Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), S. 613-615

Verfasst von: Irina P. Pavlova

 

Ljubov M. Žvanko: Biženci peršoji svitovoji vijny. Ukrajins’kij vymir (1914–1918 rr.). Monografija. Charkiv: Apostrof, 2012. 567 S., Tab. ISBN: 978-966-2579-00-0.

Die Monographie ist dem komplizierten Phänomen des Flüchtlingsproblems während des Ersten Weltkriegs gewidmet. Angesichts des bevorstehenden 100. Jahrestags des Beginns dieser menschlichen Tragödie erscheint die Erforschung des Umgangs mit einem daraus erwachsenen humanitären Problem durchaus von gegenwärtiger Relevanz. Das Thema der Arbeit ist auch aktuell vor dem Hintergrund des wissenschaftlichen Desiderats, ein möglichst umfassendes historisches Bild von diesem Krieg zu gewinnen.

Der Aufbau der Arbeit orientiert sich an den aufeinanderfolgenden Inhabern der politischen Zentralgewalt in der Ukraine während des Krieges, also den Regierungen des Russländischen Reiches, der Ukrainischen Zentralen Rada, der Ukrainischen Volksrepublik sowie des Ukrainischen Hetmanats unter Pavel Skoropadskyj. Sie waren allesamt gezwungen, in ihrer Politik dem Flüchtlingsproblem erhebliche Aufmerksamkeit zu schenken. Dabei wurde aber, unabhängig von der gerade herrschenden Zentralgewalt, die eigentliche Hilfeleistung für die Flüchtlinge von den Organen der lokalen Selbstverwaltung und den gesellschaftlichen Gruppen, die sich auf dem Gebiet der Wohltätigkeit engagierten, geleistet. Der territoriale Rahmen der Forschungsarbeit schließt das gesamte Gebiet der Ukraine ein, während der chronologische die ganze Kriegszeit inklusive der Revolutionsereignisse umfasst, was es der Autorin erlaubte, die Politik der verschiedenen regierenden Gruppierungen auf dem Gebiet der Flüchtlingshilfe in ihrer Entwicklung nachzuzeichnen.

Eine Stärke des Einführungsteils der Monographie ist die klassifizierende Analyse der Forschungsliteratur und der Quellen. Die Arbeit entstand auf der Basis von Dokumenten aus neun ukrainischen Archiven und stützt sich somit auf ein wahrhaft riesiges Faktenmaterial. In ihr wird die gesetzliche Grundlage für den sozialen Schutz der Flüchtlinge sowohl im Russländischen Reich als auch in der Ukraine für die gesamte Zeitspanne des Ersten Weltkrieges untersucht.

Von Interesse für alle, die über den Ersten Weltkrieg forschen, sind die Ausführungen der Autorin über die Abgrenzung zwischen den für die Geschichte des Flüchtlingsproblems zentralen Begriffen wievyselency[Ausgesiedelte],graždanskie voennoplennye[zivile Kriegsgefangene],peremeščennye lica[displaced persons],deportirovannye[Deportierte],ėvakuacija[Evakuierung],deportacija[Deportation],migracija[Migration] und anderen (S. 4143). Das Flüchtlingsproblem wird von der Autorin als ein soziales Phänomen betrachtet. So wird die Zusammensetzung der über das Territorium der Ukraine verteilten Flüchtlinge nach Geschlecht und Alter analysiert und der Frage der Zugehörigkeit der Flüchtlinge zu ethnischen Gruppen (Juden, Polen, Galizier, Baltendeutsche, Letten, Esten, Litauer etc.) nachgegangen.

In dem Werk wird die räumliche Bewegung der Flüchtlinge durch das Prisma des globalen Prozesses erzwungener Migrationsströme betrachtet. Es entsteht ein umfassendes Porträt der Flüchtlinge in den Grenzen der Ukraine hinsichtlich Geschlechts, Alters, sozialer Stellung und ethnischer Zugehörigkeit. Die konsequente Konzentration auf das Territorium der Ukraine hat dazu geführt, dass der Transit von Flüchtlingen durch die Ukrainezum Beispiel auf dem Weg in den Ural oder nach Sibiriennicht als ein wesentlicher Aspekt des Gesamtphänomens wahrgenommen wird. Dabei gab es übrigens im Osten Russlands durchaus nicht nur viele ukrainische Flüchtlinge, sondern auch ukrainische Organisationen, die es als ihre Aufgabe ansahen, ihren Landsleuten Unterstützung zu gewähren.

Das erste Problem, das in der Arbeit behandelt wird, betrifft die Gewährung von Hilfe an Personen, die ihre ständigen Wohnorte in der Kampfzone verlassen hatten. Diese Hilfe wurde während der ersten Phase des Krieges durch das Innenministerium des Russländischen Reiches und durch den Besonderen Rat zur Unterbringung der Flüchtlinge organisiert. Erhebliche Aufmerksamkeit schenkt die Autorin der Tätigkeit des Kaiserlichen Wohltätigkeitskomitees der Großfürstin Tatjana Nikolaevna, der Tochter von Kaiser Nikolaus II., und der Arbeit von dessen Außenstelle in der Ukraine. Dieses Komitee wurde speziell dafür gegründet, um eine geregelte Hilfeleistung für die Flüchtlinge zu organisieren. Im Zentrum der sozialen Bemühungen aller Hilfeleistenden stand die Unterstützung für die Waisen, also Kinder, die im Gefolge von Evakuierung und Flucht ihre Eltern verloren hatten. In diesem Zusammenhang finden sich einige kategorische Bewertungen der Flüchtlingshilfeso ihre Qualifizierung alsstümperhafte Politik(S. 284), die in einem gewissen Widerspruch zu dem Bild stehen, das sich aus dem Quellenmaterial der ersten Kapitel ergibt, die den rechtlichen Fragen der Flüchtlingshilfe und der Tätigkeit der örtlichen Verwaltungsorgane während des Ersten Weltkrieges gewidmet sind. Entsprechend wird die im Herbst 1917 erfolgte Auflösung des Wohltätigkeitskomitees der Großfürstin Tatjana Nikolaevna, dessen Tätigkeit die Autorin große Bedeutung zubilligt, hier nun äußerst negativ beurteilt.

Das von der Autorin gezeichnete Bild des Flüchtlingsproblems und der Organisation der Hilfe für die Betroffenen ist vor allem durch häufigen Wandel gekennzeichnet. Wenn zum Beispiel die Unterstützung der Evakuierten während der ersten Phase des Krieges deutlich patriotische Strömungen widerspiegelte, tendierte in der revolutionären Periode und nach Beendigung der Kampfhandlungen die uneigennützige Hilfe der Ukrainer gegen Null. Die massiv anwachsende Rolle des Staates wird durch Tabellen illustriert, welche die finanzielle Ausstattung der Tatjana-Komitees und anderer Wohltätigkeitsorganisationen verdeutlichen. In der Zeit des Ukrainischen Hetmanats, als zunehmend Kriegsmüdigkeit um sich griff und die gewohnten Kompensationszahlungen für die private Beherbergung von Flüchtlingen ausblieben, begannen im Frühling 1918 die örtlichen Einwohner trotz entgegengesetzter Anstrengungen der politisch Verantwortlichen damit, die Flüchtlinge mit Gewalt aus ihren Wohnungen zu werfen (S. 375).

Ein weiterer Aspekt des Flüchtlingsproblems, dem der dritte Teil des Buches gewidmet ist, war die Rückführung der Geflohenen und Evakuierten. Die letzte Phase des Krieges, also die nachrevolutionäre Zeit, ist verhältnismäßig wenig erforscht und erfährt in der Monographie besondere Aufmerksamkeit. Die Rückführung verlangte unter den Bedingungen des Zerfalls des Reiches von den Verantwortlichen in der Ukraine bisher ungekannte diplomatische Anstrengungen, denn die Frage sollte auf der Ebene der europäischen Politik im Rahmen der Verhandlungen in Brest-Litovsk gelöst werden. So wurde die Rückführung in Zusammenarbeit mit polnischen, österreichisch-ungarischen und deutschen Stellen durchgeführt. Sie erfolgteim Unterschied zu Belarusunentgeltlich. Die Autorin analysiert sowohl die unterschiedlichen Bedingungen, unter denen die Geflohenen und Evakuierten in ihre Vorkriegswohnorte zurückkehrten, als auch die verschiedenartigen Herangehensweisen. Als Beispiel sei hier die Darstellung der spezifischen Probleme bei der Rückführung der Letten und Juden genannt. Um tragische Zwischenfälle zu vermeiden, wurden Maßnahmen gegen die Rückkehr auf eigene Initiative unternommen. Das Problem wurde dadurch verschärft, dass sich Heimkehrer beim Eintritt in die deutsche und österreichisch-ungarische Besatzungszone registrieren lassen mussten. Die Autorin beschreibt, wie an den Grenzen der Besatzungszonen für einen befristeten Zeitraum Lager eingerichtet wurden, in welchen die von der Rückführung Betroffenen vorübergehend untergebracht und sowohl mit Lebensmitteln als auch medizinisch versorgt wurden. Insgesamt zieht die Autorin hinsichtlich der Organisation derReevakuierungvon Flüchtlingen und Evakuierten von außerhalb der Ukraine in den Jahren des Ukrainischen Hetmanats unter Pavel Skoropadskyj einedurchwachseneBilanz (S. 495).

Die Rückführung von geflüchteten und evakuierten Ukrainern verliefsiehe die dem Buch beigefügten Transportgraphiken und Karten mit Desinfektionspunktenschwierig. Dies war in erster Linie mit den Wirren der Revolution und dem damit einhergehenden Massenterror verbunden (S. 410). Während die Autorin die Politik der Bolschewisten kritisiert, beurteilt sie die Tätigkeit des Flüchtlingsdepartements des Ukrainischen Hetmanats, das den Flüchtlingen und Evakuierten unabhängig von ihrer ethnischen, religiösen und sozialen Zugehörigkeit Unterstützung gewährte, positiv bzw. als effektiv (S. 430). Die Rückführung von nach Russland geflohenen und evakuierten Ukrainern zog sich über Jahre hin und wurde erst in der Mitte der zwanziger Jahre abgeschlossen.

Die Monographie ist gut lesbar geschrieben. Dazu tragen auch die beigefügten biographischen Angaben über herausragende Zemstvo-Persönlichkeiten und Mitglieder der Ukrainischen Zentralen Rada (Čelnokov, Dorošenko, Lvov und andere) sowie die bedeutenden Ausschnitte aus Quellentexten und Werken der Literatur bei. Dies macht das Buch für einen großen, der ukrainischen Sprache mächtigen Leserkreis interessant. Das Buch verfügt über 85 Anhänge. Diese enthalten Angaben über die Zahl der Flüchtlinge und Evakuierten, über deren finanzielle Unterstützung durch Zuwendungen und wohltätige Sammlungen sowie über die Stellen, an denen den Betroffenen Hilfe gewährt wurde, des weiteren Graphiken, aus denen die Organisationsstruktur der Flüchtlingshilfe hervorgeht, und schließlich Dokumente, die es ermöglichen, sich im Detail die Bedingungen vorzustellen, unter welchen die Flüchtlingshilfe in der Ukraine gewährt wurde.

Noch vor dem Erscheinen der hier rezensierten Monographie wurde ebenfalls von Ljubov M. Žvanko eine Quellensammlung zum selben Thema veröffentlicht (Ljubov M. Žvanko: Biženstvo peršoji svitovoji vijny v Ukrajini. Dokumenty i materialy [19141918 rr.]. Charkiv 2009). Zusammen stellen beide Publikationen einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des Ersten Weltkrieges dar.

Irina P. Pavlova, Krasnojarsk

Zitierweise: Irina P. Pavlova über: Ljubov M. Žvanko: Biženci peršoji svitovoji vijny. Ukrajins’kij vymir (1914–1918 rr.). Monografija. Charkiv: Apostrof, 2012. 567 S., Tab. ISBN: 978-966-2579-00-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Pavlova_Zvanko_Bizenci_Persoji_svitovoji_vijny.html (Datum des Seitenbesuchs)

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