Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Hartmut Rüß

 

A. A. Gorskij [et al.] Drevnjaja Rus’. Očerki po­litičeskogo i social’nogo stroja [Die alte Rus’. Gründzüge der politischen und gesellschaftlichen Ordnung]. Izdat. Indrik Moskva 2008. 478 S. ISBN: 978-5-85759-483-4.

Die vier Beiträge dieses Sammelbandes sind zwischen 2002 und 2004 entstanden und stammen von Mitarbeitern des Zentrums für Geschichte Altrusslands am Institut für Russische Geschichte der Akademie der Wissenschaften, deren methodischen Impetus das in der postsowjetischen Historikerzunft populäre Motto „Die Fakten sind heilig, die Meinung ist frei“ durchaus passend charakterisiert. Jedenfalls ist der positivistische Zugriff mit dem Anspruch auf möglichst vollständige Erfassung der verfügbaren Fakten überall deutlich zu spüren.

Der Beitrag von A. A. Gorskij („Zemli i volos­ti“, S. 9–32) befasst sich mit dem seit N. P. Barsov (1885) umstrittenen Problem des historischen Inhalts der Begriffe zemlja und volost in vor­mongolischer Zeit. Außer einem singulären Beispiel unter 1096, wo zemlja (wörtlich: „Land“) als Teilgebiet der Rus’ Erwähnung findet (zemlja Muromska i Rostov’ska), wird der Terminus im 11. und beginnenden 12. Jahrhundert in Verbindung mit russkaja zur Bezeichnung des gesamten von den Rjurikiden beherrschten Territoriums verwendet. Die Begriffe „Fürstentum“ und „Fürstenherrschaft“ begegnen dagegen nicht bzw. äußerst selten vor dem 14. Jahrhundert. In Bezug auf die frühostslavische Stammesperiode (Derevskaja zemlja usw.) hält Gorskij mit A. N. Nasonov (1951) zemlja für eine Modernisierung seitens der Chronisten des 11./12. Jahrhunderts. Eine Identität der vorstaatlichen ethnopolitischen Bildungen des Ostslaventums mit den zemli des 12. und 13. Jahrhunderts besteht also nicht. Seit Mitte des 12. Jahr­hunderts wird der Terminus jetzt auch für politisch selbständige Landesteile gebraucht (z.B. Novgorodskaja zemlja), die – wie früher das gesamte Herrschaftsgebiet der Rus’ – in als volosti bezeichnete fürstliche Amtsbezirke aufgegliedert waren. Die manchmal begegnende Gleichsetzung von zemlja und volost ist deshalb faktisch unkorrekt. Die „Länder“, d.h. die selbständigen Fürstentümer des 12./13. Jahrhunderts, formierten sich auf der Grundlage der großen volosti der vorangehenden Epoche einer relativen politischen Einheit der Kiever Rus’. Für den Rezensenten ist die Argumentation des Verfassers – trotz immer auch möglicher alternativer Deutungen – weitgehend schlüssig. Ob er allerdings die Vertreter der Kontinuitätsthese von vorstaatlichen Stammesbildungen bis hin zu den zemli des 12./13. Jahrhunderts überzeugen kann, wird die Zukunft zeigen.

Der Frage nach der sozialen Zugehörigkeit der veče-Teilnehmer widmet der junge Moskauer Historiker P. V. Lukin seinen Beitrag („Veče: social’nyj sostav“, S. 33–147). Er betont zu Recht, dass ohne zuverlässige Aufschlüsselung des sozialen Faktors die politische Institution des veče und damit – das sei hinzugefügt – ein zentraler Aspekt des Wesens altrussischer Staatlichkeit überhaupt unverständlich bliebe. Sein ausführlicher historiographischer Abriss zeigt nochmals die extrem unterschiedlichen wissenschaftlichen Positionen bei der Fixierung der sozialen Zusammensetzung der veče-Versammlungen, die von einer Zusammenkunft aller freien Stadt- und volost’-Bewohner bis hin zu einem sozial eng begrenzten Organ der feudalen Oberklasse reichen. Lukin selbst vertritt eine mittlere Position, die das aktive politische Engagement verschiedener sozialer Gruppen besonders hervorkehrt: Neben den fürstlichen Gefolgschaften und den seit ca. der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts sesshaft gewordenen ehemaligen družina-Mitgliedern war es die führende städtische Schicht von Kaufleuten und Handwerkern, die durch Verwaltungstätigkeiten und entsprechende Vollmachten über ein großes Gewicht in der Volksversammlung verfügte. Aber auch die gemeinen freien Städter mischten von Fall zu Fall, besonders in zugespitzten Krisensituationen und wenn es die Stadtgesellschaft als Gesamtheit betraf, kräftig im veče mit. Landbewohner in unmittelbarer Stadtumgebung waren nur episodisch daran beteiligt, Frauen offenbar überhaupt nicht. Alle diese Beobachtungen als Ganzes sind zwar nicht neu, gewinnen aber durch die umfassende Quellenfundierung und intelligente historische Kontextualisierung eine bis dato nicht erreichte wissenschaftliche Qualität. Entschieden wendet sich der Verfasser gegen einen „terminologischen Fetischismus“, indem er zeigt, dass z.B. der Begriff ljudi („Leute“) unter Umständen auch die Oberschicht mit einschließen konnte, dass muži („Mannen“) nicht immer nur die Gefolgschaftselite bezeichnete, sondern oft auch einfach die männlichen Bewohner oder nichtadlige Krieger, und dass die Begriffe „Kiever“, „Suzdaler“ usw. keineswegs immer die breiten Bevölkerungsschichten meinten, sondern bisweilen auch die fürstliche družina bzw. sozial Höherstehende. Dass den Rezensenten nicht alle begrifflichen Zuordnungen von Personengruppen in konkreten historischen Situationen überzeugt haben (etwa zu 1146/47) und dass die offenbar vorausgesetzten Selbstverwaltungsbefugnisse und Vollmachten von nichtadligen Städtern und deren entsprechendes Gewicht im veče aufgrund der Quellenlage höchst unsicher sind, mindert nicht wesentlich den positiven Gesamteindruck dieses Beitrages, der sich im übrigen durch eine erfrischende polemische Rhetorik auszeichnet, die freilich manchmal über das Vertretbare hinausschießt, wenn etwa behauptet wird, dass erst „in letzter Zeit im Bereich der Erforschung der sozialen Geschichte Altrusslands Arbeiten erscheinen, die sich an Quellen und Fakten und nicht an A-priori-Konzeptionen orientieren.“

Zur jüngeren Historikergeneration gehört auch P. S. Stefanovič, der eine umfangreiche Abhandlung zum fürstlich-bojarischen Treueverhältnis beisteuert („Knjaz’ i bojare: kljatva ver­nosti i pravo ot-ezda“, S. 148–269). Stefanovič ist, nebenbei bemerkt, einer der wenigen russischen Mittelalterspezialisten, der sich auch in der westlichen Forschung, und dort nicht nur der englischsprachigen, sehr gut auskennt. Treu­eid und Abzugsrecht wurden mit Blick auf ihr Vorhandensein in späteren Jahrhunderten vielfach auch für die Kiever Rus’ als selbstverständlich vorausgesetzt. Die für gefolgschaftliche Loyalität gebrauchten Ausdrücke dieser Zeit (prijat’ v serdce, složit’ golovu, služit’ živo­tom) sind nach Meinung des Verfassers nicht als Treuebekenntnisse im vertraglich-juristischen Sinne aufzufassen, waren nicht von einem dem westlichen Vasallitätseid vergleichbaren Ritual begleitet und wurden nicht nur beim Eintritt in die fürstliche Gefolgschaft verwendet, sondern auch als Ad-hoc-Versicherungen für treue Absichten in zugespitzten Situationen. Der kollektiv zu leistende Kreuzkuss fand offenbar Anwendung nur bei bevorstehenden oder aktuellen Thronwechseln, entweder um Gefolgschaft und Städter auf den zukünftigen Nachfolger zu verpflichten oder als Bekräftigung der Treue gegenüber dem neuen Fürsten bei dessen Herrschaftsantritt. Wie bei den Germanen beim Eintritt in die Gefolgschaft kein spezieller Treue­schwur geleistet werden musste oder dieser zumindest nicht als notwendiger Bestandteil des Gefolgschaftswesens angesehen wurde, so fehlten offenbar auch in der Rus’, möglicherwei­se unter skandinavischem Einfluss, formalisierte Prozeduren und Rituale für die Begründung wie auch für die Auflösung von Treueverhältnissen. Dass sich der vom Verfasser so bezeichnete „Unter­tanen­eid“ der Moskauer Periode vom Treueid der Kiever Epoche inhaltlich bzw. qualitativ wesentlich unterschieden hätte, darf hingegen bezweifelt werden. Nicht die Inhal­te der Treueversprechungen änderten sich in fundamentaler Weise, sondern die politischen Bedingungen angesichts der zunehmenden Machtkonzentration in Moskauer Händen, welche das Repressionspotential bei Treubruch stei­gerten und den Verpflichtungsdruck von Eidleistungen verschärften.

Nachrichten von bojarischem „Abzug“ in vormongolischer Zeit sind äußerst selten und wurden, sofern sie im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen geschahen, als Verrat eingestuft. Stefanovič sieht die häufig zwangsläufige Beendigung von Dienstverhältnissen bei Fürstenwechseln nicht als Loyalitätsbruch im Sinne des späteren „Rechts auf freien Abzug“ an. Die akribische Auflistung von adligen Karrieren in verschiedenen Fürstenlinien macht deutlich, dass freie Dienstwahl, die aber auch generationsübergreifende Gefolgschaftszugehörigkeit bei einem und demselben Fürsten und dessen Nachkommen bedeuten konnte, zur Alltagsnorm gehörte. Dass die juristische Fixierung des Abzugsrechts erst nötig wurde, als Einschränkungen der freien Dienstwahl auftraten, wie der Verfasser konstatiert, ist nur die eine Seite der Medaille, denn sie lag wesentlich im Interesse der Moskauer Herrscher, die vom Zuzug von Dienstmannen der schwächeren Teilfürsten in ihren Herrschaftsbereich profitierten. Wenn Stefanovič im Resümee seines Beitrages die Existenz des Treueids und des Abzugsrechts als Bestandteile fürstlich-gefolgschaftlicher Beziehungen in der vormongolischen Rus nur bedingt anerkennt, so lässt sich das wohl nur in dem Sinne verstehen, dass er zwar die auf Gewohnheitsrecht beruhenden Erscheinungen an sich nicht leugnet, wohl aber deren in bestimmte äußere ritualisierte Formen gegossene rechtliche Normierung.

Der Beitrag von V. A. Kučkin („Desjatskie i sotskie Drevnej Rusi“, S. 270–428) räumt mit der alten Vorstellung auf, dass die „Zehnt-“ und „Hundertmänner“ gewählte Amtsträger der freien Landgemeinde (obščina) gewesen seien. Kuč­kins überzeugendes Fazit der Quellenauswertung ergibt, dass die desjatskie und sotskie mit bestimmten Verpflichtungen, Kompetenzen und Privilegien ausgestattete fürstliche Dienstleute waren und deshalb als Beleg für die verbreitete Existenz der bäuerlichen obščina in Alt­russland nicht geeignet sind: „Für die in unserer historischen Wissenschaft dominierende Vorstellung, dass in der Rus’ des frühen und entwickelten Mittelalters die bäuerliche obščina eine kolossale Bedeutung hatte, sind andere Fakten und Beweise erforderlich.“

Gerade auch dieser Beitrag zeigt, was die akribische Quellenanalyse an Erkenntnisgewinn zu leisten imstande ist. Dennoch lässt sich insgesamt die nüchterne Einsicht nicht verdrängen, dass sich hinter den überlieferten „heiligen“ Fakten eine viel komplexere historische Realität verbarg, die nur zu einem Teil von ihnen enthüllt wird, was weiterhin Raum lässt für Hypothesen und abstrakte Konzeptionen, auch wenn letztere erklärtermaßen nur sehr bedingt dem wissenschaftlichen Geschmack der beteiligten Autoren entsprechen. Dass von den im vorliegenden Band versammelten Beiträgen wichtige Impulse für die weitere Erforschung der mittelalterlichen Rus’ ausgehen werden, steht indes für den Rezensenten außer Frage.

Hartmut Rüß, Münster/Westf.

Zitierweise: Hartmut Rüß über: A. A. Gorskij [et al.] Drevnjaja Rus’. Očerki političeskogo i social’nogo stroja [Die alte Rus’. Skizzen zur politischen und gesellschaftlichen Ordnung]. Izdat. Indrik Moskva 2008. ISBN: 978-5-85759-483-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Ruess_Gorskij_Drevnjaja-Rus_Ocerki.html (Datum des Seitenbesuchs)

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