Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 274-276

Verfasst von: Stefan Plaggenborg

 

Felix Schnell: Räume des Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905–1933. Hamburg: Hamburger edition, 2012. 575 S., Ktn., Abb., Tab., Graph. = Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. ISBN: 978-3-86854-244-8.

Forschungen zu Phänomenen der Gewalt in Russland bzw. der Sowjetunion liegen seit vielen Jahren vor. Revolution, Bürgerkrieg und die Kollektivierung der Landwirtschaft nahmen dabei stets eine Schlüsselrolle ein. Schnells Studie reiht sich in diese Untersuchungen ein, versucht aber noch etwas anderes. Sein Anliegen ist es, denGewaltraumUkraine in drei Perioden zu untersuchen, um daran die konzeptionellen und strukturierenden Überlegungen der Gewalttheorie undsoziologie zu überprüfen. Seine Untersuchungszeiträume sind die Revolution 1905, der Bürgerkrieg und die Kollektivierung. Als roter Faden zieht sich die Kontinuität der Gewalt durch das Buch, die auch während der Neuen Ökonomischen Politik nicht innehielt. Die Untersuchung versucht dabei zweierlei: Zum einen das historische Problem des Gewaltkontinuums in der Ukraine zu beschreiben, zum anderen einen systematischen Beitrag zur Gewaltforschung zu liefern.

Die Studie kreist um zwei Leitbegriffe: Gewaltraum und Gruppenmilitanz. Gewalträume definiert der Verfasser alssoziale Räume, die den Gebrauch von Gewalt begünstigen oder wahrscheinlich machen, weil sie Chancen bieten, eigene Interessen oder Bedürfnisse gewaltsam durchzusetzen(S. 20), Gruppenmilitanz ist das gewaltsame Handeln in einer(m)ilitante(n) Vergemeinschaftung(S. 22). Mit diesen Begriffen und einer Diskussion ausgewählter Werke der Gewaltforschung ausgestattet, durchstreift der Verfasser seine Untersuchungsfälle. Dabei kommt es ihm darauf an, der herkömmlichen Gewaltforschung, die laut Verfasser auf Ursachen und Durchsetzung politischer Ziele abhebt, die Eigenständigkeit akteursbezogener und habituell ausgeprägter Gewaltbeschreibungen entgegen zu stellen.  

Die Revolution von 1905 in der Ukraine beschreibt Schnell als einLaboratorium der Gewalt, in dem sich sehr unterschiedliche Gewaltakteure tummelten;Staatsfernebildete einen entscheidenden Kontext. In diesem ersten Fall zeigt sich bereits das Vorgehen des Verfassers. Er greift ausführlich auf Sekundärliteratur zurück, um die Entwicklungen in der Ukraine im Kontext der Revolution darzustellen, um dann an einem besonders prägnanten Beispiel die Theoreme der Gewaltforschung empirisch zu überprüfen. Auf diese Weise kann er von den sozialen Beziehungen unter Gewalttätern berichten, ihr Handeln im Zusammenhang der Gruppenbildung beschreiben, die Verständigungsmodi über Gewalt und durch Gewalt herausarbeiten und auch die aus demSpielder Gewalt entstehenden Handlungskonsequenzen nachzeichnen.

Einmal in denRäumen des Schreckensgefangen, konnten sich viele Akteure (nicht dieselben) dem Sog der Gewalt weder im Ersten Weltkrieg und schon gar nicht im Bürgerkrieg entziehen. Der Bürgerkrieg wird als staatsferner Gewaltraum beschrieben und die Auflösung der Ordnung als Hintergrund für Gewalthandeln zahlreicher Akteure gesehen. Die Ukraine sei, so der Verfasser, infolge der politischen, sozialen und militärischen Verhältnisse für Gewalt prädestiniert gewesen. Die Fallstudie bezieht sich hier auf das Treiben der zeitweilig bis auf Armeestärke angeschwollenen Freischärler unter Führung Nestor Machnos. Mit Hilfe von Archivmaterial kann der Verfasser Einzelheiten der Verlaufsformen von Gewalt, der Gruppendynamik, der Hierarchisierung und des Charismas Machnos, das Phänomen der Atamanščina sowie die Beteiligung von Frauen beschreiben.

Die dritte Untersuchungsperiode, die Kollektivierung der Landwirtschaft, wiederum vor dem Hintergrund eines ausgiebigen Rückgriffs auf die Sekundärliteratur beschrieben, zeichnet sichwie in den vorangegangenen Fällen nicht überraschenddurch Massengewalt aus. Der Unterschied jedoch zu den beiden anderen Perioden besteht laut Verfasser besonders darin, dass nun der Staat als Akteur zentrales Gewicht erhielt. So wird auch hier mit Archivalien sehr detailreich die Gruppenbildung unddynamik des Gewalthandelns in der Ukraine ausgeleuchtet. Stalins Rolle als Stichwortgeber und politischer Antreiber ist unübersehbar, und wenn auchder Staatstärker involviert ist, so bildeten sich dochKleinreiche des Terrorsheraus.

Durch die Zweiteilung der Aufgabenstellunghistorische Analyse und systematische Gewaltforschungergibt sich ein zwiespältiger Leseeindruck. Als Historiker lernt man kaum Neues, denn dass die Revolutionen 1905, 1917, der Bürgerkrieg und die Kollektivierung namentlich in der Ukraine (aber nicht nur dort) blutige Ereignisse waren, dass sich Gewalt im Bürgerkrieg nicht auf die politischen FarbenRot,WeißundGrünbeschränkte und dass die Gewaltfronten nicht zwischenstaatlich“ undnichtstaatlich“ verliefen, ist hinlänglich aufgearbeitet. Daher auch der fortwährende Rekurs auf Sekundärliteratur. So muss der Leser die langen Passagen über die gewaltsamen Verhältnisse als einführenden Kontext verstehen.

Die Beschreibungen der Fallbeispiele sind aufschlussreicher. Sie werden nach einer präzisen Deskription unter den beiden anfangs genannten Leitbegriffen interpretiert. Durch die Methode derdichten Beschreibung“ – die für Historiker jedoch von der Dichte des vorgefundenen Materials abhängtwerden die filigranen Verhältnisse für die Entstehung, Durchführung und gruppendynamischen Folgen des Gewalthandelns deutlich. Welch unterschiedliche Akteure dabei in den Umkreis des Gewalthandelns geraten können, wird auf diese Weise verständlich. Der Verfasser bestätigt dabei schon bekannte Merkmale der allgegenwärtigen Gewalt, hier besonders am Beispiel Machnos, wonach die Lust an der Gewalt auch eine Frage der (jungen) Generation und Gewalt eine Form der Kommunikation ist. Insgesamt erweist sich, dassGruppendynamikder analytisch nützlichere der beiden o. g. Zentralbegriffe ist, mit dem sich arbeiten lässt.

Der  „Gewaltraumbleibt analytisch und methodisch verschwommen, denn es offenbart sich die Tautologie der Definition: Gewalträume werden durch Gewalt konstituiert; wo Gewalt nurlatentist (was immer das heißt), gibt es keinen Gewaltraum. Fußballstadion, Schulhof und bürgerliche Kleinfamilie sindGewalträumenur dann, wenn sich Gewalt abspielt, ansonsten sind sie trotzLatenzOrte des Vergnügens, der Erholung und der Geborgenheit. Bei der Ukraine ist es prinzipiell nicht anders. Insofern ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass die gesamte Perspektive tautologisch ist, denn wer Gewalträume analytisch konstituiert, sucht nicht nach denFriedensräumen. Unzutreffend ist es, vom Bürgerkrieg als demHobbesianischen Raumzu sprechen. Abgesehen von dem Wortungetüm, das nichts anderes meint als den Naturzustand bei Hobbes, den man daher auch so nennen darf, so besteht doch der Clou bei Hobbes Leviathan gerade darin, durch vertragliche Bindungen die Gewalt zu bannen. DerHobbesianische Raumwärerichtig verstandeneben nicht der Naturzustand. Vielleicht ist dieses Missverständnis dafür verantwortlich, dass dem Verfasser die eigentlich innovative Perspektive entgangen ist, die sein Vorgehen anbietet, nämlich die Entstehung politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse und sozialer Beziehungen handlungstheoretisch grundsätzlich als auf Gewalt gegründet zu begreifen und damit auch die Herrschaft derBolschewikiauf diese Weise zu analysieren. Wir sprechen immer vom Bolschewismus und Stalinismus, wir brauchen aber eine Geschichte der Bolschewisten und Stalinisten.

Schnell hat die Problematik seines Vorgehens selbst beschrieben. Man muss ihm aber in seiner strengen Selbstkritik nicht folgen, wenn er sagt, seine Untersuchung könne „weder der Forschung noch den Gegenständen Gerechtigkeit widerfahren“ lassen (S. 25).

Stefan Plaggenborg, Bochum

Zitierweise: Stefan Plaggenborg über: Felix Schnell: Räume des Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905–1933. Hamburg: Hamburger edition, 2012. 575 S., Ktn., Abb., Tab., Graph. = Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. ISBN: 978-3-86854-244-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Plaggenborg_Schnell_Raeume_des_Schreckens.html (Datum des Seitenbesuchs)

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