung, der multinationale Staat sei von Anfang an – von 1918 an – zum Scheitern verurteilt gewesen, erwies sich als verlockend. Allerdings bediente man sich auf diese Weise einmal mehr eines festgelegten analytischen Rasters. Wenn die Unfähigkeit, nachhaltige Legitimität zu erlangen, im Rückblick als ein zentrales Moment jugoslawischer Staatlichkeit seit 1918 erscheint, so zäumt der Schluss, Jugoslawien sei deshalb seit seinen Anfängen zum Scheitern verurteilt gewesen, das Pferd von hinten auf und ignoriert Generationen von Staatsmännern, die ganz gewiss nicht das Scheitern ihres Projektes im Sinn hatten.5
Zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Jugoslawienkriege Anfang der 1990er Jahre und sehr wahrscheinlich, ohne spezifisch an die möglichen historiographischen Folgen des staatssozialistischen Niedergangs oder gar der Kriege zu denken, erteilte der britische Historiker John Breuilly jeder Art teleologischer Geschichtsschreibung eine Absage: „Historians seek to understand change over time. They cannot wipe from their minds their knowledge of how more recent history relates to more distant history. Nor should they, even if they could, because it would involve tossing away the one advantage the historian enjoys over the historical actors – that is, knowing what comes next. What, of course, is objectionable is the assumption that what comes next had to come next or to analyse earlier situations in terms of the forces ‚promoting‘ or ‚hindering‘ the later events.6
Holm Sundhaussen hat vorgemacht, wie das geht. Seine umfassende Synthese des Forschungsstandes bis 2011 liefert nichts weniger als eine Grundlage für eine – entpathologisierte – Erneuerung der Geschichtsschreibung zu Jugoslawien und für die beginnende Historisierung der Jahre seit 1990.7 Im die Zerfallskriege betreffenden Teil hielt er sich rigoros und umfassend an den Kenntnisstand zum Zeitpunkt des Schreibens (2011), was nicht zuletzt den kontinuierlichen Informations- und Wissensgewinn der Jahre danach deutlich werden lässt, etwa angesichts der Arbeit von Instanzen wie dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY). Im Abschnitt über das Haager Kriegsverbrechertribunal (S. 419–433) sticht die Bedeutung der Courage einzelner Personen für die schlussendlich erfolgreiche Arbeit des Gerichts hervor. Mit Blick auf den Völkermord von Srebrenica bezieht Sundhaussen nicht Position bezüglich der Verantwortlichkeiten und versucht nicht, die im Narrativ (S. 356–358) vorhandenen Brüche zu erklären. Wer das Buch im Jahr 2015 liest, mag bedauerlich finden, dass es keine aufschlussreicheren Informationen zu den Hintergründen etwa der seit 2013 teilweise erfolgreichen Klagen von Hinterbliebenen der Opfer des Massakers gegen die Niederlande enthält.
Analog gibt es weitere Aspekte, die sich angesichts der jüngsten Entwicklungen bereits anachronistisch oder fehlgeleitet lesen, etwa das Bild von Slowenien als einem „erstaunlichen Erfolg“, der „eine eigene Untersuchung“ wert wäre (S. 404). Eine solche Untersuchung würde inzwischen wohl auch fragen, wie sich das Land so unglaublich rasch vom „Musterschüler“ zum krisengeschüttelten Korruptionsland hat wandeln können, für das nicht selten das Wort vom „zweiten Griechenland“ bemüht wird.8 Die Referenz auf den niederländischen Anthropologen Mart Bax (S. 339, Anm. 675), würde man heute wohl nicht mehr so stehen lassen, da Bax 2013 des wissenschaftlichen Betrugs überführt wurde.9 Bei anderen Themenbereichen bleibt wichtige Literatur vernachlässigt, etwa die Arbeiten von Pamela Ballinger im Abschnitt zur Triest-Frage (S. 116–118). Manchmal hätte man sich eine Graphik gewünscht, etwa bei der Beschreibung des Wandels der politischen Institutionen und ihrer Funktionen rund um die Verfassung von 1974 (S. 200–204), die in ihrer Dichte schwer verständlich ist. Bisweilen wirkt sich der dünne Forschungsstand dahingehend aus, dass die Akteure blass bleiben (müssen), so in der Darstellung des Selbstverwaltungssozialismus, die synthetisch ausfällt, ohne wirklich zu erklären, und sich hauptsächlich auf im Open Society Archive in Budapest befindliche, online zugängliche Dokumente beruft, z. B. in der Beschreibung der Krise der 1980er Jahre (S. 208–213).
Kurz: Wenn Sundhaussen keine Belege hatte, hielt er sich zurück, und diese Haltung zeichnete ihn aus. Gleichwohl ist seine Darstellung so komplex wie angesichts des Forschungsstandes möglich, was hier und da, und insbesondere im – sehr detailreichen – Teil über die Zeit seit 1990, einen Stückwerkeindruck hervorruft, hervorrufen musste (und vielleicht sollte).10 In seiner 2007 erschienenen Geschichte Serbiens hat Sundhaussen sein Selbstverständnis formuliert: „Ich sehe mich weder in der Rolle eines Verteidigers noch eines Anklägers, geschweige denn eines Richters. Um im Bild zu bleiben, verstehe ich mich eher als Gutachter oder Ermittler, als jemand, der Spuren sichert, Befunde zusammenträgt, prüft und abwägt und mit dem Mut zur Lücke leben muss.“11
Latinka Perović erkannte Anfang 2009 in einer der ersten Reaktionen auf die serbische Übersetzung von Sundhaussens Geschichte Serbiens12 in der Belgrader Tageszeitung Politika die Verbundenheit des Forschers mit seinen Themen: „[…] der Historiker beschäftigt sich nicht mit jenem, das ihn nicht beunruhigt bzw. nicht bewegt, das ihn nicht auf die eine oder andere Weise anzieht, und das er nicht verstehen oder erklären möchte.“13 In der Tat. Während Sundhaussen die Kapitel seines Buches weitgehend chronologisch angeordnet hat, finden sich im Teil über die Zerfallskriege der 1990er Jahre zwei Exkurse, Über die Vollstrecker von Massengewalt (S. 381396) und Über die mentale Seite der Kriege: ‚Orientalismus‘, ‚Balkanismus‘ und ‚Okzidentalismus‘ (S. 397401). Die psychosoziale Seite der Geschichte, die Frage nach dem Entstehen von kollektiver Gewalt, trieb ihn um, und die beiden Exkurse lesen sich wie zwei Seiten einer Medaille – eine ortsunabhängige und eine vor Ort verankerte. Die Kombination aus beidem bedeutete in Jugoslawien das Ingangsetzen der Gewaltspirale: „Es sind häufig diese zunächst kleinen Gruppen, die eine Gewalt inszenieren, die – einmal in die Welt gesetzt – bald ihre Eigendynamik entfaltet. Dabei handelt es sich nicht um spontane Reaktionen von marginalisierten Randgruppen, sondern um organisierte – von Führern organisierte – und um kalkulierte bzw. vorbereitete Gewalt, ähnlich dem Terrorismus.“ (S. 394)
Sundhaussen verweist im gesamten Buch immer wieder auf seiner Ansicht nach falsche Weichenstellungen und zeigte mögliche Alternativen auf die Verantwortung für die Entwicklungen in Richtung Gewalt und Krieg sieht er bei den Akteuren selbst. Das Spannungsfeld zwischen den verantwortlichen Akteuren und der Eigendynamik der Gewaltspirale lotet er mit vielen klugen Gedankengängen aus – aufgelöst wird die Spannung nicht. Am Ende führten alle nur einen Verteidigungskrieg und erlagen einem Exkulpierungsmechanismus: „Massengewalt wie im ehemaligen Jugoslawien, in Ruanda, im Libanon oder im nationalsozialistischen Deutschland bricht nicht einfach aus, sie ‚ereignet sich‘ nicht. Ebenso wenig wie sich das ‚Volk ereignet‘. Massengewalt fällt nicht vom Himmel. Sie wird vorbereitet (nicht nur organisatorisch, sondern auch und vor allem diskursiv), und sie wird inszeniert. Ist sie einmal in Gang gesetzt, gewinnt sie dank ihrer polarisierenden Wirkung eine enorme Eigendynamik und reißt viele Menschen mit, die zu Tätern, Opfern oder zu beidem werden. Dass sich alle nur ‚verteidigen‘, dass sie nur tun, was angesichts der Bedrohung getan werden muss, versteht sich von selbst. Entscheidend ist daher immer, wer die Gewaltspirale in Gang gesetzt und wer das kulturelle Umfeld dafür geschaffen hat. Auch dieses kulturelle Umfeld entsteht nie von allein und spontan, sondern wird gemacht. Herauszufinden, wer das macht, gehört zu den Aufgaben der Wissenschaftler.“14
Robert Traba hat jüngst mit Blick auf nationalsozialistische Verbrechen darauf hingewiesen, wie schwierig es ist, mit dem Begriff der „kollektiven Gewalt“ angemessen umzugehen. Er darf eben nicht exkulpierend eingesetzt werden, indem das Kollektiv immer „die Anderen“ sind („die Nazis“, „die Serben“ usw.), und er darf nicht eine ganze Nation kollektiv verurteilen: „Auch gewöhnliche Deutsche haben Verbrechen begangen, doch aufgrund eines Moralverlustes, wie er vom universellen Mechanismus des Kriegs bedingt wird. […] Es geht nicht darum, ein einfaches Bild kollektiver Schuld einer ganzen Nation weiterzugeben, sondern darum, eine Erinnerung zu bewahren, die nötig ist, um kein falsches Bild von der Geschichte entstehen zu lassen und sich nicht allzu leicht der Verantwortung zu entziehen.“15

Wer weiß, wie sehr diese Spannung, die der von Sundhaussen untersuchten entspricht, 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, zwischen Polen und Deutschen ein Thema ist, kann sich auch ohne spezifische Kenntnisse bewusst machen, wie schwer sich die ehemals jugoslawischen Kriegsgegner 20 Jahre nach dem Vertrag von Dayton und 16 Jahre nach dem Abkommen von Kumanovo mit ihrer jeweiligen Verantwortung tun. Der Umgang mit der Vergangenheit, wie er im Tito-Jugoslawien betrieben wurde, tut das seine, um die Situation zu verkomplizieren: „Die Logik der Kommunisten von damals war die gleiche wie die Logik der Antikommunisten von heute: Wir haben einen gerechten Krieg, einen Befreiungs- und Verteidigungskrieg geführt. Diejenigen, die einen gerechten Krieg führen, können – gleichsam per definitionem – keine Verbrechen begehen. Alle, die an einem gerechten Krieg – in welcher Form immer – beteiligt waren, sind damit automatisch exkulpiert. So argumentieren nicht nur Partisanen, sondern auch ihre Gegner. Hätten sich die Ustasche an der Macht halten können oder hätten sich die Tschetniks im Bürgerkrieg durchgesetzt, wäre es nach Kriegsende zu ähnlichen Massakern mit ähnlicher Begründung gekommen wie bei den Kommunisten (nur mit anderen Vorzeichen).“ (S. 61).

Es sei „möglich, dass eine Vergangenheit gar nicht vergangen ist“, schreibt Sund­haussen und meint den Zweiten Weltkrieg. „Denn irgendwann holt die verdrängte, ‚vergessene‘ Vergangenheit die Gegenwart in höchst gefährlicher Weise wieder ein. Mitunter erst nach langer Zeit und unerwartet. Das ehemalige Jugoslawien und sein Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg liefern dafür überaus beeindruckendes und bedrückendes Anschauungsmaterial.“16 Nicht zuletzt aus der Existenz derart verflochtener, psychosozial zu erklärender Erinnerungsversatzstücke ergibt sich die Verantwortung des Historikers und eines jeden, die oder der über Geschichte schreibt oder diese der jüngeren Generation vermittelt: Das Wissen über die Vergangenheit ist elementar für die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft, für die Entwicklung einer gesellschaftlichen Konfliktkultur, die Raum für die Aushandlung von Meinungsunterschieden und die Artikulation von Verletzlichkeiten bereithält. „Alle [Nachfolgestaaten] leiden noch unter den direkten oder indirekten Folgen der Kriege sowie ihren sozialen und psychischen Verwerfungen. Die Gründung der postjugoslawischen Staaten war ebenso mit Blut befleckt wie die Gründung des zweiten Jugoslawiens. Und auch die Gründungslogik war die gleiche. Die Rolle der internationalen Gemeinschaft vor, während und nach dem Staatszerfall und den Kriegen war beschämend. Keiner der neuen Staaten wird – auf sich gestellt – die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigen können. Und keiner wird je die Bedeutung erlangen, die Jugoslawien einst hatte. Ein großes Zerstörungswerk wurde erfolgreich vollendet. Der Aufbau des Neuen dauert noch an. Und in vieler Hinsicht wird das Neue wieder das Alte sein (nur mit veränderten Etiketten).“ (S. 517)
So endet Sundhaussens Buch. Obwohl das jugoslawische Kriegsjahrzehnt den Krieg zurück nach Europa brachte, obwohl es Völkermord, mehr als 100.000 Tote und Hunderttausende Vertriebene und Flüchtlinge bedeutete – wirkt es heute, angesichts von Eurokrise, Ukrainekrise, neuerlichem „Kaltem Krieg“, IS-Terror, Syrienkrieg, terroristischen Attacken, absichtlich zum Absturz gebrachten Passagierflugzeugen, dem massenhaften Tod von Flüchtlingen im Mittelmeer und massiv gewachsener globaler Verunsicherung und Furcht, wie eine lange vergangene europäische Episode.17 Europa hat heute viel größere Probleme als die, die es in den 1990er Jahren angesichts des Krieges „vor der Haustür“ nicht zu meistern gewusst hat.
Einen durch den Zweiten Weltkrieg in Gang gekommenen Prozess haben die Jugoslawienkriege allerdings beschleunigt und konsolidiert: „Die Gewichtung der Menschenrechte hatte sich in Konkurrenz zu anderen Völkerrechtsgütern (wie Souveränität und Integrität von Staaten, Nichtinterventionsgebot usw.) in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich zugunsten der Ersteren verschoben. […] die Entwicklung erwies sich als unumkehrbar. Die Rechte von Staaten traten hinter den Rechten von Menschen zurück. Und die Wahrnehmung der postjugoslawischen Kriege leistete zu diesem Umwertungsprozess einen wesentlichen Beitrag.“ (S. 341) Das negative Gegenstück hierzu ist eben jener inzwischen fast allgegenwärtige globale Terror, der sich ebenfalls individualisiert hat und damit immer unberechenbarer wird. So wie „ethnischer Hass […] nicht Ursache, sondern Begleiterscheinung und Folge der Kriege“ war (S. 342), so besetzen religiöser Fanatismus oder politische Präpotenz heute das Feld des Irrationalen. Immer liegen die tatsächlichen Ursachen für die Gewalt woanders. Über solche Aspekte „langer Dauer“ der jugoslawischen Kriege lohnte es sich weiterzuforschen:18 Nicht von ungefähr rechtfertigte Putin die Annexion der Krim mit dem Verweis auf Kosovo;19 nicht von ungefähr tauchen die Schatten der jugoslawischen Ereignisse immer wieder in Analysen des „Arabischen Frühlings“ auf, und nicht von ungefähr beriefen sich dessen Akteure auf die serbische Otpor-Bewegung.20

Die ungewöhnliche Geschichte des jugoslawischen Staates möchte um viele Facetten ergänzt werden. Es „ist fast alles noch im Fluss, einschließlich der Frage, wie man die Geschichte dieser Staaten seit dem Untergang Jugoslawiens schreiben soll.“ (S. 9) Wer also auf der Suche nach einer spannenden Forschungsfrage ist, beginne mit diesem Buch bzw. mit seinen Ambivalenzen und offenen Flanken: „[…] nie zuvor hatte die Jugoslawien-Forschung einen so umfangreichen Zugriff auf einschlägige Dokumente wie heute. Die Erschließung dieses Materials bleibt eine Jahrhundertaufgabe.“ (S. 33)

Holm Sundhaussen hat signifikanten Anteil daran, dass dieser Aufgabe Tür und Tor offen stehen: Mit diesem Buch ist (fast) das gesamte historische Wissen über Jugoslawien seit dem Zweiten Weltkrieg sowie über seine Nachfolgestaaten bis 2011 in kongenialer Weise synthetisiert, inklusive der Benennung offener „Fragen“ (S. 24–28) sowie, nicht minder wichtig, richtungsweisender methodischer Überlegungen. Vor allem aber birgt die Weiterentwicklung dieses Forschungsfeldes das Potential, unsere Kenntnisse über weiterreichende, universelle Themenkomplexe menschlichen Zusammenlebens im 20. Jahrhundert (und darüber hinaus) zu erweitern – Staatlichkeit, Legitimität, Loyalität, Zerfall, Gewalt, Krieg, Menschenrechte. Gerade weil die Menschen in Jugoslawien ganz „gewöhnlich“ handelten.

Sabine Rutar, Regensburg

Zitierweise: Sabine Rutar: Im Sinne eines Nachrufs: Die Geschichte Jugoslawiens von Holm Sundhaussen (* 17.4.1942 – † 21.2.2015) als Vermächtnis, Rezension über: Holm Sundhaussen: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2012. 567 S. ISBN: 978-3-205-78831-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Rutar_Sundhaussen_Jugoslawien_und_seine_Nachfolgestaaten.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2015 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg and Sabine Rutar. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.

1Vgl. die Nachrufe von Ulf Brunnbauer, in: H-Soz-Kult (23.03.2015): <http://www.hsozkult.de/news/id/nachrichten-2649> (14.05.2015); Jürgen Kocka Zum Tode des Serbien-Historikers Holm Sundhaussen. Aufklärerische Kritik am Nationalismus, in: Der Tagesspiegel (25.02.2015), <http://www.tagesspiegel.de/wissen/zum-tode-des-serbien-historikers-holm-sundhaussen-aufklaererische-kritik-am-nationalismus/11422394.html> (18.05.2015); Đorđe Tomić / Marija Vulesica, in: Südosteuropäische Hefte 4 (2015), H. 1: <http://suedosteuropaeische-hefte.org/>, sowie Hannes Grandits, ebd., mit Verweisen auf weitere Nachrufe (14.05.2015).

2Jugoslavija: od početka do kraja. Muzej istorije Jugoslavije. Belgrad, 01.12.2012–03.03.2013: <http://mij.rs/poseta/izlozbe/66/jugoslavija-od-pocetka-do-kraja.html> (14.05.2015).

3Vgl. Alexander Kiossev Self-Colonizing Metaphor, in: Zbynek Baladrán / Vit Havránek (eds.): Atlas of Transformation. Prag, Zürich 2010: <http://monumenttotransformation.org/atlas-of-transformation/html/s/self-colonization/the-self-colonizing-metaphor-alexander-kiossev.html> (14.05.2015), zur diesbezüglichen Selbststilisierung in den Ländern des südöstlichen Europas; sowie Maria Todorova The Process of Remembering Communism, in: Maria Todorova (Hg.): Remembering Communism. Genres of Representation. New York 2010, S. 934, für eine allgemeine Bestandsaufnahme zum Stand der (vergleichenden) Geschichte zu den Staatssozialismen.

4Vgl. Reinhart Koselleck Deutschland – eine verspätete Nation, in: Reinhard Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt/M. 2000, S. 359380; Thomas Welskopp Identität ex negativo. Der „deutsche Sonderweg“ als Metaerzählung in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft der siebziger und achtziger Jahre, in: Konrad H. Jarausch / Martin Sabrow (Hg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Göttingen 2002, S. 109139.

5Eine der bekanntesten und detailliertesten Analysen, die auf diesem analytischen Fehlschluss beruht, ist Sabrina P. Ramet The Three Yugoslavias: State-Building and Legitimation, 19182005, Washington/DC 2005. Dadurch, dass sie den titoistischen Staat als a priori illegitim begreift, setzt sie sich nicht damit auseinander, ob die politisch maßgeblichen Akteure nach Legitimität strebten und/oder diese (zumindest zeitweise) erlangten. Gleichzeitig beharrt sie auf der Existenz einer Krise eben derselben Legitimität.

6John Breuilly Conclusion: National Peculiarities?, in: John Breuilly: Labour and Liberalism in Nineteenth Century Europe. Essays in Comparative History. Manchester 1992, S. 273295, S. 278279.

7Vgl. Svjetlan Lacko Vidulić / Boris Previšić (Hg.): Traumata der Transition. Erfahrung und Reflexion des jugoslawischen Zerfalls. Tübingen [u. a.] 2015. = Kultur Herrschaft Differenz, 19.

8Vgl. Slowenien wird zum neuen Sorgenkind der EU, in: Handelsblatt (28.6.2011) <http://www.handelsblatt.com/politik/international/eurokrise-slowenien-wird-zum-neuen-sorgenkind-der-eu/4331692.html> (14.05.2015).

9Robert Jolić Fabrications on Medjugorje: on Mart Bax’ Research, in: Studia ethnologica Croatica 25 (2013), S. 309328.

10Vgl. die Kritik zweier früherer Rezensenten, die sich uneinig sind, ob Sundhaussen die Verantwortlichkeiten der Serben am Krieg zu wenig oder zu viel betont: Ludwig Steindorff in: H-Soz-Kult, 10.9.2013, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-20298> (14.05.2015); und Marie-Janine Calic Ohnmächtig ist der böse Mann allein!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, (01.12.2012).

11Holm Sundhaussen Geschichte Serbiens. 19.21. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2007, S. 24.

12Holm Zundhausen Istorija Srbije. Od 19. do 21. veka. Beograd 2008. Zur heftigen Debatte, die die serbische Übersetzung des Buches hervorrief vgl. Nenad Stefanov Jargon der eigentlichen Geschichte: Vom Nichtverstehen und dem Fremden. Zur Diskussion um Holm Sundhaussens Geschichte Serbiens in der serbischen Öffentlichkeit, in: Südosteuropa 58 (2010), H. 2, S. 220249.

13Latinka Perović Prošlost nije isto što i istorija, in: Politika (20.2.2009), unter <http://www.politika.rs/rubrike/Kultura/Proshlost-nije-isto-shto-i-istorija.sr.html> (14.05.2015).

14Holm Sundhaussen „Wenn ein Deutscher eine serbische Geschichte schreibt …“. Ein Beitrag zum (Miss)Verstehen des Anderen, in: Zeitgeschichte-online (März 2011), <http://www.zeitgeschichte-online.de/kommentar/wenn-ein-deutscher-eine-serbische-geschichte-schreibt> (14.05.2015).

15Robert Traba Warum Besatzung? Reflexionen über die deutsch-polnische Geschichte, in: Historie. Jahrbuch des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften 7 (2013/2014): Besatzung, S. 726, S. 21.

16Sundhaussen „Wenn ein Deutscher eine serbische Geschichte schreibt …“. Vgl. Holm Sundhaussen Metakriege, Kriegserfahrung und Kriegsbewältigung im ehemaligen Jugoslawien, in: Joachim von Puttkamer / Gabriella Schubert (Hg.): Kulturelle Orientierungen und gesellschaftliche Ordnungsstrukturen in Südosteuropa. Wiesbaden 2010, S. 161200.

17Klaus-Dieter Frankenberger Wie wird die Welt 2015? In der Ära der Krisen und Konflikte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (01.01.2015): <http://www.faz.net/aktuell/politik/wie-wird-die-welt-2015-in-der-aera-der-krisen-und-konflikte-13348598.html> (14.05.2015).

18Vgl. Xavier Bougarel / Hannes Grandits / Nenad Stefanov (Hg.): Did the Wars in Yugoslavia Change the Perception of Societal Conflicts? Debates in France and Germany, in: Themenheft Südosteuropa 61 (2013), H. 4.

19Völkerrechtler widersprechen Putin. Warum die Krim nicht Kosovo ist, in: Neue Zürcher Zeitung (18.11.2014): <http://www.nzz.ch/international/warum-die-krim-nicht-kosovo-ist-1.18427309> (14.05.2015).

20Vgl. z. B. A Tunisian-Egyptian Link That Shook Arab History, in: New York Times (13.02.2011), <http://www.nytimes.com/2011/02/14/world/middleeast/14egypt-tunisia-protests.html?_r=2&hp> (14.05.2015); Stephen R. Grand Understanding Tahrir Square. What Transitions Elsewhere Can Teach Us About the Prospects for Arab Democracy. Washington 2014; und Christ­opher K. Lamont / Jan van der Harst / Frank Gaenssmantel (Hg.): Non-Western Encounters with Democratization. Imagining Democracy after the Arab Spring. Farnham, Burlington 2015.