Pascal Trees Wahlen im Weichselland. Die Nationaldemokraten in Russisch-Polen und die Dumawahlen 1905–1912. Franz Steiner Verlag Stuttgart 2007. 448 S., Tab. = Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 74. ISBN: 978-3-515-09097-1.

Wahlen sind spannend – mit diesem aufmunternden Satz eröffnet Pascal Trees seine Studie zu den Wahlen im Weichselland; denn, so führt er weiter aus, sie geben Einblick in eine Umbruchsphase, in der sich eine breitere gesellschaftliche Partizipation am öffentlichen und politischen Leben entfaltet und sich die überkommenen Eliten zu dieser neuen Legitimations­ressource zu verhalten haben. Davon ausgehend beabsichtigt Trees, die Rolle der polnischen Nationaldemokratie in den vier Dumawah­len in Kongresspolen (seit 1864 in der offiziellen Titulatur auch Weichselland/Privislinskij kraj genannt) zu bestimmen, dabei über eine ideengeschichtliche Betrachtung des „nationalen Lagers“ hinauszugehen und auch die politische Praxis zum Thema zu machen. Denn so würde dem „zweiten Gesicht der Revolution von 1905“ (S. 16) mehr Kontur verliehen – dem Antlitz jenes Bevölkerungsteils, der sich vom revolutionären Umsturz abwandte und sich für eine aktive politische Partizipation im Rahmen der Dumawahlen entschloss.

Das Buch widmet sich damit zwei parallelen Themen, die sich in dem knappen Jahrzehnt eines vorrevolutionären russischen Parlamentaris­mus partiell überschnitten, aber keinesfalls deckungsgleich waren. Es geht Trees sowohl um die Entwicklung der Nationaldemokratie als auch um die politische Mobilisierung der Bevölkerung Kongresspolens im Kontext der Dumawahlen. Den Einstieg sucht Trees in einer kurzen Ge­schichte der Endecja. Er benennt den Warschau­er Positivismus und den reichsloyalen Aus­gleich als die ideengeschichtlichen Voraussetzungen und Hintergründe jener Bewegung, die sich seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts von einem Arrangement mit einer russischen Herrschaft distanzierte und sich die „nationale Wiedergeburt“ Polens zum politischen Ziel setzte. In einem knappen, informativen Über­blick verweist er auf die organisatorische Formierung und Struktur der „polnischen“ bzw. „nationalen Liga“ und deren Aktivitäten im Bereich der Publizistik und Volksbildung im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Trees macht hier anschaulich, wie sich aus relativ losen, individuell operierenden Zirkeln und Verbänden ein institutionelles Netzwerk entwickelte, welches das Fundament einer sich als politische Partei verstehenden Nationaldemokratie stellte. Zugleich betont er zu Recht, dass sich die „nationale Bewegung“ nie auf diese 1897 an die Öffentlichkeit tretende Partei reduzieren ließ, sondern eher ein diffuses Spektrum an Geheimbün­den und Steuerungsinstanzen umfasste. Auch nach Dmowskis, Popławskis und Balickis „Coup“ von 1893 – deren Übernahme der Polnischen Liga und ihre Umbenennung in Nationale Liga – lässt sich nicht von einer straffen Organisation sprechen. Und so bezeichnet Trees deren erste parteiprogrammatische Erklärung von 1897 treffend als „Fiktion einer Partei“ (S. 76). Dies sollte sich bis zur Revolution von 1905 nicht grundlegend ändern. Erst die Zugeständnisse, die der Zar im Oktobermanifest von 1905 und in den Grundgesetzen des folgenden Jahres machte, schufen die Voraussetzungen für eine legale Parteiarbeit auf breiter gesellschaftlicher Basis. Dass der Alleinvertretungsanspruch der von Dmowski geführten Partei für das „nationale Lager“ nur vorübergehend die Interessensgegensätze in diesem diffusen Spektrum an Meinungen und Institutionen überdecken konnte, zeig­ten aber spätestens die Wahlen zur IV. Duma, als sich eine sezessionistische Fraktion von der Nationaldemokratie abwandte.

An der Dominanz der Nationaldemokratie bei den vier Wahlgängen zur Duma konnte dies vor 1914 freilich wenig ändern. Im zweiten, wesentlichen Teil seiner Studie widmet sich Trees eben diesen Dumawahlen und der Rolle, die die Nationaldemokratie im kurzen Jahrzehnt russländischer Parlamentserfahrung spielte. Auf knapp 300 Seiten geht Trees sehr detailliert auf die komplexe Struktur der Wahlordnung, den Gang der Wahlmänner- und Abgeordnetenwahlen, die begleitenden publizistischen Debatten und die Wahlergebnisse in der Provinz und in den Städten zwischen 1905 und 1912 ein; eine Schilderung, die Trees durch einen umfangreichen Tabellenanhang zu den Zusammensetzungen der Wahlversammlungen komplettiert und für deren Rekonstruktion er zudem die Quellen der russischen Gouvernementverwaltungen her­an­gezogen hat.

Trees beschreibt hier unter anderem die bis 1912 nicht in Frage gestellte Vormachtstellung der Nationaldemokratie in der bäuerlichen Wahl­kurie und allgemein in der Provinz Kongresspolens. Dagegen waren die großstädtischen Wahlmännerwahlen wegen des hohen jüdischen Bevölkerungsanteils in einigen Städten des Weichsellandes weitaus umkämpfter. Im Herbst 1912 konnten sich so die nationaldemokratischen Kandidaten zumindest in den Metropolen Warschau und Łódź nicht mehr durchsetzen. Es werden zudem die Bemühungen der russischen Behörden deutlich, einen geregelten Wahlablauf zu gewährleisten, und man erfährt von der allgemeinen Wahleuphorie der ersten beiden Dumawahlen und der folgenden Apathie im Wahlkampf zur III. Duma 1907. Und nicht zuletzt vermag es Trees, die Komplexität der Wahlordnungen sowie ihre Reformen und Manipulationen von 1907 und 1912 zu entschlüsseln.

Gelegentlich, wenn auch zu selten, eröffnen sich Einblicke in das Wahlgeschehen als politische Praxis. Trees beschreibt hier anschaulich die handfesten Auseinandersetzungen zwischen den sozialistisch-sozialdemokratischen Partei­un­gen, die zu einem Boykott der ersten Dumawahl aufgerufen hatten, und den beteiligungswilligen Vertretern der Nationaldemokratie (S. 120–124). Ein wesentliches Mittel der Wahlagitation stellte dabei von Anfang an die vor allem von Dmowski forcierte antisemitische Hetze dar. Der Entwurf von Bedrohungsszenarien einer „jü­dischen Machtergreifung“ in Warschau markierte ein Kontinuum im nationaldemokratischen Wahlkampfgebaren, wenngleich die antisemitischen Tiraden vor allem 1912 im Laufe des IV. Duma-Wahlgangs eine zuvor ungekannte Schärfe und Hysterie erreichten. Zugleich zeich­net Trees auch den Wandlungsprozess der Na­tionaldemokratie während der Wahljahre nach. Eine illegale, auf den Sturz des russischen Regimes ausgerichtete Partei mutierte zu einem relativ verlässlichen Ansprechpartner der zarischen Beamten. Dies mag unter anderem auch dar­an gelegen haben, dass die Nationaldemokraten von der existierenden Wahlordnung erheblich profitierten. Insgesamt gelingt es Trees Studie, die Nationaldemokratie als hegemoniale politische Kraft aller vier Wahlgänge in Kongresspolen facettenreich zu präsentieren.

Bei all diesen Verdiensten hinterlässt Trees Studie dennoch einen ambivalenten Eindruck. So kenntnisreich Trees’ Darstellung zu den teil­weise spannenden Details des Wahlkampfes und -gangs im Weichselland sind, so sehr mangelt es der Arbeit an der nötigen Kontextualisierung. Denn es bleibt bis zum Ende unklar, was denn genau der Autor mit seinen Ausführungen beabsichtigt. Es erfolgt keine Interpretation im Sinne einer kulturgeschichtlichen Perspektive auf die Politik, welche die Deutungshorizonte der Akteure oder die aufeinandertreffenden politischen Kulturen entschlüsselt und Politik als kulturelle Praxis begreift. Hier wäre beispielsweise nach den durch die Dumawahlen angestoßenen Formen gesellschaftlicher und politischer Selbstorganisation und deren sich nicht auf Parteien beschränkende Vernetzungen, aber auch nach dem Aufkommen moderner Massenpropaganda oder dem städtischen Raum als umkämpftes politisches Feld zu fragen gewesen. Auch die von Trees herangezogenen Aussagen von Repräsentanten der russischen Obrigkeit wären es wert gewesen, auf ihre politischen Vorstellungswelten hin gelesen und nicht nur als Informationsquelle für den Wahlverlauf genutzt zu werden. Oft hätte man sich hier als Leser eine dichte und nicht nur detaillierte Beschreibung gewünscht.

Leider mangelt es der Studie auch an Ansätzen einer neueren Imperiumsgeschichte, die verstärkt nach den Wechselwirkungen zwischen Zent­rum und Peripherie fragt. Dabei wäre die Einbettung des Wahlgeschehens einer einzelnen Region in den Reichskontext von zentraler Bedeutung gewesen. Es hätte zumindest ausführlicher reflektiert werden müssen, welche Bedeutung der Tatbestand, dass das Weichselland eine seit über 100 Jahren in das Russländische Reich integrierte Provinz war, für den Wahlhergang und die lokale politische Kultur hatte.

Zuletzt bleiben auch die Rückwirkungen von Wahlkampfagitation und Wahlerfolgen auf die innere Entwicklung der Nationaldemokratie unklar. Die Zusammenführung der beiden Themen­komplexe – Nationaldemokratie und Wahlen – gelingt hier nur teilweise. Es wäre spannend gewesen, weitere Einblicke in die auch jenseits der Wahlkämpfe stattfindenden parteiinternen Debatten und programmatischen Positionierungen zu erhalten. So hätte man gerne mehr zu der von Trees formulierten These eines eher funktional implementierten, wahlkampfagitatorisch ausgerichteten Antisemitismus der nationaldemokratischen Akteure erfahren. Bei all diesen Einschränkungen ist es jedoch unzweifelhaft Trees Verdienst, die Wah­len im Weichsel­land als Thema überhaupt erst erschlossen und eine detaillierte Studie über das vielschichtige Wahlprozedere und Wählerverhalten in den Provinzen und Städten Kongresspolens vorgelegt zu haben.

Malte Rolf, Hannover

Zitierweise: Malte Rolf über: Pascal Trees Wahlen im Weichselland. Die Nationaldemokraten in Russisch-Polen und die Dumawahlen 1905–1912. Franz Steiner Verlag Stuttgart 2007. = Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 74. ISBN: 978-3-515-09097-1., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 2, S. 278-280: http://www.oei-dokumente/JGO/Rez/Rolf_Trees_Wahlen_im_Weichselland.html (Datum des Seitenbesuchs)