Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 135-138

Verfasst von: Hartmut Rüß

 

Walter K. Hanak: The Nature and the Image of Princely Power in Kievan Rus’, 9801054. A Study of Sources. Leiden, Boston, MA: Brill, 2013. 224 S. = East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 4501450, 25. ISBN: 978-90-04-25982-9.

Der Interpretationsansatz des Buches ist ein zweifacher. Es geht nicht nur darum, was der Autor an historischer Erkenntnis zum Untersuchungsgegenstand aus den Quellen eruiert, sondern wie die – in der Regel – geistlichen Annalisten und Schreiber die altrussische Geschichte und Gegenwart interpretierten und aus welchen Quellen sie geschöpft haben, um ihre ideologisch gefärbte Sichtweise auf „Natur“ und „Image“ der fürstlichen Macht unter Vladimir Svjatoslavič (gest. 1015) und Jaroslav Vladimirovič (gest. 1054) zur Geltung zu bringen. In fünf Kapiteln geht Walter Hanak der Frage nach, welche biblischen, byzantinischen, warägischen, chazarischen und slavischen Traditionen, politischen Ideen, Begriffe und Ereignisse nachweisbar Einfluss auf die Konzeption des Kiever Herrscherbildes der Zeit zwischen 980 und 1054 hatten bzw. welche ideologischen Versatzstücke von den Chronisten und Literaten übernommen wurden, die ihrer Vorstellung vom christlichen Herrscheramt entsprachen. Wir haben es also vielfach mit manipulativen „Image“-Konstruktionen zu tun, die nur bedingt oder gar nicht objektive Wirklichkeit widerspiegeln. Dennoch finden sich beim Verfasser eine ganze Reihe von z. T. relativ eindeutigen Aussagen über die Welt des sog. historisch Realen, die mit dem, was die geistlichen Schreiber als wünschenswert bzw. als Ideal formulierten, weitgehend oder zumindest partiell in Einklang stehen. So neigt Hanak offenbar der Auffassung zu, dass die von ihnen vorgenommene Parallelisierung der Herrschaften Vladimirs und Jaroslavs mit jenen der biblischen Könige David und Salomo auch dem herrscherlichen Selbstverständnis der beiden Kiever Fürsten und ihrer Vorstellung vom Wesen fürstlicher Macht realiter entsprochen haben könnte. Die altrussischen Chronisten hätten durchaus „sorgfältig“ etwa jene Ereignisse im Leben Salomos ausgewählt, die die Ähnlichkeit zwischen seiner und Vladimirs Person und Herrschaft illustrierten, aber auch markante Unterschiede aufgezeigt, wie in dem Beispiel: „Er (Salomo) war weise, aber am Ende war er ruiniert. Er (Vladimir) war ein ignoramus, aber am Ende fand er Erlösung.“ Wenn 1015 die Nestorchronik in der Nachfolgefrage entgegen bisheriger rjurikidischer Praxis nicht den Ältesten, sondern den Fähigsten zu bevorzugen scheint, so fanden nach Hanaks Deutung die Chronisten die Rechtfertigung dafür im AT, wo bei den Hebräern keine Erbregelung nach Ältestenrecht nachweisbar ist. Der Verfasser führt eine ganze Reihe weiterer Beispiele an (Errichtung repräsentativer Bauten, blühender Handelsverkehr, der Vergleich des „verfluchten“ Svjatopolk mit dem biblischen Kain usw.), die zeigen, wie die Chronisten das Geschehen mit der biblischen Brille betrachteten und damit sozusagen eine „unabhängige Kiever historiographische Tradition“ (S. 145) begründet hätten. Allerdings lässt sich eine gewisse Neigung zur Überstrapazierung der biblisch-altrussischen Parallelisierung nicht übersehen: Folgten Jaroslav und Mstislav bei der Reichsteilung 1019 etwa dem Vorbild Salomos, wie der Autor mit Hinweis auf die Teilung von dessen Königreich in die Gebiete Israel und Juda andeutet? Haben die Chronisten die Streitigkeiten über exzessive Besteuerung unter Vladimir deshalb erwähnt, weil solche Auseinandersetzungen auch unter Salomo üblich waren? War das Fehlen einer ausführlichen Schilderung der Königreiche Juda und Israel wirklich das Modell für die knappe Beschreibung der Reichsteile Jaroslavs und Mstislavs zwischen 1019 und 1036? Um es vorwegzunehmen: Dieser erste und umfangreichste, die biblischen Bezüge zur altrussischen Historie aufzeigende Abschnitt der Untersuchung (S. 1–69) gehört, trotz einiger Vorbehalte im Detail, zum Interessantesten und Innovativsten des ganzen Buches.

Die Vorstellung, dass die frühen Rus-Annalisten eine Autokratie nach dem Vorbild von Byzanz favorisiert hätten, wird nach Meinung des Verfassers von den Quellen nicht gestützt: Die fürstliche Autorität Vladimirs beruhte auch nach Übernahme des Christentums auf dem Fortwirken überkommenen Gewohnheitsrechts und traditioneller Herrschaftspraktiken, die durch Beratung – mit der Gefolgschaft, mit den „Ältesten“ – und Konsens charakterisiert gewesen seien. Vladimirs Lobpreisung als „neuer Konstantin“ hält Hanak für ein isoliertes Statement im religiösen Kontext, das keine neue historiographische Tradition begründet und auch nicht den Vorstellungen von Byzanz entsprochen habe, das den Kiever Herrschern im internationalen Kontext nur einen inferioren Rang zubilligte. Wenn sowohl Vladimir als auch Jaroslav vom Kiever Metropoliten Ilarion mit „Khagan“ tituliert werden, so ist dies nach Hanak nicht Ausdruck eines maßgeblichen chazarischen Einflusses auf die Definition des Wesens der Kiever Fürstenmacht, sondern es habe vor allem dazu gedient, die Unabhängigkeit ihres Reiches gegenüber byzantinischen Oberherrschaftsansprüchen zu unterstreichen. Neben dieser plausiblen Erklärung begibt sich der Verfasser zugleich in hochspekulative Gedankenspiele über das möglicherweise vorübergehend in der Rus von den Chazaren übernommene doppelherrschaftliche Khagan-Beg-Verhältnis, das er mit der Kompetenzaufteilung zwischen Vladimir und Olaf Trygvasson bzw. Jaroslav und Mstislav parallelisiert (S. 142 f.), wenngleich er an anderer Stelle (S. 122) für die duale Herrschaft ebenfalls das nordische Vorbild in Betracht zieht. In diese Kategorie des Spekulativen gehört auch die freilich nicht ganz abwegige Vermutung, dass die Vertrautheit der altrussischen Schreiber mit den Texten des AT u. a. auf die Anwesenheit chazarischer, dem Judaismus anhängender Kaufleute und Handelsherren in Kiev zurückzuführen sein könnte.

Mit A. Vasiliev (1932) sieht Hanak das Fürstentum Vladimirs auch nach dessen Konversion als „politisch absolut unabhängig von Byzanz“ an. Wie er mit dieser These der älteren Literatur folgt, so auch mit der Auffassung, dass erst die Weigerung von Basileios II. (976–1025), seine Schwester zur Heirat freizugeben, Vladimirs Angriff auf Korsun (Cherson) provoziert und zur Herausgabe der „purpurgeborenen“ Anna geführt habe. Hier vermisst man den Hinweis auf die wichtigen anders lautenden Forschungsergebnisse Andrzej Poppes zu diesem ganzen Komplex, trotz seiner Nennung im Literaturverzeichnis. Bei der Übernahme des Zehntsystems durch Vladimir sieht der Verfasser das westliche Vorbild als Gegengewicht zu byzantinischen kirchlichen Prätentionen wirksam. Dass etwa Ja. N. Ščapov den ‚fiskalischen‘ Zehnt als slavische Erscheinung bezeichnete, wird trotz Nennung seiner Arbeiten in der Literaturliste nicht erwähnt. Das Fazit, die Regierungszeiten Vladimirs und Jaroslavs hätten die – wenn auch „ungleichmäßige“ - „Einimpfung“ (inculculation) von byzantinischer religiöser und politischer Gedankenwelt in der Kiever Rus mit sich gebracht, kommt angesichts des vorangehenden Katalogs von vermeintlichen Abgrenzungsaktivitäten ihrer Fürsten gegenüber byzantinischen Vorherrschaftsansprüchen, die – mit Priselkov – sogar 1043 zum Angriff Jaroslavs auf die Kaiserstadt geführt hätten, etwas überraschend. Dass sie nun als Mitglied der christlichen Völkergemeinschaft unter Führung von Byzanz einerseits eine starke Pres­tige­aufwertung erfuhren, andererseits sich im politischen „Orbit“ von Konstantinopel bei Wahrung ihrer Identität und Unabhängigkeit behutsam („with caution“) bewegt hätten (S. 105), entspricht denn auch wohl am ehesten dem historischen Sachverhalt.

Das skandinavische Modell von Herrschaft war nach Hanak wirksamer, als dies die geistlichen Literaten der Kiever Rus wahrhaben wollten. Besonders Jaroslavs „nordisches Image“, das sie mit dem Hinweis auf seine Liebe zu den griechischen Büchern abzuschwächen versucht hätten, offenbare das Fortwirken warägischer Herrschaftskultur im fürstlichen Milieu. Das Recht, den Anführer zu verlassen, der seinen Verpflichtungen gegenüber der Gefolgschaft nicht oder nur unzureichend nachkam, wie 980 unter Vladimir geschehen, habe als essentieller Bestandteil der nordischen politischen Gedankenwelt gegolten. Jaroslavs Erbfolgeregelung des Seniorats sieht der Verfasser als das deutlichste Beispiel für den skandinavischen Einfluss auf das fürstliche Milieu in der Rus. Während Manfred Hellmann seinerzeit feststellte, dass unter allen Fürstenbildern dem Jaroslavs ein „besonderer Glanz“ zukomme, da er den drei Grundforderungen an den christlichen Herrscher („Frieden bewahren, Recht sprechen und Ordnung erhalten“) „in besonderem Maße“ entsprochen habe, konstatiert Hanak im Gegensatz dazu das Fehlen einer ausführlichen Würdigung von dessen „vortrefflichen Taten“ in den alt­russischen Denkmälern. Er führt das auf die von ihm angesprochenen „nordischen Affinitäten“ Jaroslavs zurück (S. 132). Dazu passt allerdings schlecht sein an anderer Stelle begegnender Hinweis darauf, dass die Nestorchronik Jaroslav nach 1036 als „Autokrator“ (samovlastec) charakterisiert. Eine solche titulare Zuschreibung von Macht durch die Chronik sei für Vladimir nicht erfolgt (S. 60). In völligem Widerspruch hierzu steht seine Aussage, dass sich Vladimir auf den Münzen als „Autokrator“ bezeichnet haben könnte, während für Jaroslav ein solcher Anspruch nicht auszumachen sei (S. 101). Hanaks generelle Bewertung des skandinavischen Einflusses bleibt letztlich ambivalent: Der Übergang von den vorchristlichen Herrschaftsidealen zu denen der christlichen Ära war weder abrupt noch total, was die lange Beibehaltung fundamentaler nordischer Konzepte und Praktiken von Herrschaft zeige. Andererseits beinhalteten etwa Vladimirs administrative Maßnahmen eine deutliche Distanzierung vom skandinavischen exekutiven Dezentralismus, denn die Kiever Fürsten hätten im Unterschied zu den skandinavischen Souveränen „a remarkably high sense of political order“ (S. 126) entwickelt.

Die slavischen Institutionen der Stammesfürsten (knjazi) und Heerführer (voevody) sieht der Verfasser als unter Vladimir und Jaroslav im Niedergang befindliche Elemente von Tribalismus und Partikularismus, als „Mächte des Chaos“ an. Diese Einschätzung hängt vermutlich damit zusammen, dass er eine übertriebene Vorstellung von Ausmaß und Erfolg der „zentralisierenden Tendenzen“ unter den frühen Rjurikiden und vom ‚Einheits‘-Charakter des Kiever Reiches in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts hat. Noch im 12. Jahrhundert wird ein Stammesführer Chodota erwähnt, der gegen Vladimir Monomach kämpfte. Gewisse typische Erscheinungen in der Spätphase der Kiever Rus (politische und ökonomische Ungleichgewichtigkeit; die zum politischen Niedergang führende rasche Aufsplitterung) lassen gerade nicht auf eine stark ausgebildete Zentralgewalt schließen. Hochgradig hypothetisch und modernisierend ist auch die Charakterisierung der Voevoden als spezifische slavische „militäraristokratische“ Eliteschicht, die einen Mangel an „nationaler Identität“ an den Tag gelegt habe, partikularen Stammesinteressen folgte und deshalb von der Nestorchronik als „Instrument von Unordnung“ betrachtet worden sei. Hanaks unausgesprochene Anknüpfung an die legendenhafte Berufungssage („unser Land ist groß und fruchtbar, aber es ist keine Ordnung in ihm“) ist hier ebenso unverkennbar, wie seine eindeutige ethnische Zuordnung des Voevodenamtes fraglich ist. Der unter dem Jahr 945 erwähnte Voevode Sveneld war sicherlich kein Slave, sondern ein Waräger.

Die Volksversammlung (veče), deren historische Existenz im untersuchten Zeitraum für den Verfasser keinem Zweifel unterliegt, obwohl alle frühen Belege vor dem ersten sicher bezeugten veče von 1068 durchaus strittig sind, wird als nicht fest etablierte lokale Institution interpretiert, die im Vergleich zur frühslavischen Zeit jetzt allerdings auf eine rein beratende Rolle ohne Beteiligung am legislativen Prozess beschränkt gewesen sei. Die „Berufung“ der Waräger sieht Hanak übrigens als von einem veče initiiert (S. 155), für dessen zweifellose Existenz in der Rus die Chronik z. B. unter dem Jahr 980 das biblische Vorbild der Beratung zwischen dem Herrscher und „den Ältesten und Einwohnern des Landes“ anführe. Die Erwähnung von einheimischen „Ältesten“ in der Nestorchronik sieht der Verfasser denn auch als unzweifelhaften Beleg für die Existenz von Volksversammlungen in der Ära Vladimirs und – weniger – Jaroslavs an; sie seien ähnlich wie die knjazi und voevody „Instrumente der nationalen Spaltung“ (S.163) gewesen, was eine zwar unkonventionelle, aber zweifelhafte historische Bewertung dieser altslavischen Verfassungsinstitution ist.

Dass Walter Hanaks in Teilen durchaus anregende Untersuchung eine durch neuere Literatur ergänzte Wiederauflage seiner Dissertation von 1973 ist, geht dem Leser erst aus einem kurzen Anmerkungshinweis (Anm. 125, S. 48) im laufenden Text auf. Kaum zu glauben, dass dies angesichts der sehr speziellen Thematik der Verkaufsstrategie des Verlages geschuldet sein könnte. Ein flüchtiger Vergleich mit der Erstpublikation lässt keine wesentlichen substantiellen Veränderungen an der Textversion von 1973 erkennen. Bereits damals wurde der ziemlich exakt mit der Thematik des Verfassers übereinstimmende Aufsatz von Manfred Hellmann über Das Herrscherbild in der sog. Nestorchronik (1965) nicht herangezogen, wohl aber dessen Arbeit über Vladimir d. Hl. in der abendländischen Überlieferung (freilich mit dem falschen Veröffentlichungsjahr 1934 statt 1959!). Wenn ein so fundamentales und den Inhalt von Hanaks Untersuchung betreffendes Werk wie M. B. Sverdlovs Knjaz i knjažeskaja vlast na Rusi VI – pervoj treti XIII v.“ (Spb. 2003) keine nachträgliche Berücksichtigung fand, so zeigt auch dies die Problematik einer mehr oder weniger nur formal veränderten Neuauflage, die durch über vierzig Jahre sowjetischer bzw. russischer und internationaler Forschung vom Zeitpunkt der Erstveröffentlichung getrennt ist.

Hartmut Rüß, Münster/Westfalen

Zitierweise: Hartmut Rüß über: Walter K. Hanak: The Nature and the Image of Princely Power in Kievan Rus’, 980–1054. A Study of Sources. Leiden, Boston, MA: Brill, 2013. 224 S. = East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 450–1450, 25. ISBN: 978-90-04-25982-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Ruess_Hanak_The_Nature_and_the_Image_of_Princely_Power.html (Datum des Seitenbesuchs)

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