Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 3, S. 469‒470

Verfasst von: Isabel Röskau-Rydel

 

Eva Hahn / Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn, München, Wien [usw.]: Schöningh, 2010. 839 S., 29 Abb., 32 Tab. ISBN: 978-3-506-77044-8.

Bei der über achthundert Seiten umfassenden Studie handelt es sich um eine Bestandsaufnahme der unterschiedlichen Weise des Erinnerns von Politikern und Publizisten an den Zweiten Weltkrieg und die Vertreibung der Deutschen sowie der Erinnerung von persönlich Betroffenen an diese Zeit. Im Untertitel „Legenden, Mythos, Geschichte“ wird bereits die kritische Sicht der Historiker Eva und Hans Henning Hahn deutlich, die sich seit mehreren Jahrzehnten mit dem komplexen Thema Vertreibung befassen. Bekanntlich konnte bei dessen Aufarbeitung noch kein gemeinsamer Konsens in der historisch und politisch interessierten Gesellschaft gefunden werden und dies wird aufgrund der unterschiedlichen Ansichten über das Thema wohl auch in der Zukunft nicht möglich sein.

Die Autoren zogen zu ihrer in vier Teilen und einem umfangreichen Anhang eingeteilten Untersuchung verschiedene Textsorten heran, u.a. Zeitzeugenberichte, Quellen­editionen, Schulbücher, literarische Texte, Reden von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, aus denen sie die „Umrisse und Inhalte“ erhielten, „die das deutsche Erinnern an die Vertreibung im engeren Sinne des Wortes [] ausmachen“ (S. 9). Ziel ist es, sowohl die Geschichte des Erinnerns an die Vertreibung in der Bundesrepublik Deutschland als auch die Geschichte der Vertreibung zu beschreiben und die Diskrepanz zwischen dem öffentlichen Erinnern, den Berichten persönlich Betroffener sowie historisch-politischen Quellen aufzuzeigen. Ein besonderes Anliegen der Autoren ist es, die Legenden und Mythen, die sich in den Erinnerungsbildern erhalten haben, zu benennen und kritisch zu hinterfragen. Dabei stützen sie sich auf die neuere Erinnerungs-, Mythen- und Stereotypenforschung, verzichten jedoch auf einen fachwissenschaftlichen Jargon, um so die in dieser Studie gewonnenen historischen Erkenntnisse verständlich zu machen. Desgleichen betonen die Autoren, vornehmlich deutschsprachige Publikationen für ihre Untersuchung herangezogen zu haben, da eine Einbeziehung der fremdsprachigen Publikationen den Rahmen des Buches gesprengt hätte.

Im ersten Teil wird in einer „Galerie der Erinnerungsbilder“ die unterschiedliche Wahrnehmung der Vertreibung nach 1945 an unterschiedlichen Beispielen aufgezeigt. Dazu gehört das Jonglieren mit den Zahlen der Vertriebenen, darunter auch den Zahlen der auf der auf der Flucht oder bei der Vertreibung ums Leben gekommenen Personen, die außerordentlich große Unterschiede aufweisen und in den letzten Jahrzehnten immer wieder nach unten korrigiert werden mussten. Ebenso werden in diesem Teil als Beispiele die im kollektiven Gedächtnis der Deutschen fest verankerten Bilder der an deutschen Zivilisten im ostpreußischen Nemmersdorf durch Soldaten der Roten Armee sowie im tschechischen Aussig (Ústí nad Labem) von Tschechen verübten Gräueltaten an deutschen Zivilisten angeführt.

Im zweiten Teil „Verdrängte Erinnerungen“ widmen sich die Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und untersuchen am Beispiel verschiedener zeitgenössischer Textquellen die Politik der Nationalsozialisten in Bezug auf ihre Haltung gegenüber der deutschen Minderheit im östlichen Europa sowie ihre Pläne zur Umsiedlung der deutschen Bevölkerung und deren Durchführung im Rahmen des geheimen Zusatzabkommens des Hitler-Stalin-Paktes. Das Schlagwort „Heimkehr“ wird in diesem Teil besonders thematisiert, indem insbesondere auf Niederschriften von Umsiedlern zurückgegriffen wird. Der zweite Teil schließt mit recht umfangreichen Ausführungen über die Überlegungen und Diskussionen der Alliierten im Hinblick auf ihre Deutschlandpolitik und die Ziehung der deutschen Ostgrenze, die – wie die Autoren kritisch anmerken –, schon im Deutschland der Nachkriegszeit nur wenigen Personen bekannt wurden und auch heute noch kaum bekannt seien und dementsprechend selten in Forschungsarbeiten berücksichtigt würden.

Der dritte Teil „Aus der Gründerzeit des Erinnerns“ widmet sich dem Erinnern in Deutschland insbesondere zwischen 1945 und 1949 sowie während der 1950er und 1960er Jahre. Die Autoren beziehen sich zu Beginn ihrer Ausführung konkret auf das 2007 in einem Buch geäußerte Bedauern des Historikers und Direktors der Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, Manfred Kittel, dass der „Exodus von 1945“ nur noch als Ergebnis des in den Mittelpunkt des Interesses gerückten Dritten Reichs und seiner Verbrechen angesehen werde. Aufgrund dieser von Kittel vertretenen Ansichten ist es Eva und Hans Henning Hahn zufolge notwendig, auf die in den 1950er Jahren verfolgte Politik der verschiedenen bundesdeutschen Vertriebenenorganisationen einzugehen, die sich 1958 zum Bund der Vertriebenen zusammengeschlossen haben. In diesem Teil der Studie wird auch ausführlich und umfassend Kritik an der unter der Federführung Theodor Schieders in acht Bänden zwischen 1953 und 1962 herausgegebenen und unter den Historikern sehr umstrittenen „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ geübt. Die Autoren werfen dieser Dokumentation vor, „die Verantwortung des NS-Regimes für den Heimatverlust der Umsiedler sowie die im Zuge der Räumungspolitik herbeigeführte humanitäre Katastrophe zu kaschieren. Anstatt dessen sollte die Rote Armee als der Verursacher der ‚Flucht‘ erscheinen.“ Und die Autoren gehen sogar so weit zu behaupten, dass das in der Dokumentation dargestellte Bild der Flucht „als eine Fälschung der Tatsachen bezeichnet werden muss“ (S. 470), und betonen, dass die Dokumentation als wissenschaftliches Werk misslungen sei (S. 472). Des Weiteren prangern die Autoren an, dass viele der in der Dokumentation zu findenden Legenden auch in den nachfolgenden Jahrzehnten unkritisch weiter kolportiert worden seien und so dem Mythos Vertreibung Vorschub geleistet hätten, und dies, obwohl das Institut für Zeitgeschichte in München schon 1983 für eine notwendige Distanz bei der Beschäftigung mit dem Thema Vertreibung plädiert habe.

Im vierten Teil „Von der Vielfalt des Erinnerns“ widmen sich die Autoren dem unterschiedlichen Erinnern in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik. Der Schwerpunkt der Betrachtungen liegt hier auf den Erinnerungen von Deutschen aus der Tschechoslowakei und Polen sowie insbesondere auf dem Erinnern der Vertriebenenorganisationen. Ein eigener Abschnitt ist hier „Erika Steinbachs Historikern“ (Heinz Nawratil, Alfred de Zayas, Peter Glotz) gewidmet, deren Publikationen von den Autoren besonders kritisiert werden. Als beispielhaft für eine Auseinandersetzung mit dem Thema Vertreibung werden dagegen die Erinnerungen und zahlreichen Publikationen des aus dem Sudetenland stammenden Kurt Nelhiebel angeführt.

Im Anhang geben Eva und Hans Henning Hahn einen historisch-statistischen Überblick über die „Massenumsiedlungen deutscher Bevölkerung im östlichen Europa 1939–1949“ und gehen zum Schluss ihrer Ausführungen noch einmal ausführlich auf die in der Literatur über die Vertriebenen bestehende Diskrepanz der Zahlenangaben ein.

Auch wenn nicht alle Leser die Thesen der Autoren befürworten werden, so handelt es sich bei dieser Studie um ein sehr gutes Kompendium, das nicht nur Studierenden und Historikern, sondern allen am Themenkomplex Vertreibung interessierten Personen einen guten Überblick ermöglicht und zu weiterführenden Studien anregt.

Isabel Röskau-Rydel, Kraków

Zitierweise: Isabel Röskau-Rydel über: Eva Hahn / Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn, München, Wien [usw.]: Schöningh, 2010. 839 S., 29 Abb., 32 Tab. ISBN: 978-3-506-77044-8, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Roeskau-Rydel_Hahn_Vertreibung_im_deutschen_Erinnern.html (Datum des Seitenbesuchs)

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