Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 57 (2009) H. 2, S.  263-264

Leonid V. Alekseev Zapadnye zemli domongol’­skoj Rusi. Očerki istorii, archeologii, kul’­tu­ry v 2-ch tomach. [Die westlichen Länder der vormongolischen Rus’. Grundzüge der Geschichte, der Archäologie und der Kultur. in 2 Bänden.] Izdat. Nauka Moskva 2006. Tom 1: 289 S.; Tom 2: 167 S., Abb. ISBN: 5-02-010351-9.

Die „Geschichte der westrussischen Länder“ soll laut dem Verfasser den Blick auf „eine der interessantesten Seiten unserer russländischen Vergangenheit“ wenden (S. 5). Die kurze Inhaltsangabe des Verlags der Russländischen Akademie der Wissenschaften empfiehlt das Buch allen, die sich „für die Vergangenheit Russlands interessieren“ (S. 2). Damit wird doppelt und von Anfang an die mittelalterliche Geschichte der Rus’ auf die imperiale Folie des modernen Russland projiziert.

Die beiden Bände geben einen enzyklopädischen und systematischen Überblick über zahlreiche Bereiche der Geschichte der Gebiete, die sich im 12. und 13. Jahrhundert unter dem Einfluss der Fürsten von Polack und Smolensk befanden. Inhaltlich hat die Darstellung weitgehend die früheren Monographien des Autors zur Grundlage (S. 22) und konzentriert sich auf „his­torisch-archäologische“ und politische Themen (S. 5). Eine explizite Fragestellung fehlt. Der Autor umreißt zunächst die geographischen Grundlagen. Im Überblick über die Historiographie zum Thema wird zwar Maciej Stryjkowski geschätzt, aber die neuere westliche Forschung, für die Anfänge etwa die „Frühzeit des Ostslaventums“ von Carsten Goehrke, weiterhin nicht wahrgenommen. Stattdessen werden Vorwürfe gegenüber weißrussischem und ukrainischem Nationalismus geäußert (S. 22). Bezeichnenderweise fehlt ein Verweis auf die Monographie „Die westliche Rus’. 9.–13. Jh.“, die Ėduard M. Zaharul’ski 1998 in Minsk auf Weißrussisch veröffentlicht hat.

Schon für die Zeit der frühesten slavischen Einwanderung geht auch Alekseev unvorsichtig von gewählten Fürsten bzw. Stadtältesten aus (S. 30). Eindrücklich skizziert er die Entstehung von Fernhandelsemporien entlang und zwischen der Düna und dem Dnjepr im 9. und 10. Jahrhundert. Weiterhin ist sodann aber vom „Frühfeudalismus“ die Rede (S. 74). Alekseev berührt die „burgstädtischen Volksversammlungen“ bzw. veče insbesondere in Polack nur sehr knapp und immer noch auch durch Zitate Tatiščevs (S. 88–91), nicht aber im Licht der Studie von Klaus Zernack. Der letzte und größte Teil des ersten Bandes stellt sodann ein ausführliches Inventar der Funde über die „städtischen Zentren der großfürstlichen Zeit“ dar. Der Verfasser registriert schriftliche Quellen oft direkt chro­nistisch und listet faktographisch Grabungs­befunde sowie Überlegungen zu den einzelnen Stadtentwicklungen auf, ohne diese in einer übergreifenden, stadtgeschichtlichen Synthe­seleistung zu reflektieren. Auch die im zweiten Band daran anschließende Skizze der „politischen Schicksale“ der Fürstentümer bleibt bei der nur in Etappen und Regionen gebündelten Er­eignisgeschichte stehen, ohne etwa die Entstehung und den Wandel von Interaktionsketten herauszuarbeiten. Das sechste Kapitel zur „Kultur der westrussischen Länder“ (nun ganz in der Terminologie des „Westrussismus“ des 19. Jahrhunderts) rundet den zweiten Band ab und ist in den traditionellen Bahnen der Beschreibung „materieller Kultur“ gehalten. Nur auf den letzten drei Seiten des umfangreichen Werks abstrahiert Alekseev die Einzelergebnisse. So fasst er die „westrussischen Länder“ als Einheit, um ihre „riesige Rolle in der Entwicklung der vormongolischen Rus’“ festzustellen (S. 150). Immerhin spricht er im ausdrücklichen Gegensatz zu Vertretern des dialektischen Materialismus der Geographie eine entscheidende Rolle zu. Alekseev vermerkt zwar, diese Erkenntnis habe schon Ključevskij gewonnen; er verweist jedoch nicht auf ihre Weiterentwicklung durch andere Historiker. Auch die darauf entworfene stadtgeschichtliche Phasenunterscheidung tritt deutlich hinter die Systematik der Thesen Eduard Mühles zurück. Vergleichsweise neu ist das Plädoyer, neben der Nord-Süd-Achse Novgorod-Smolensk-Kiew den Fern­handelsweg über die Düna zum Dnjepr als Faktor für die Entwicklung der Rus’ stärker als bisher zu gewichten. Deplatziert hingegen ist selbst aus der Sicht der späten sowjetischen Forschung der Totenschein, den Alekseev dem „Leben der vormongolischen westlichen Rus’“ in der Gewalt der „Feinde“ bzw. nach der Eingliederung der Gebiete ins Großfürstentum Litauen ausstellt. Nicht nur für Polack ist ein nicht un­interessantes Leben danach bezeugt. Es bleibt der Eindruck, Alekseev beobachte die „gewaltige und führende Rolle“ „vor allem der Länder Nordweißrusslands“ bei der Entstehung des „Altrussischen Staates“ (S. 150) nicht zuletzt aus dem Blickwinkel des Missmuts ob dem Verlust dieser Gebiete für den russländischen Staat in der Gegenwart.

Stefan Rohdewald, Passau

Zitierweise: Stefan Rohdewald über: Leonid V. Alekseev: Zapadnye zemli domongol’skoj Rusi. Očerki istorii, archeologii, kul’tury v 2-ch tomach. Izdat. Nauka Moskva 2006. Tom 1-2 ISBN: 5-02-010351-9., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 2, S. 263-264: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Rohdewald_Alekseev_Zapadnye_zemli.html (Datum des Seitenbesuchs)