Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 2, S. 324-325

Verfasst von: Jakub Rákosník

 

Robert Luft: Parlamentarische Führungsgruppen und politische Strukturen in der tschechischen Gesellschaft. Tschechische Abgeordnete und Parteien des österreichischen Reichsrats 1907–1914.

Band 1. München: Oldenbourg, 2012. XVII, 667 S., zahlr. Abb., Tab. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 102/1. ISBN: 978-3-486-58051-8.

Band 2: Biographisches Handbuch der tschechischen Mitglieder des Abgeordnetenhauses des österreichischen Reichsrats 1907 bis 1914. München: Oldenbourg, 2012. 561 S., Tab. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 102/2. ISBN: 978-3-486-58051-8.

Robert Luft hat sich mit dieser Publikation unauslöschlich in die Geschichtsschreibung der böhmischen Länder eingetragen. Heutzutage ist es als wahrhaft herausragende Erscheinung zu werten, dass ein Autor allein in der Lage war, ein solch komplexes Thema zu bearbeiten, und das noch unter Nutzung einer so riesigen Menge an Quellen und Literatur. Luft krönte mit diesem Werk seine mehr als dreißig Jahre andauernde Forschung zur Politik in den böhmischen Ländern in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.

Die Publikation ist in zwei Bände unterteilt. Der erste schildert detailliert die Geschichte der politischen Parteien und die Aktivitäten ihrer Mitglieder. Der zweite Band ist ein biographisches Wörterbuch von Lebensdaten einzelner Politiker. Jedes Stichwort ist dabei nach einer einheitlichen Struktur aufgebaut (familiäre Herkunft, berufliche Karriere, parlamentarische Aktivitäten, Funktionen usw.), einschließlich einer detaillierten Angabe der Informationsquellen zu jeder Persönlichkeit. Nicht traditionell (jedoch umso interessanter) ist die Aufnahme einer Sektion Kommentare zur Person zu den meisten biographischen Stichwörtern, wo Luft wertende Meinungen zu den Betreffenden aus der Sicht ihrer Zeitgenossen anführt. Tatsächlich kann der erste Teil nicht ohne den zweiten gelesen werden. Im Gegenteil, der Leser ist buchstäblich gezwungen, zwischen beiden Teilen hin und her zu springen und partielle Fakten zu den einzelnen Personen im zweiten Band zu suchen, während er die allgemeinen Kapitel des ersten Bandes liest.

Der wichtigste Interpretationsrahmen des Buches gründet sich auf das ursprüngliche Modell des politischen Parteiensystems (cleavage) von Lipset und Rokkan. Auf der Basis dieser Perspektive konstatiert der Autor dann die Existenz von fünf politischen Lagern im Rahmen des tschechischen politischen Spektrums. Aufgrund der spezifischen konfessionellen Bedingungen der tschechischen Gesellschaft formierte sich zwischen dem national-liberalen Lager und dem Lager des politischen Katholizismus am Beginn der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts ein eigenwilliges agrarisches Lager. Die nationalistische Spannung hatte im selben Zeitraum eine Aufspaltung des Arbeiterlagers in ein national-radikales, das von der national-sozialen Partei repräsentiert wurde, und ein internationalistisch ausgerichtetes der Sozialdemokratie zur Folge. Die Existenz bedeutender regionaler Spezifika wurde dann durch die Verwaltungsgliederung der Kronländer potenziert. Deshalb kann nur schwerlich irgendein theoretisches Konzept einer einheitlichen tschechischen politischen Kultur definiert werden. Die Parteiensysteme in Böhmen, Mähren und Schlesien unterschieden sich nach Lufts Ansicht zu stark, als dass eine solche Konzeption erfolgreich sein könnte, wenngleich er selbst diesen allgemeinen Begriff gelegentlich verwendet, wenn er von den Systemcharakteristika der tschechischen Politik spricht.

Die Systemperspektive wird, und darin besteht einer der wichtigsten positiven Beiträge von Lufts Arbeit, durch die Methode eines kollektiven Biogramms ergänzt. Die Verarbeitung der einzelnen cleavages hängt in nicht geringem Umfang vom Stand der Forschungen und den historischen Studien ab, auf die sich der Autor stützen konnte. Deshalb ist zu entschuldigen, dass seine Beschreibungen Schlesiens bei einer fehlenden komplexen Verarbeitung der dortigen Politik, was die Gründlichkeit der Ausführungen betrifft, nicht an die Informationen zur Politik in Böhmen und Mähren herankommt. In ähnlicher Form ist seine Verarbeitung der politischen Dimension der Arbeiterbewegung (national-soziale und sozialdemokratische Bewegung) im Vergleich mit den Analysen z. B. des national-liberalen Lagers oder des Lagers des politischen Katholizismus oberflächlicher und weniger gründlich.

Gruppensolidarität, die auf geteilten Traditionen, Werteskalen und Lebenswelten beruhte, und weniger geballte Ideologie sieht der Autor als Hauptfaktoren der Kohärenz der einzelnen Lager an, aus denen sich schrittweise mächtige politisch-gesellschaftliche Säulen, kollektive Interessengruppen und Zusammengehörigkeitsgefühle entwickelten. Aus den partikularen soziopolitischen Milieus schöpften die einzelnen politischen Lager ihr Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Ideologie spielte in der politischen Kultur eine eher marginale Rolle. Die tschechischen politischen Parteien betrachtet Luft weder als ideologisch, noch (etwas überraschend) als ständisch begründet, und zwar mit der Begründung, Angehörige der normalen Ständegruppen (Landwirte, Arbeiter, Beamte, Handlungsgehilfen bzw. Lehrer) würde man grundsätzlich nicht in der Klientel von mehreren politischen Parteien finden. Stattdessen spricht er von Milieuparteien bzw. sektoralen Volksparteien. Diese These Lufts dürfte die kontroverseste sein und in Zukunft Widerspruch aus der Historikerzunft hervorrufen.

Wenngleich der Autor in seinem Buch konsequent chronologisch vor- und in seiner Interpretation nicht bis über die Zeit nach 1914 hinausgeht, kann sein Buch auch als große Errungenschaft für die Geschichte der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit angesehen werden. Der Leser versteht die extreme Politisierung des Lebens und die Funktion der politisch-gesellschaftlichen Säulen in der ersten Republik besser. Lufts Arbeit deckt in dieser Hinsicht eine starke Kontinuität bei der Herausbildung eines politischen Lebens in den böhmischen Ländern auf. Der Autor spricht explizit davon, dass die tschechische Gesellschaft im Kontext Europas vor 1914 eine der am stärksten politisierten war. Wenngleich er dies zu Recht als charakteristisches Merkmal weiterer „versäulter Gesellschaften“ wie derjenigen Belgiens, der Niederlande oder der Schweiz betrachtet, ist ihm eine komparative Perspektive fremd; die Mechanismen der Errichtung eines solchen Typs von Gesellschaftsordnung studierte er nicht weiter. Dies hinderte ihn jedoch nicht daran, die tschechische Gesellschaft als außergewöhnlich und unikat zu bezeichnen, nicht nur im Kontext der übrigen nationalen Gesellschaften der Habsburgermonarchie, sondern auch  Vorkriegseuropas im Ganzen. Ihre Ausnahmestellung bestand nach Lufts Ansicht in der hohen Anzahl und der inneren Kohärenz der einzelnen politisch-gesellschaftlichen Säulen. Wahrscheinlich veranlasste eben die schwache komparative Basis dieses sonst beachtlichen Werkes seinen Autor zu der Annahme eines tschechischen politischen ‚Sonderweges‘. Dies ist ein großartiger und provokativer Gedanke, und als Rezensent kann man dem Autor nur wünschen, dass er sich als tragfähig und nachhaltig erweist.

Jakub Rákosník, Prag

Zitierweise: Jakub Rákosník über: Robert Luft: Parlamentarische Führungsgruppen und politische Strukturen in der tschechischen Gesellschaft. Tschechische Abgeordnete und Parteien des österreichischen Reichsrats 1907–1914. Band 1. München: Oldenbourg, 2012. XVII, 667 S., zahlr. Abb., Tab. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 102/1. ISBN: 978-3-486-58051-8. Band 2: Biographisches Handbuch der tschechischen Mitglieder des Abgeordnetenhauses des österreichischen Reichsrats 1907 bis 1914. München: Oldenbourg, 2012. 561 S., Tab. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 102/2. ISBN: 978-3-486-58051-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Rakosnik_SR_Parlamentarische_Fuehrungsgruppen.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2016 by Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg and Jakub Rákosník. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.