Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 4, S. 655-657

Verfasst von: Bianka Pietrow-Ennker

 

Malte Rolf: Imperiale Herrschaft im Weichselland. Das Königreich Polen im Russischen Imperium (1864–1915). Berlin: de Gruyter, 2014. XII, 532 S. ISBN: 978-3-11-034537-7.

Wem gehört das Königreich Polen und die Stadt Warschau? Diese pointierte Frage zielt auf den Grundkonflikt, der zwischen den imperialen Instanzen des Russischen Reiches und den polnischen Untertanen seit der Teilungszeit bestand. Die Habilitationsschrift von Malte Rolf erstreckt sich auf die Periode zarischer Herrschaft von der Niederschlagung des Januaraufstands 1863 und der nachfolgenden Einverleibung des Königreichs als „Weichselland“ in das Russische Reich bis zum Abzug der Zarenmacht im Ersten Weltkrieg 1915. Mit seiner Studie zeigt der Verfasser am Fallbeispiel des russischen Teilungsgebietes Polens und dessen dichtesten Kommunikationsraums Warschau, welche imperialen Integrationsbestrebungen sich einerseits, welche systemsprengenden Kräfte andererseits in einer Zeit der dynamischen sozioökonomischen Modernisierung, der imperialen Machtentfaltung und zugleich eines intensiven nation building entwickelten.

Die Untersuchung versteht sich als ein Beitrag zum allgemeinen wissenschaftlichen Diskurs über die Komplexität und Reichweite von imperialer Herrschaft an der Reichsperipherie. Allerdings nahm das russische Teilungsgebiet Polens durch seine Geschichte und das hohe Niveau der polnischen politischen Kultur, das damit verbundene starke Selbstbewusstsein seiner Bürger sowie die herausragende Bedeutung der Industrialisierung in Russisch-Polen eine Sonderrolle im Reichskontext ein. Daher bewegt sich die Fallstudie zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen imperialer Herrschaft. Sie zeichnet sich durch Quellenreichtum, ein überzeugendes Konzept und seine auch stilistisch durchweg gelungene und präzise Umsetzung aus. Dabei hat der Autor stets die aktuellen Forschungsdiskussionen vor Augen und kann durch den systematischen Zugriff auf sein Thema Wesentliches zur Spezifik imperialer Herrschaft im Weichselland beitragen. Ein starker Fokus auf Kommunikation ermöglicht es, die Dynamik des Machtkampfes zwischen Zentrum und Peripherie nachzuvollziehen und dadurch Stereotype der Forschung von imperialer Herrschaft als monolithischer Gewaltpolitik aufzubrechen. Vielmehr wird jene als soziales Verhältnis vorgestellt, innerhalb dessen beide Seiten auch voneinander profitierten, lernten und z. T. gemeinsame Ziele, in der Kommunalpolitik etwa, verfolgten.

Der Autor beschreibt die rechtliche Rahmung von Herrschaft, die Verwaltungsapparate mit ihren wechselnden Repräsentanten sowie die Entwicklungsstrategien des Zent­rums, die Kommunikationswege und -formen zwischen Zentrum und polnischer Peripherie sowie die Symbolpolitiken, die Auskunft über die Bemühungen um die Deutungshoheit über Ereignisse geben. Es gelingt ihm zudem, den wachsenden „Eigensinn“ der Provinz gegenüber dem Zentrum und seine Auswirkungen herauszuarbeiten. Aber erstaunlicherweise ist es nicht nur der polnische „Eigensinn“, sondern auch derjenige der russischen Diaspora in Warschau. Die Leitfrage, wem was gehört, ist daher zugleich ein Schlüssel zu Konstruktionen kollektiver Identität und alltäglicher Machtausübung.

Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen die führenden Repräsentanten der Petersburger Administration, die für den Entwurf und die Gestaltung der zarischen Politik in den Weichsel-Gouvernements zuständig waren. Malte Rolf fragt im Wandel der Zeit nach ihrem Sozialprofil, ihren Selbst- und Fremdbildern, ihren Führungsstilen, ihrer lokalen Herrschaftspraxis und den sich darin kristallisierenden Techniken der Macht, die variierten und dadurch unterschiedliche Handlungsspielräume für lokale Problemlösungen boten. Durch seinen Fokus auf Kommunikation kann der Autor Wechselwirkungen aufzeigen, die auf polnischer Seite keineswegs nur als Widerständigkeiten im Kontext dynamischer moderner Nationsbildungsprozesse in Erscheinung traten. Die in der Forschung lange Zeit gepflegte dichotomische Darstellung des polnisch-russischen Verhältnisses als eines, das sich strikt in „wir“ und „sie“ teilen lässt, wird dadurch tendenziell aufgelöst. Eine detaillierte Beobachtung der Alltagspraxis von Verwalten und Gestalten lässt vielmehr die Rahmungen und Formen von Zusammenarbeit deutlich werden, die schließlich zur Blüte Warschaus als „Paris des Ostens“ führten.

Die Untersuchung lokaler Gemeinschaften in Warschau erlaubt es, Strategien zur Überwindung von Konfrontation im Zusammenhang mit wirtschaftlichen und karitativen Interessen, sozialem Aufstieg oder kultureller Partizipation zu ermitteln. Als ein prägnantes Beispiel für Modernisierung im Kontext imperialer Integration führt Malte Rolf die Berufsgruppe der Ingenieure an, die, als führende soziale Schicht zum großen Teil aus katholischen Polen bestehend, zusammen mit den zarischen Behörden für den Ausbau der Stadt zu einer imperialen Metropole und einem führenden Wirtschaftszentrum verantwortlich waren. Die produktive Kooperation überbrückte nationale und konfessionelle Gräben und schuf ein stabiles Fundament für Kommunikation und gemeinsames Handeln. Vielfach als Staatsbeamte tätig, bildeten diese Polen zusammen mit anderen Vertretern der polnischen professionalisierten Intelligenz rund zwei Drittel des Personals der zarischen Bürokratie in Warschau. Nicht selten vertraten der Stadtpräsident und leitende Ingenieure gemeinsam städtische Interessen. Beide Gruppen verband bei ihrem Handeln die Vision, Gestalter des Modernisierungsgedankens zu sein, bis hin zu Vorstellungen von social engineering. Der Sinn des Autors für kulturwissenschaftliche Fragestellungen erbringt in diesem und anderen Kontexten zusätzlichen wertvollen Erkenntnisgewinn, wenn er Symbolpolitiken beleuchtet, die Auskunft über den Grad der gesellschaftlichen Akzeptanz der beschriebenen Zusammenarbeit geben. Sie war z. B. bei öffentlichen Feiern zu beobachten, so der Beerdigung des prominenten polnischen Schriftstellers Bolesław Prus, als Nationalisten Loyalisten angriffen, zu denen die sarg­tragenden Studenten der Ingenieurswissenschaft gehörten.

Malte Rolfs Studie erweist sich im Ganzen als ein bedeutender, innovativer Beitrag zum – dynamischen und heterogenen – Verhältnis von Zentrum und Peripherie. Hierarchien, so der Befund, waren nicht dichotomisch stabil, sondern im Fluss. Imperiale Herrschaft an der Peripherie als „Kontaktzone“ formte sich in Prozessen wechselseitiger Beeinflussung, moderne lokale Verwaltungspolitik wirkte auf das Zentrum zurück, Warschau erschien den zarischen Beamten in diesem Sinne als ein begehrtes „Fenster zum Westen“. Daraus folgte auch, dass man nach der Revolution von 1905 und dem Kriegsrecht (bis 1909) zu flexiblen Herrschaftsformen fand und bis zum Ersten Weltkrieg keine Politik der forcierten Integration des Weichsellands in das russische Herrschaftsgefüge betrieb, obwohl der Druck, der von einer allgemeinen Nationalisierung ausging, langfristig erodierend wirkte.

Seine Untersuchungsbefunde konfrontiert Malte Rolf mit dem Kolonialisierungsparadigma, das in der Forschung oft und auch gerade von polnischen Historikern überstrapaziert worden ist. Der Verfasser kann auf der Grundlage seiner Forschungsergebnisse überzeugend feststellen, dass das Weichselland im Selbstverständnis der zarischen Macht kein auswärtiges Protektoratsgebiet war, sondern dass es im Zuge der reichsweiten Unifizierung von Verwaltung und Recht nach den Großen Reformen als periphere Reichsprovinz galt. Der Begriff der Kolonie würde – so argumentiert der Autor völlig zu Recht – das ökonomische und kulturelle Entwicklungsgefälle von der Peripherie zum Zentrum verdecken. Dazu gehört für Malte Rolf auch der polnische, auf langen politischen Traditionen begründete Wertehorizont als Gegenentwurf gegen zarische Autoritätsansprüche. Letztendlich ergänzten sich im Weichselland bis zum Krieg Handlungszwänge und Handlungsspielräume zu einem haltbaren Kompromiss der Machtausübung. Der Autor muss am Ende deutlich hervorheben, dass die große Wende schließlich von außen kam, als eine Folge des Krieges und des Zusammenbruchs des Zarenreichs.

Bianka Pietrow-Ennker, Konstanz

Zitierweise: Bianka Pietrow-Ennker über: Malte Rolf: Imperiale Herrschaft im Weichselland. Das Königreich Polen im Russischen Imperium (1864–1915). Berlin: de Gruyter, 2014. XII, 532 S. ISBN: 978-3-11-034537-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Pietrow-Ennker_Rolf_Imperiale_Herrschaft_im_Weichselland.html (Datum des Seitenbesuchs)

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