Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), H. 3, S. 521-524

Verfasst von: Hartmut Rüß

 

Aleksej P. Toločko: Očerki načal’noj Rusi. Kiev, Sankt-Peterburg: Laurus, 2015. 334 S. ISBN: 978-966-2449-68-6.

Dieses Buch des ukrainischen Historikers und Archäologen Aleksej P. Toločko kommt als eine Art Parforceritt durch das dichte Gestrüpp wissenschaftlicher Hypothesen daher und räumt mit einer ganzen Reihe von historiographisch etablierten Vorstellungen über die Geschichte der frühen Rus auf. Dazu zählt – übrigens als zentrale Voraussetzung der gesamten Untersuchung – die radikale Eliminierung der Povest’ vremennych let („Erzählung von den vergangenen Jahren“) als Quelle für den behandelten Zeitraum. Die PVL, deren Abfassung A. Toločko dem Abt des Vydubickij-Klosters Silvestr zuschreibt, sei „ein herausragendes literarisches Werk, aber eine völlig unglaubwürdige Erzählung“. Es gebe „keinerlei Veranlassung, unsere Kenntnisse über die Vergangenheit weiterhin darauf zu gründen“. Ihr Bericht über die Wanderungen des von slavischen und finnischen Stämmen „berufenen“ skandinavischen Rus-Volkes vom Norden ins mittlere Dnepr-Gebiet gehöre in die mittelalterliche Kategorie der origo gentis-Legenden und sei nicht viel mehr als ein „kulturelles Artefakt“, wie auch all jene Rekonstruktionsbemühungen seit Aleksej A. Šachmatov (Razyskanija o drevnějšich russkich lětopisnych svodach. S.-Peterburg 1908) und seiner zahlreichen Adepten, die beweisen sollten, dass die Chronik auf einer weit in die Vergangenheit zurückreichenden schriftlichen Tradition vorangehender Kodizes beruhe, als gescheitert anzusehen seien. Zudem hätten jüngere Untersuchungen ergeben, dass die sich an den Byzanz-Verträgen des 10. Jahrhunderts orientierende Chronologie künstlich und z.T. völlig unglaubwürdig ist (z.B. starben die Fürsten Oleg, Igor und Svjatoslav jeweils ein Jahr nach Abschluss der Verträge von 911, 944 und 971, während die Feldzüge gegen Byzanz jeweils vier Jahre vor ihrem Abschluss erfolgten!). Aus all dem ergibt sich für A. Toločko die prinzipielle Frage, wie eine Darstellung der Anfangsgeschichte der Rus ohne die PVL aussehen könnte. Sein Buch sieht er als den Versuch an, „auf diese Frage zu antworten“.

Die Untersuchung ist in drei Großkapitel (1. Über Herkunft und Taten der rusy; 2. Die Anfangsgeschichte der Rus: Quellen und Hypothesen; 3. Die Kiever Rus: Von der Handelskompanie zur politischen Organisation) mit jeweils zahlreichen Unterabschnitten gegliedert. Im Epilog (S. 305–315) wird der Versuch gemacht, die bei den Detailerörterungen erzielten Ergebnisse in einer das „historische Panorama“ der frühen Rus skizzierenden Synthese zusammenzubringen. Die bisherigen Anläufe dieser Art seien häufig „schlichtweg nur die Übersetzung der Chronik in die Sprache der Wissenschaft“ gewesen. Das vom Autor entworfene „historische Panorama“ sieht tatsächlich völlig anders aus als das vom Abt Silvestr in der PVL beschriebene, der die frühesten Aktivitäten der rusy auf osteuropäischem Boden an der berühmten Flusswegachse zwischen Novgorod und Kiev, dem „Weg von den Warägern zu den Griechen“, ansiedelte (der nach Toločko in Wirklichkeit den Seeweg von Skandinavien nach Byzanz zur Zeit des Chronisten bezeichnete). Der diesem zeitlich vorausgehende und quellenmäßig gut belegte Aktionsraum jener rusy, die dort als kompakte Gruppen von „wandernden“ Händlern oder Teilnehmern von Raub- oder Beuteraids in Erscheinung treten, war hingegen die Handelsmagistrale entlang des Wolgaweges zu den Wolgabulgaren und Chazaren mit Zugang zu den arabischen und mittelasiatischen Märkten (seit der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts). Allerdings ist hier die ökonomische Präsenz der skandinavischen Krieger-Händler nicht in politische Dominanz umgewandelt worden, wie das später im mittleren Dnepr-Raum der Fall war. Die zahlreichen Funde orientalischer Silbermünzen (Dirhems) in Osteuropa und Skandinavien sowie die Hinweise in arabischen Quellen (Ibn Rusta, al-Gardizi, Ibn Fadlan) über die warägischen Austauschgüter (v. a. Felle und Sklaven) sind unzweifelhafte Belege für Charakter und Bedeutung des Fernhandels entlang dieser Route, dessen Höhepunkt um die Mitte des 10. Jahrhunderts mit den mittelasiatischen Samaniden (Samarkand, Buchara) verbunden ist. Nach Ansicht Toločkos waren jene Wolga-rusy bereits relativ fest in Osteuropa beheimatet und befanden sich hier „in einem Prozess kultureller und ethnischer Adaption“, weshalb sie es auch nicht für nötig hielten, den Informanten des abbasidischen Gesandten in Bolgar (Ibn Fadlan) ihre hybride Identität genauer zu erklären. Dass sie, wie vielfach in der Literatur zu lesen, Kiev bzw. den Kiever Fürsten als deren Handelsemissäre oder Tribut eintreibende Gefolgsleute unterstanden und somit nicht als autonome Gruppe gehandelt hätten, wird vom Verfasser mit guten Gründen zurückgewiesen. Denn erst seit der „Silberkrise“ in den letzten beiden Jahrzehnten des 9. Jahrhunderts, als der Zufluss nahöstlicher Dirhems nach Skandinavien und Osteuropa praktisch völlig zum Erliegen kam, scheinen sich die Skandinavier eine neue Route entlang des Dnepr-Weges erschlossen zu haben. Erst um die Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert finden sich archäologische Spuren der Waräger im mittleren Dnepr-Gebiet, wo sich nun bis dahin bescheidene Siedlungen in Fernhandelszentren verwandelten. Die Kontakte mit Byzanz waren nach Meinung des Verfassers ein wichtiger Impuls für die Transformation ehemals vagabundierender Krieger-Händlergemeinschaften in eine Herrschaftselite, die den Ideen von Macht und Staatlichkeit zunehmende Bedeutung beimaß. Das heißt aber auch, dass sich die Entwicklung zum Kiever Staat nicht auf dem Wege der Evolution von traditionellen Institutionen vollzogen hat, sondern das Ergebnis der Umwandlung von ökonomischer und organisatorischer Dominanz einer handelsorientierten Kriegerkaste in politische Herrschaft gewesen ist. Oleg und sein skandinavisches Gefolge hätten aus dem Vertrag von 911 mit Kaiser Leo VI. jedenfalls entnehmen können, dass sie als „große“ und „erlauchte“ Fürsten und Bojaren über ein Territorium und über Untertanen herrschten, was die Wolga-rusy niemals über sich gehört hatten.

Einige weitere Aspekte des Buches, die mit Sicherheit erneute Diskussionen auslösen werden, seien kurz angesprochen: Bei den im „vorhistorischen“ Teil der PVL aufgezählten Stämmen habe es sich nicht um die alten Stämme der Migrationsepoche gehandelt, sondern um reale ethnographische Gruppen, die als politische Subjekte kaum in Erscheinung getreten waren und zur Zeit der Entstehung der Chronik am Beginn des 12. Jahrhunderts weitgehend ihre Eigenständigkeit verloren hatten. Im Übrigen sei es ein müßiges Unterfangen, sich auf nähere Erörterungen über den inneren Aufbau dieser Stammesgruppierungen einzulassen „angesichts des völligen Fehlens von Nachrichten“ darüber und einer sich folglich „im rein Abstrakten“ bewegenden Diskussion. In gewissem Widerspruch hierzu steht m. E. allerdings der für die Argumentation des Verfassers wichtige Sachverhalt der Existenz einer slavischen Oberschicht bzw. Stammeselite, die in z. T. durchaus enger Kooperation mit den Tribute eintreibenden und Waren für den Fernhandel beschaffenden rusy verbunden gewesen sei.

Dass dabei neben Fellen und Wachs Sklaven(innen) das weitaus einträglichste und deshalb wichtigste „Ausfuhrgut“ auf der Dnepr-Route waren, ist mit solcher apodiktischen Entschiedenheit meines Wissens bislang nicht behauptet worden. Sie seien aller Wahrscheinlichkeit nach im Laufe des winterlichen poljud’e mit tatkräftiger Hilfe der einheimischen Eliten, die dafür Waffen, Prestigeobjekte und Protektion erhielten, ‚rekrutiert‘ worden. Somit korreliere der in großem Maßstab betriebene Sklavenhandel „mit der Entstehung [] erster Zentren militärischer und politischer Organisation, die letztlich zur Schaffung des Kiever Staates führten“, eine Auffassung, die weder im Einklang steht mit den nationalen Geschichtsbildern der heutigen ostslavischen Völker noch mit sowjetmarxistischen Deutungsmustern, in denen die sich entwickelnde Staatlichkeit auf Fortschritte im Agrarbereich und darauf aufbauende feudale Strukturen zurückgeführt wurde.

Dass das weitgehende Fehlen byzantinischer Münzen in Osteuropa als Folge der Bezahlung oder des Tausches mit bzw. gegen Seide zu deuten ist, hat erstmals Petr P. Toločko 1976 in die Diskussion gebracht.Hier nun stellt sein Sohn diese These in einem eigenen Kapitel (Šelkovyj put) auf eine breitere Grundlage. Byzanz war das einzige christliche Land der Welt, das Seide produzierte. Seide visualisierte Reichtum, Macht und Prestige. Die byzantinischen Kaiser überreichten Seidengewänder als diplomatische Geschenke. Oleg, Igor und Olga brachten solche pavoloki aus Konstantinopel mit nach Kiev. Für die Argumentation des Verfassers hinsichtlich der überragenden Bedeutung des Sklavenhandels auf der Dnepr-Route ist indes ausschlaggebend, dass keine anderen Waren von ihrem Wert her auch nur annähernd mit Sklaven äquivalent gewesen seien außer Seide und Seidenprodukten.

Wie ein roter Faden durchzieht das Buch die Frage nach Ursprung und Bedeutung des Rus-Namens. Eine eindeutige Antwort darauf weiß auch A. Toločko nicht. Unzweifelhaft für ihn ist, dass sich in der Mehrzahl der Quellen hinter den Rusy, den Ros und dem Rus-Volk in der Frühphase zuvorderst skandinavische Waräger verbergen. Diese Sicht ist bekanntlich zentraler Bestandteil der sog. normannistischen Position, von deren ideologischen Implikationen – die „germanische Natur“ des frühen Kiever Staates! sich der Verfasser allerdings distanziert. Es mache keinen Sinn, – mit August Ludwig Schlözer – „aus der Etymologie Geschichte zu erschaffen“. „Skandinavier“ und „Slaven“ seien Identitäten, die retrospektiv von Wissenschaftlern konstruiert worden seien. Das frühe Mittelalter habe wahrscheinlich solche scharf voneinander abgegrenzten Identitäten gar nicht gekannt. Die rusy waren Leute, die in Osteuropa Fernhandel trieben – das sei „alles, was man über ihren Namen wissen“ müsse. Daneben steht zu lesen, Rus’ sei die „Selbstbezeichnung der Skandinavier [] in slavisierter Form“, hinter der sich in der Folge eine hybride Ethnizität verbarg. Und an anderer Stelle findet sich die nicht weiter kommentierte Aussage, dass rus’ sich „seit undenklichen Zeiten die Bewohner des Südens“ nannten. Will der Autor damit andeuten oder dem Leser suggerieren, dass die Skandinavier den Namen vom mittleren Dnepr-Raum übernommen haben könnten, zumal die Ausbreitung der politischen Herrschaft von Süden nach Norden erfolgt sei, also in genau umgekehrter Richtung zur Darstellung in der PVL? Dem würde allerdings widersprechen, dass bereits die auf dem Wolgaweg operierenden skandinavischen Händler-Krieger von zeitgenössischen arabischen Quellen als rusy bezeichnet wurden bzw. sich so nannten und dort, laut Verfasser, völlig unabhängig und – dies sei hinzugefügt – weit entfernt vom angeblichen Ursprungsgebiet dieses Namens in Erscheinung traten. Nun werden ja Ros-Leute (sveoni) bereits 839 in Ingelheim im Rahmen einer byzantinischen Gesandtschaft und 860 bei einem Angriff auf Konstantinopel erwähnt. Dennoch bliebe rätselhaft, warum sie ihren Namen von einem Gebiet dieses Namens übernommen haben sollen, das zu diesem frühen Zeitpunkt nach Darstellung des Verfassers noch gar nicht im Fokus der skandinavischen Waräger gelegen haben soll.

Das Buch von A. Toločko weist eine erstaunliche Ideen- und Aspektvielfalt auf, welche die wissenschaftliche Diskussion mit Sicherheit befördern wird. So schärft etwa der ungewöhnliche Vergleich zwischen den neuzeitlichen quasistaatlichen Handelskompanien und den mehr oder weniger militanten autonomen Rusy-Gemeinschaften des frühen Mittelalters den Blick für deren innere Organisation, soziale Strukturiertheit und „kreolische“ Existenz im lokalen ostslavischen Milieu. Die von der PVL berichtete Oberherrschaft der Chazaren über einige ostslavische Stämme sieht der Verfasser entgegen der vorherrschenden Meinung als reinen Mythos an. Der Vergleich zwischen den westlichen wikingischen und den östlichen warägischen Hinterlassenschaften in den Bereichen der materiellen Kultur und Onomastik konturiert neben bekannten Gemeinsamkeiten die unterschiedlichen Prioritäten und Verhaltensweisen in ihren jeweils anderen Lebenswelten. Offenbar angeregt durch den bekannten Sowjethistoriker und erklärten Antinormannisten Boris A. Rybakov („Die Legende über die freiwillige Berufung der Warägerfürsten [] wurde sehr bald unter den Bedingungen des scharfen Klassenkampfes vom Kiever Chronisten [] dazu benutzt, die Autorität der fürstlichen Macht zu stärken, indem er sie als vom Volk erwählt darstellte.“ Vgl. Očerki istorii SSSR. T. 2: Krizis rabo­vladelčekoj systemy i zaroždenie feodalizma na territorii SSSR III–IX vv. Moskva 1958, S. 736), erblickt A. Toločko in dem „ordnungsstiftenden“ Herrschaftsantritt Vladimir Monomachs im Jahre 1113 eine Art Blaupause für die warägische Berufungssage in der PVL.

Insgesamt hat der Verfasser eine originelle wissenschaftliche Abhandlung geschrieben. Er setzt neue Akzente und stellt etablierte Forschungspositionen in Frage. Dies geschieht in der Regel auf der Grundlage guter Quellenkenntnis und innovativer Ideen. Von daher ist sein leicht kokettierendes Eingangsstatement, keine „wissenschaftliche Monographie“ vorgelegt zu haben, unangebracht. Das Hauptverdienst der Arbeit A. Toločkos liegt m. E. darin, aus der Vielzahl bisheriger Einzelerkenntnisse und Hypothesen, die bei ihm oft neuartig beleuchtet oder anders gewichtet werden, ein historisches Szenario von der frühen Rus entworfen zu haben, das in seiner „chronologischen und logischen Folgerichtigkeit“ durchaus überzeugt. Inwieweit das Buch die national-patriotischen Gemüter in den drei ostslavischen Staaten aus unterschiedlichen Gründen auf den Plan rufen wird, bleibt abzuwarten. Potential für politisch-ideologische Instrumentalisierung ist jedenfalls vorhanden. Das schmälert aber nicht die wissenschaftliche Qualität des Werkes, das aus Lehrveranstaltungen des Autors an der Kiev-Mogiljansker Akademie zwischen 2002 und 2010 hervorgegangen ist.

Hartmut Rüß, Münster

Zitierweise: Hartmut Rüß über: Aleksej P. Toločko: Očerki načal’noj Rusi. Kiev, Sankt-Peterburg: Laurus, 2015. 334 S. ISBN: 978-966-2449-68-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Ruess_Tolocko_Ocerki_nacalnoj_Rusi.html (Datum des Seitenbesuchs)

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