Valerie Kivelson Cartographies of Tsardom. The Land and Its Meanings in Seventeenth-Century Russia. Cornell University Press Ithaca, London 2006. 263 S. ISBN: 978-0-8014-4409-8.

Um die Bedeutung des Landes kreisen ganze historiographische Traditionen. So widerspiegelt die konfliktgeschichtlich angelegte englische Bauernforschung die frühe Entstehung einer großen Schicht von Landlosen in England. Die deutschsprachige Forschung stellte das ‚Land‘ in seiner doppelten Bedeutung, einerseits als Grund und Boden, andererseits als Territorium, in den Mittelpunkt mediävistischer ‚Verfassungsgeschichte‘. Das ‚Land‘ beschäftigt Mediävisten und Frühneuzeithistoriker auch heute. Seine doppelte Semantik, dargestellt in Landkarten des 17. Jahrhunderts, ist Thema der vorliegenden Untersuchung zum Zarenreich. Die Interpretation dieser Karten mündet in eine ebenso originelle wie profunde Analyse der Beziehung zwischen Reichsbildung und ‚empire building‘.

Mit der Auswahl ihrer Karten nimmt Valerie Kivelson die Herrschaftsbildung im Kerngebiet Moskowiens wie auch die Entstehung des vormodernen russländischen Imperiums in den Blick. In beiden Fällen spielte die Kartographie eine bedeutende Rolle. Doch übernahmen die untersuchten Karten eine ganz andere Funktion, als ein auf einseitige Herrschaftsausübung „von unten nach oben“ fixiertes Geschichtsbild vermuten ließe.

Das 17. Jahrhundert war in Russland nicht nur das erste Jahrhundert der Landkarte, sondern auch das der Erbuntertänigkeit. Jedoch betrieben die Autoren der Karten, Personen im Dienst der Moskauer Zentralämter, lokale Verwalter, Schreiber, Soldaten, Städter oder ehemalige militärische Dienstleute (S. 22), keineswegs einseitig das Geschäft der Gutsherren. Ihre Werke waren Ordnungsutopien, aber keine Waffen zur Unterwerfung der Bauern. Eindrucksvoll stellt Kivelson der Darstellung des Landbesitzes Erbuntertäniger auf den Karten aus dem Moskauer Reich einerseits zeitgenössische kartographische Darstellungen englischer Landschaften gegenüber, welche die Besitzverhältnisse der Gutsbesitzer und ihrer Bauern abbilden, und andererseits Darstellungen von Plantagenland und Gütern aus der Neuen Welt, auf denen Sklaven eingesetzt wurden (S. 92–96). Die detaillierte und plastische Darstellung von Bauernhäusern und bäuerlichem Land auf den Karten aus dem Moskauer Reich ähnelt dem englischen Beispiel und unterscheidet sich fundamental von den Karten aus der Neuen Welt, welche die Existenz der das Land bearbeitenden Sklaven praktisch verleugnen. Die Karten aus dem Zarenreich zeigen, in welchem Maße selbst die erbuntertänigen Bauern ihre Sicht der Dinge zu fixieren und zu behaupten verstanden, wie sie die von der Obrigkeit verordnete unauflösliche Bindung an einen Ort in ein Recht auf diesen Ort und das dort befindliche Land zu verwandeln vermochten.

Stehen in den ersten Kapiteln des Buches lokale Karten aus dem europäischen Teil Russlands im Mittelpunkt, so gelten die weiteren Kapitel kartographischen Darstellungen des sibirischen Raums, dessen Annexion neben der Etablierung der bäuerlichen Erbuntertänigkeit im europäischen Russland die zweite große Weichenstellung des 17. Jahrhunderts ausmachte. Bei dieser epochemachenden Expansion des Reiches, wiedergegeben in Karten, sieht Kivelson die gleichen Mechanismen der Inklusion am Werk, auf welche die kleinräumigen Karten aus dem europäischen Russland schließen lassen. Bei aller Brutalität, mit der die Eroberer Sibiriens vorgingen – eine regelrechte Versklavung von Indigenen beschrieb kürzlich Andrej Zuev („Konkvistadory imperii“: russkie zemleprochodcy na Severo-Vostoke Sibiri, in: Ab imperio 2001, Heft 4, S. 81–108) –, erinnerte der Status der dortigen Indigenen mehr an den der Bauern im europäischen Russland als an den der Indigenen in den von anderen europäischen Mächten kolonialisierten Gebieten der Neuen Welt. Das gleiche Prinzip, das im europäischen Russland dem Zeugnis der Karten zufolge Menschen und Orte verband und damit das Recht der Menschen auf diese Orte besiegelte, wirkte auch in Sibirien. Statt die Autochthonen an den Rand des imaginierten Raums zu drängen oder sie ganz daraus auszuschließen, wie es die Karten aus anderen von Europäern kolonialisierten Gegenden der Welt tun, verorten die russischen kartographischen Darstellungen die Ethnien Sibiriens sehr deutlich in ganz bestimmten Teilen des Landes, das – z.B. durch die Beibehaltung indigener Bezeichnungen für Orte und Flüsse – eindeutig als ihr Land ausgewiesen wird (S. 177, 183). Die Kartographen übertreiben sogar bei der Darstellung der „geographischen Stabilität und politischen Identität“ der Nomadenvölker (S. 185). Die Karten widerspiegeln Formen der Aneignung des Fremden und Prinzipien imperialer Herrschaft, die das Moskauer Reich deutlich von anderen europäischen Kolonialreichen unterschieden. Weder praktizierten die Moskowiter die Zwangschristianisierung beziehungsweise übten, allgemeiner ausgedrückt, Assimilationsdruck aus wie die Spanier in Mittel- und Südamerika, noch behaupteten sie, wie die Engländer in Nordamerika, die „Eingeborenen“ seien unfähig, Land in seinem Wert zu erkennen und zu nutzen (S. 214).

Blieben die Völker Sibiriens auch Animisten beziehungsweise Muslime, so wurde doch die Christianisierung des Landes Sibirien in Texten, in der Architektur der dort errichteten Städte mit ihren Kirchen und eben in den Karten, die diese Raumgestaltung darstellten, symbolisch vollzogen. Insofern wurde Sibirien in die „orthodoxe Landschaft“, welche die Karten aus dem europäischen Russland konstruierten, integriert (S. 159). – Aus einer von der Geschichte mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Unfrömmigkeit geprägten Perspektive und angesichts des Mehrzweckcharakters, den sakrale Bauten in der Frühen Neuzeit hatten, wäre die These von der dadurch betriebenen Sakralisierung der Landschaft allerdings abzuschwächen: Womöglich war für Kosaken, Bojarensöhne und Bauern aus dem europäischen Russland die Bedeutung der Kirchen als Zentren gerade nicht ausschließlich religiöser Kommunikation und als Orte von Korporationsbildung mindestens ebenso wichtig wie ihre sakrale Botschaft.

Kivelsons Analyse der Bildung eines Imperiums durch selektive Aneignung des Fremden, durch kulturelle Aneignung der Landschaft ohne den eklatanten Landraub, den andere europäische Kolonialmächte begingen, ist insgesamt nuanciert und überzeugend. So zeigt sie auch die Grenzen der Integrierbarkeit sibirischer Landschaften in den Kosmos des europäischen Moskauer Reiches auf: Waren die „leeren Stellen“ in der Landschaft Russlands diesseits des Urals, welche die Kartographen darstellten, Wüstungen (pustoši), Landstücke also, die nur temporär der Bewohnung und Bearbeitung durch die Menschen entzogen waren, so waren die Moskowiter und ihre Kartenzeichner in Sibirien mit der „Wüste“ konfrontiert – eine Erfahrung, die Furcht und Schrecken auslöste (S. 148).

Einige Fragen lässt das Buch offen. Die frühen Schritte des „empire building“ entziehen sich dem Zugriff über die Karten, der eben erst für das 17. Jahrhundert möglich ist (S. 3). Anhand von Karten ist also nicht nachzuweisen, ob die ideelle Verknüpfung von Menschen und Land, die Kivelson im Hinblick auf Sibirien beschreibt, auch bereits bei den ersten Schritten imperialer Expansion an der Mittleren Wolga virulent war. Damit bleibt fraglich, ob die tendenzielle rechtliche Gleichstellung von Christen und Nichtchristen im 17. Jahrhundert (Nancy Shields Kollmann Russian law in a Eurasian setting: The Arzamas region, late seventeenth – early eighteenth century, in: G. Szvak (Hrsg.): The Place of Russia in Europe. Budapest 2001, S. 200–206) wirklich primär auf dieses Denkmuster zurückzuführen ist. Ungeklärt bleibt auch, wie die These von der engen Verbindung zwischen Menschen und Land als Prinzip der politischen Ordnung schlechthin (einschließlich ihrer kolonialen Seite) mit einer Erkenntnis in Kivelsons früherem, bahnbrechenden Buch zur Geschichte des Provinzadels im späten Moskauer Reich vereinbar ist: Demzufolge entwickelte der Adel zwar einerseits durchaus eine Art Lokalpatriotismus und enge solidarische Bindungen zu Rang- und Standesgenossen in der eigenen Gegend. Die Adligen im Moskauer Reich fühlten sich aber andererseits gerade nicht an ganz bestimmte Landteile in dauerhaftem Familienbesitz gebunden und unterschieden sich insofern vom Burgen bauenden und auf familiären Landbesitz bezogene Titel sammelnden mittel- und westeuropäischen Adel (Valerie A. Kivelson Autocracy in the provinces. Muscovite gentry and political culture in the seventeenth century. Stanford 1997, S. 97, 115, 126).

Die Verknüpfung des Imperienvergleichs mit dem Vergleich feudaler Ordnungen in den europäischen „Mutterländern“ ist ebenso reizvoll wie schwierig. Kivelson zufolge visualisieren die Karten, wie die Akzeptanz „überlappender“ Landbesitzverhältnisse im Moskauer Reich auf Sibirien übertragen wurde. Dies ermöglichte auch Toleranz gegenüber dem Landbesitz der Indigenen (S. 192). Doch waren Mittel- und Westeuropa ja ebenso von überlappendem Landbesitz geprägt, der in den Lehnbeziehungen sogar institutionalisiert war. Zwar ließ deren Virulenz in der Frühen Neuzeit gegenüber dem Mittelalter nach. Aber Kivelson betont ja die Vergleichbarkeit des Moskauer Reiches im 17. Jahrhundert mit mittel- und westeuropäischen Verhältnissen des Spätmittelalters.

Dieses anregende und ansprechende Buch ist ein bedeutender Beitrag nicht nur zum Verständnis des Moskauer Reiches, sondern auch zu aktuellen Fragen der Imperiumsforschung. Nicht zuletzt verweist es auf die Wurzeln der – verglichen mit den Herrschaftsphantasien westeuropäischer Kolonialmächte – weniger drastischen Imagination des Imperiums im Russland des 18. Jahrhunderts. Forscherinnen und Forschern, aber auch Unterrichtenden, die Interesse am frühneuzeitlichen Russland wecken möchten, sei es dringend empfohlen.

Angela Rustemeyer, Wien

Zitierweise: Angela Rustemeyer über: Valerie Kivelson Cartographies of Tsardom. The Land and Its Meanings in Seventeenth-Century Russia. Cornell University Press Ithaca, London 2006. ISBN: 978-0-8014-4409-8., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 56 (2008) H. 4, S. 595-597: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Rustemeyer_Kivelson_Cartographies_of_Tsardom.html (Datum des Seitenbesuchs)