Julia Herzberg, Christoph Schmidt (Hrsg.) Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2007. 416 S. = Kölner Historische Abhandlungen, 44. ISBN: 978-3-412-16506-2.

Rund 1.000 Deutsche gaben Ende des vergangenen Jahres in einer Forsa-Umfrage Auskunft über ihr Bild vom heutigen Russland. Die anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Unsere Russen – Unsere Deutschen“ durchgeführte Erhebung belegte hierbei ein weiteres Mal, dass stereotype Selbst- und Fremdbeschreibungen in der Breite der Bevölkerung nach wie vor wirksam sind. Hierzu gehört auch das traditionsreiche Bild, dass sich ‚die Russen‘ durch Staatsgläubigkeit auszeichneten (dieser Aussage stimmten 60% der Befragten zu), während entsprechend der Begriff „Freiheit“ nur von 19% der Teilnehmer zum Profil Russlands gezählt wurde. Russland als Reich des Kollektiven, der Masse, mit entsprechend schwach entwickelten individuellen Selbstverständnissen?

Die Kritik an solchen Pauschalurteilen ist in den Kreisen der Osteuropahistoriker/innen alles andere als neu und könnte entsprechend als obsolet beiseite gelegt werden. Dass dem nicht so ist, zeigt die in den letzten Jahren eindrücklich angestiegene Literatur zu autobiographischen Zeugnissen verschiedenster Art im russländischen und sowjetischen Kontext. Westeuropäische, russische und amerikanische Verf. haben Selbstbeschreibungen als Ausdruck und Ort von Identitätsfindung entdeckt und damit ein Forschungsfeld eröffnet, das lange vernachlässigt wurde und noch dementsprechend viel an Erkenntnissen verspricht.

Der vorliegende Band kann zunächst einmal als eine Zwischenbilanz des heutigen Wissensstandes zur Autobiographik im Russländischen Reich bezeichnet werden. Die Hrsg. Julia Herzberg und Christoph Schmidt unternehmen es in ihren einführenden Artikeln, das bisher Erreichte einer kritischen Würdigung zu unterziehen, wobei man sich über eine mangelnde Schärfe des Urteils nicht beklagen kann. Vor allem Christoph Schmidt stellt großen Teilen der westeuropäischen Forschung ein schlechtes Zeugnis aus und erhebt für den vorliegenden Band den Anspruch, entgegen der Tradition dichotomischer Ost-West-Zuschreibungen mittels der Autobiographik das Individuum in den Blick zu nehmen und dadurch zugleich mit der Fokussierung auf Elitendiskurse zu brechen und den Schwerpunkt auf das ‚andere Russland‘ der ‚kleinen Leute‘ zu legen. Julia Herzberg gelingt es dann im Anschluss, nicht nur einen profunden Überblick über den westlichen Diskussionsstand zu Subjekt und Autobiographie zu geben, sondern dies auch mit einer Skizzierung der Entwicklung der russischen Autobiographietheorie zu verknüpfen. Im Ergebnis sieht sie seit den neunziger Jahren ein Zusammenwachsen dieser verschiedenen Traditionen, etwa im Bereich der Analyse weiblicher Selbstzeugnisse mittels Ansätzen der gender studies. Autobiographik versteht sie hierbei als Ausdruck sozialer Praxis und kommunikativen Handelns (S. 58), womit sie sich einerseits von einem traditionellen Zugriff auf Autobiographien als realitätstreuen Zeugnissen historischer Sachverhalte abgrenzt, andererseits aber auch nicht dem viel diskutierten Postulat der völligen Auflösung des Subjekts folgt. Im Folgenden werde es, so Herzberg, vielmehr um das Wechselspiel zwischen subjektiver Perspektive und sozialer Dimension der Textproduktion gehen (S. 61).

Nun leiden Sammelbände mit solch an­spruchsvoll daher kommenden Einleitungen nicht selten daran, dass die hohen Erwartungen im Folgenden keine Entsprechung in den Detailstudien finden – im vorliegenden Fall wäre ein solcher Vorwurf jedoch unangebracht. Es geht in den insgesamt dreizehn Artikeln tatsächlich um einen sozialgeschichtlich breiten Querschnitt von Texten bürgerlicher, adliger und bäuerlicher Provenienz, und die Analysen basieren hierbei bei allen Unterschieden auf einem gemeinsamen Verständnis autobiographischer Texte als Ort und Mittel der Entwicklung von Individualität. Wiederholt wird die Bedeutung des Schreibprozesses betont, der Handlungsspielräume zur Selbstreflektion eröffne und der Positionierung im jeweiligen sozialen Umfeld diene. Der zeitliche Rahmen erstreckt sich vom Mittelalter bis in die Sowjetunion der vierziger Jahre, das inhaltliche Spektrum reicht von der Analyse individueller Begriffe von Frömmigkeit über die Untersuchung von Emotionen und Traumaufzeichnungen als konstituierende Elemente von Identität bis hin zur Thematisierung der Bedeutung zeitgenössischer Geschlechterdefinitionen und der Frage, ob es eine spezielle jüdische Autobiographik gibt.

Eine solche Breite an Zugängen und Fragestellungen mündet häufig in Disparität, und auch im vorliegenden Fall mag sich der Leser ob der Menge an dargebotenen Informationen zunächst etwas erdrückt fühlen. Legt man dann jedoch die gewonnenen Einsichten nebeneinander, so wird rasch deutlich, dass es nicht nur eine allen Artikeln gemeinsame Ausgangsbasis gibt, sondern auch übergreifende Ergebnisse. Hierzu zählen neben der bereits genannten Betonung des Schreibprozesses als Teil der Selbstkonstituierung die Erkenntnis, dass Menschen sich besonders häufig in Umbruch- oder Krisensituationen selbst beschreiben, sowie der wiederholt konstatierte hohe didaktische Wert, der Autobiographien zugemessen wurde. Von Avvakum über Verfechter der Aufklärung wie der Gegenaufklärung bis hin zu Anna Bek als Vertreterin der russischen Frauenbewegung im 19. Jahrhundert einte die Verf. die Hoffnung, über die Niederschrift ihres eigenen Lebens ein Tugendideal vermitteln zu können. Diese Feststellungen erinnern an vergleichbare Ergebnisse der Analyse westeuropäischer Selbstzeugnisse, womit sich der Kreis zum Anliegen des gesamten Bandes schließt, bestehende Ost-West-Dichotomien zu überwinden.

So anregend die Lektüre ausfällt, so sehr stellt sich die Frage nach konkreten Anknüpfungspunkten für weitere Forschungen. Hier wären zumindest drei Punkte wert, weiter bedacht zu werden: Zum ersten die Verbreiterung der empirischen Basis – denn wie auch mehrfach im Band thematisiert, laufen (auto)biographische Studien immer Gefahr, mit dem Vorwurf mangelnder Repräsentativität konfrontiert zu werden. Erste vergleichende Betrachtungen werden hierzu bereits angestellt – es bliebe aber in dieser Hinsicht sicherlich noch viel zu tun. Zum zweiten wäre der Fokus dadurch ausdehnbar, dass man über die russische Bevölkerung des Russländischen Reichs hinaus weitere Bevölkerungsteile in den Blick nimmt. Was hier für den Bereich russisch-jüdischer Autobiographik bereits angerissen wird, ließe sich für zahlreiche weitere Gruppen des Imperiums denken und würde sicher zu einer weiteren Auffächerung des Bildes führen. Und drittens wäre in Betracht zu ziehen, dass sich autobiographische Aussagen nicht allein auf Texte reduzieren. Die Hrsg. des Bandes beschränken sich aus gutem Grund auf schriftliche Zeugnisse – grundsätzlich könnte man aber ebenso gut an Bilder und alles, was mit dem Begriff des Habitus verbunden ist, denken.

Insgesamt ist ein Band entstanden, der viel mehr ist als nur eine Zwischenbilanz der Forschung. Zusammengestellt aus Anlass des 50jährigen Bestehens des Kölner Seminars, versammelt er Beiträge ehemals oder immer noch am Lehrstuhl Tätiger und wird vervollständigt über eine Auflistung der in dieser Zeit entstandenen Qualifikationsarbeiten, ein ausführliches Register sowie durch eine äußerst hilfreiche Bibliographie zu Geschichte und Theorie der Autobiographik im allgemeinen sowie im russländischen bzw. sowjetischen Kontext im speziellen. Bei aller Vorliebe des Rezensenten für wissenschaftshistorische Rückblicke auf die Geschichte des eigenen Faches kann somit nur konstatiert werden, dass ein solcher Werkstattbericht aus Anlass des Jubiläums eine wirklich gelungene Alternative darstellt.

Hans-Christian Petersen, Mainz

Zitierweise: Hans-Christian Petersen über: Julia Herzberg, Christoph Schmidt (Hrsg.) Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2007. = Kölner Historische Abhandlungen, 44. ISBN: 978-3-412-16506-2., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 56 (2008) H. 4, S. 601-603: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Petersen_Herzberg_Schmidt_Vom_Wir_zum_Ich.html (Datum des Seitenbesuchs)