Claudia Kraft, Katrin Steffen (Hrsg.) Europas Platz in Polen. Polnische Europa-Konzeptionen vom Mittelalter bis zum EU-Beitritt. fibre Verlag Osnabrück 2007. 261 S. = Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, 11. ISBN: 978-3-929759-85-3.
„Europas Platz in Polen“ heißt der zu besprechende Band, der den aktuellen polnischen Debatten über Europa, insbesondere aber über Polens Zugehörigkeit zu Europa, historische Tiefenschärfe verleihen soll. Das ist umso wichtiger vor dem Hintergrund gängiger Formeln wie der von der „Rückkehr Polens nach Europa“. Hier geht es allerdings nicht um Außenansichten, sondern einzig um die Selbstperspektive: Welche Konzeptionen von Europa gab es im polnischen Denken, und wie waren Polen und Europa jeweils konfiguriert – als Gegensätze oder als Ergänzungen?
Denn auch wenn in der polnischen Geisteswelt nie ein Zweifel an der Zugehörigkeit der eigenen Kultur zur europäischen bestand, so wurde diese Zugehörigkeit immer wieder neu gefasst. Die Beiträge des vorliegenden Bandes machen darauf aufmerksam, dass die wirksam gewordenen Konzeptionen lediglich ein Ausschnitt aus der Menge der weitaus zahlreicheren Konzeptionen sind, die diskutiert wurden. Maria Janion zeigt u.a. am Beispiel der Bezüge der mittelalterlichen Kultur zur Orthodoxie auf, dass der polnischen Kultur ganz zu Anfang ihres Eintritts in das europäische Staaten- und Nachbarschaftsgefüge auch ganz andere Möglichkeiten der kulturellen und politischen Orientierung zur Verfügung standen als diejenigen, die dann schließlich realisiert und die für die späteren Europa-Konzeptionen prägend wurden. Tatsächlich war der polnische Staat seit jeher in das Geflecht europäischer Machtpolitik eingebettet, wie Christian Lübke zeigt; und das Selbstbild Polens als antemurale christianitatis demonstriert, dass man für diese Einbettung auch Verantwortung zu übernehmen bereit war.
Dass die schließlich zum Tragen gekommenen Konzeptionen Ergebnisse von handfester Machtpolitik gewesen sind, verdeutlicht der Beitrag von Sławomir Łukasiewicz über „Nachkriegseuropa in föderalistischen Konzeptionen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs“ sehr eindringlich. Föderationspläne mit der Tschechoslowakei zeigen, wie sehr man sich polnischerseits dazu aufgerufen sah, gemeinsam mit den Nachbarn eine integrative Neuordnung Europas herzustellen. Erst vor diesem Hintergrund wird so recht deutlich, welchen einschneidenden Einbruch die Einführung der sozialistischen Ordnung für Polen bedeutete. José M. Faraldo, Paulina Gulińska-Jurgiel und Christian Domnitz belegen, welch wichtige Rolle Europa-Konzeptionen als Identitätsfaktor für die polnische Opposition spielten, als es darum ging, sich jenseits des sozialistischen Volkspolen alternativ zu verorten.
Die Janusköpfigkeit des polnischen Europa-Begriffs scheint immer wieder durch. In der Glanzzeit der polnischen Adelsrepublik etwa war man seitens des polnischen Adels schnell dazu bereit, die eigene herausgehobene Stellung mit der Eigenschaft als „Europäer“ zu glorifizieren, wie Janusz Tazbir in seinem Beitrag „Wir, die Bewohner Europas“ beschreibt. Zugleich bezog derselbe Adel einen wichtigen Teil seines Selbstbewusstseins aus seiner „sarmatischen“ Herkunft und instrumentalisierte damit ein asiatisches, nicht-europäisches Moment. Andreas Lawaty zeigt, wie man ausgerechnet mit dem Gepäck dieser hybriden Orientierung in der Aufklärungszeit integrale Europa-Konzepte formulierte.
Maciej Janowski macht auf einen weiteren Diskursstrang aufmerksam, indem er das Gegensatzpaar „Rückständigkeit“ und „Moderne“ mit dem Paar „Zentrum“ und „Peripherie“ verknüpft. Er weist darauf hin, dass die de facto existente ökonomische Armut und Andersartigkeit Osteuropas einen polnischen Europa-Diskurs eigener Prägung erzeugte. Indem man sich als peripher gelegen verstand, verortete man sich dabei in Bezug auf ein imaginäres Zentrum. Implizit war damit eine Selbstabwertung verbunden, die sich in der Vorstellung ausdrückt, dass es nur einen einzigen zentralen Hauptweg gebe, der die anderen automatisch zu peripheren, rückständigen Seitenwegen degradiere.
Vor diesem Hintergrund ist die Betrachtung der Zwischenkriegszeit von Stephanie Zloch interessant, als Konzeptionen wie das Intermarium oder des Europa des Dritten Weges die polnische Diskussion bestimmten. Aber auch die Diskurse nach 1989, die von Klaus Bachmann und Gesine Schwan thematisiert werden, erhalten ihre Spannung dadurch, dass hier stets von Neuem die manchmal nicht ganz unproblematische Synthese aus polnischen Geistestraditionen und Europa-Bildern westlichen Musters vorgenommen werden muss.
Europas Platz in Polen hätte noch genauer bestimmt werden können, wenn man die bilaterale Ebene, d.h. Polens diskursive Beziehungen zu den Nachbarn, in die Betrachtung miteinbezogen hätte. So ist – um nur ein Beispiel zu nennen – der polnische Orientalismus und die daraus resultierende charakteristische Sonderstellung gegenüber dem Konzept „Europa“ ohne die russische Spielart dieses Phänomens nicht zu begreifen. Auch so jedoch ist den Herausgeberinnen eine facettenreiche Nachzeichnung des polnischen Europadiskurses gelungen.
Rüdiger Ritter, Berlin
Zitierweise: Rüdiger Ritter über: Claudia Kraft, Katrin Steffen (Hrsg.) Europas Platz in Polen. Polnische Europa-Konzeptionen vom Mittelalter bis zum EU-Beitritt. fibre Verlag Osnabrück 2007. = Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, 11. ISBN: 978-3-929759-85-3, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 2, S. 278: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Ritter_Kraft_Europas_Platz.html (Datum des Seitenbesuchs)