Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 308-309

Verfasst von: Monica Rüthers

 

Olga Shevchenko: Crisis and the Everyday in Postsocialist Moscow. Bloomington (u.a.): Indiana University Press, 2009. XI, 249 S., 9 Abb. ISBN 978-0-253-22028-8.

Das Russland der 90er Jahre war gebeutelt von ökonomischen und politischen Umwälzungen, von Rechtsunsicherheit und der Schwäche des zuvor allmächtigen Staates. Wie gingen die Menschen damit um, dass ihnen monatelang die Löhne oder die Renten nicht ausbezahlt wurden? Olga Shevchenko legt eine dichte Beschreibung der Erfahrungen „ganz normaler“ Moskauerinnen und Moskauer vor. Sie geht davon aus, dass die Dislokationen, welche die postsozialistischen Verhältnisse mit sich brachten, einen spezifischen Diskurs der „permanenten Krise“ erzeugten. Die Chronologie der Krisen umfasste unter anderem die Verfassungskrise 1993, die Vertrauenskrise 1994, die Identitätskrise 1996, die Rubelkrise 1998. Dass auch die Gesellschaftsanalyse davon nicht unberührt blieb, zeigen die Diskurse über die Krise der russischen Intelligencija oder die Krise der Männlichkeit.

Shevchenko geht der Frage nach, wie sich die Menschen in der „Krise“ einrichteten und welche Rolle das Reden über die Krise spielte. Für ihre Untersuchung befragte sie zwischen 1998 und 2000 in mehreren Folgen insgesamt 33 Moskauerinnen und Moskauer. Eine große Stärke der Studie sind die sorgfältigen Analysen der ausführlich zitierten Erzählungen. Sie werden auf ihre narrativen Muster hin untersucht und in Beziehung zu den tatsächlichen Lebensverhältnissen und Handlungsweisen gesetzt. Die Wahrnehmung des Niedergangs des Sozialismus in der Perestroika etwa äußerte sich in Metaphern des Zerfalls, in Erzählungen von rinnenden Dächern und bröckelnden Fassaden. Beklagt wurden die postsowjetische Entsolidarisierung, der Zerfall der Kollektive, die Profitgier und das Ende des Egalitarismus. Die soziale Mobilität in beide Richtungen sprengte alte Freundes- und Bekanntenkreise. Doch detaillierte Nachfragen ergaben, dass die Gesprächspartner selbst trotz der unentwegt geschilderten allgemeinen Krise immer relativ gut abschnitten. Glück, Zufall und Schicksal waren die Erklärungsmuster für persönliche Erfolge als „Ausnahme“ vor dem Hintergrund der Krise.

Die Krise erwies sich als ein ebenso anpassungsfähiger wie dehnbarer Interpretationsrahmen und definierte zugleich den Handlungsrahmen neu. Die Rhetorik der Krise wurde zum Teil ihrer Bewältigung und unterstrich die persönlichen Kompetenzen. Der breite Konsens über ein Leben in der Dauerkrise brachte Stabilität und stiftete Gemeinschaft. In Opposition zu diesen Gemeinschaften stand die politische Klasse. Bürger und Staat wurden als streng getrennte Entitäten konstruiert, wobei auch Polizisten, Lehrer und Verkäuferinnen als Opfer des Systems galten, nicht als dessen Vertreter.

Alle Energien konzentrierten sich darauf, sich und die Seinen vor den negativen Folgen der Instabilität zu schützen. Eine wiederkehrende Metapher war die Jagd auf die richtigen Güter in der neuen Konsumwelt angesichts der rasenden Inflation. Viele kauften einen neuen Kühlschrank, behielten aber den alten – für den „Notfall“. Die Autorin verweist auf den Symbolgehalt der Praxis, das Altbewährte zu behalten und Investitionen in die Zukunft zu tätigen, als doppelte Absicherung. Sicherheit und Autonomie sollten auch Stahltüren, Wellblechgaragen und „europäische“ Fenster vermitteln. Ein weiterer Bereich von Autonomie-Praktiken war das Gesundheitswesen. Alternative Anbieter wie Ultraschall-Stationen in den Metro-Unterführungen, Naturheilmittel oder Schamanen florierten. Auch die Flucht in Alltagsroutinen gab ein Gefühl von Sicherheit und Stabilität. So erklärt die Autorin den Kreuzworträtsel-Boom, der auf den Leserbriefseiten der einschlägigen Zeitschriften und als Familienhobby „Bildungsautonomie“ und das Bewahren eines bestimmten Kanons suggerierte.

Fast unmerklich spitzt die Verfasserin gegen Ende der Studie ihre Beobachtungen zu einer einleuchtenden These zu: Die Politisierung breiter Teile der Bevölkerung, die den Beginn der Jelzin-Ära prägte, wurde Ende der 90er Jahre von den Befragten rückblickend als naiv eingeschätzt: Man distanzierte sich davon im Bewusstsein, durch individuelles Handeln nichts ändern zu können. Vielmehr herrschte die Überzeugung, dass die politischen Eliten im Eigeninteresse handelten und sich bereicherten. Politik, so der Konsens, war ein unproduktives und schmutziges Geschäft, das im Gegensatz zur eigenen ehrlichen und produktiven Arbeit stand. Die Opposition der „Familien“ der Mächtigen und jener der Bürger bedeutete aber auch, dass sich deren Handlungslogiken – jeder für sich und die Seinen – nicht voneinander unterschieden. Das zementierte letztlich ein neoliberales Denken. Wesentlich war die fehlende Option ziviler Teilhabe. Die Bürger strebten nicht nach Partizipation, sondern nach größtmöglicher Autonomie vom Staat und seinen Institutionen.

Shevchenkos Ethnographie der Krise eignet sich nicht zur schnellen Lektüre, dazu sind die Kapitel zu ausführlich und auch zu wenig frei von Redundanzen. Ihre methodisch reflektierten Schlussfolgerungen sind umso fundierter. Insgesamt gelingt es ihr auf eindrückliche Weise, Einblick in alltägliche Praktiken und ihre symbolischen Zuschreibungen zu gewinnen. Wer sich aus historischem, soziologischem, kulturwissenschaftlichem oder politologischem Interesse mit der postsowjetischen Gesellschaft insbesondere der urbanen Zentren befasst, wird dieses Buch mit Gewinn lesen. Die hervorragende Studie steht in einer Reihe mit den Arbeiten von Caroline Humphrey zum Konsum, Alena Ledeneva zu informellen Netzwerken und Sergej Oushakine zu Liminalität (Alena Ledeneva: How Russia Really Works: The Informal Practices that Shaped Post-Soviet Politics and Business. Ithaca: Cornell University Press, 2006; Alena Ledeneva: Russia’s Economy of Favours: Blat, Networking and Informal Exchange. Cambridge: Cambride UP, 1998; Caroline Humphrey: Creating a Culture of Disillusionment. Consumption in Moscow: A Chronicle of Changing Times, in: Worlds Apart. Modernity through the Prism of the Local. Hg. von Daniel Miller. London, S. 4368. Caroline Humphrey: The Unmaking of Soviet Life: Everyday Economies After Socialism. Ithaca, N.Y.: Cornell UP, 2002; Serguei Oushakine: Coping With Liminality: Professionalism, Consumption, and Masculinity in Russia, in: Ivanovo 1.2, Studien/Studies 2, Oktober/October 2005, S. 4563, www.shrinkingcities.com/fileadmin/shrink/downloads/pdfs/I.2_Studies2.pdf; gesehen 28.02.2012). Sie alle zeichnen ein differenziertes Bild von der postsowjetischen urbanen Gesellschaft und unterstreichen die starken Traditionslinien, sowohl was Informalität, Sendungsbewusstsein als auch Selbstversorgermentalitäten und Staatsverständnis anbetrifft. Shevchenko selbst weist auf den Erklärungsgehalt ihrer Erkenntnisse für den Erfolg Putins hin: Es gelang ihm, sich jenseits der politischen Klasse als produktiver und handlungsorientierter Führer zu präsentieren. Hier wäre anzufügen, dass seine Position als Held und Retter keinen Raum für Partizipation lässt.

Monica Rüthers, Hamburg

Zitierweise: Monica Rüthers über: Olga Shevchenko: Crisis and the Everyday in Postsocialist Moscow. Bloomington: Indiana University Press, 2009. XI. ISBN 978-0-253-22028-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Ruethers_Shevchenko_Crisis_and_the_Everyday.html (Datum des Seitenbesuchs)

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