Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 2, S. 295-298

Verfasst von: Irina P. Pavlova

 

Tatjana Mill: Zur Erziehung verurteilt. Die Entwicklung des Jugendstrafrechts im zaristischen Russland 18641917. Frankfurt a.M.: Klostermann, 2010. XI, 395 S. = Lebensalter und Recht, 3; Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 250. ISBN: 978-3-465-04100-9.

Die vorliegende Arbeit wurde 2009 im Rahmen des ProjektsLebensalter und Rechtals Dissertation am Max-Plank-Institut für europäische Rechtsgeschichte vorgelegt und ist der Geschichte des Jugendstrafrechts in Russland gewidmet; einem Thema, das trotz seiner Aktualität kaum wissenschaftlich erforscht ist. Heute wird in Russland immer häufiger der Ruf nach einem Straf- und Zwangserziehungswesen für Jugendliche laut. Die Befürworter eines eigenen Jugendstrafrechts fordern, sich neuen Ideen zu öffnen und dabei unter anderem auch auf westliche Erfahrungen zurückzugreifen, und sie richtenJugendämterein. Die Verabschiedung eines entsprechenden Föderationsgesetzes ist geplant. Auf der anderen Seite steht eine Vielzahl von Gegnern, die auf negative Erfahrungen der europäischen Staaten verweisen, in denen Jugendämter die Familienerziehung angeblich zur Gänze kontrollieren. Angesichts dieser Diskussionen ist es nun besonders nützlich, sich mit der eigenen historischen Erfahrung auseinanderzusetzen. Daher erfreut sich das Buch von Tatjana Mill, die sich mit Theorie und Praxis bei der Arbeit mit minderjährigen Straftätern im vorrevolutionären Russland befasst hat, größter Aktualität.

Der chronologische Rahmen der Monographie erstreckt sich über die Reformperiode von 1864 bis 1917, eine Zeit, in welcher im zarischen Russland spezielle gerichtliche Institutionen für die Angelegenheiten Jugendlicher eingerichtet wurden. Als Hauptquellen wurden Gesetzgebungsakte und zeitgenössische Literatur, darunter vor allem Fachzeitschriften, ausgewertet. Wie so häufig in rechtsgeschichtlichen Publikationen bleibt auch in Mills Buch die Anwendung des Rechts in der Praxis unberücksichtigt, da dies die sorgfältige Analyse konkreter Strafverfahren auf der Grundlage von Archivalien erfordert hätteeine Aufgabe, der sich die Autorin aus leicht nachvollziehbaren Gründen nicht gestellt hat.

Mill hat stattdessen vor allem Fragen der Terminologie und Historiographie untersucht und dabei die Entwicklung der Rechtswissenschaft auf dem Gebiet der Bekämpfung der Jugendkriminalität herausgearbeitet. In diesem Zusammenhang weist die Autorin auf die entscheidende Wende hin, die sich im 19. Jahrhundert in der Rechtsprechung verschiedener europäischer Staaten bei der strafrechtlichen Verfolgung von Jugendlichen kam. An die Stelle von Sanktionen trat in erster Linie die Erziehung, was der Entwicklung krimineller Karrieren vorbeugen sollte. In Russland setztewenn auch mit einiger Verspätungebenfalls eine kontroverse Diskussion über die Frage ein, ob der Bestrafung oder der Prävention von Verbrechen Vorrang eingeräumt werden sollte. Dies galt ganz besonders im Fall von Minderjährigen, denn hier spielte die in Russland tief in der römischen und byzantinischen Tradition wurzelnde patriarchale Vorstellung von der bedingungslosen Macht des Vaters eine wichtige Rolle. Diese war vor allem in der bäuerlichen Bevölkerung, die 80 Prozent der Bewohner des Landes ausmachte, aber auch in anderen Gesellschaftsschichten unangreifbar. Sie bildete zum einen die Basis für die alltägliche, häusliche Gewalt, die als Nährboden für die hohe Jugendkriminalität erkannt wurde, zum anderen stand sie der Idee einer Zwangserziehung von Minderjährigen durch den Staat mit den Mitteln der Rechtsprechung entgegen. Zur Jahrhundertwende stellte man sich in Russland erstmals die Frage, wie man die elterliche Gewalt einschränken könne, und damit stand die Idee einer staatlichen Einmischung infamiliäre Angelegenheitenim Raum. Nach Überzeugung der Autorin beruhte in Russland die ganze Idee zwangsweiser staatlicher Erziehungsmaßnahmen bei Minderjährigen auf der Rezeption westeuropäischer Erfahrungen (S. 27), wobei gerade die deutschen Lehrmeinungen auf russischen Boden übertragen worden seien. Dies zeige sich vor allem in einem vollständigen Transfer sowohl des Rechtsdenkens als auch der Rechtsnormen. Die Rezeption sei durch die Ausbildung von russischen Experten an deutschen Universitäten erfolgt, wobei einige von diesen auch Strafkolonien und Zwangserziehungsanstalten in Europa besuchten. Allerdings weist die Autorin auch darauf hin, dass russische Juristen nicht nur westliche Ideen rezipierten, sondern auch selbst neue Methoden für die Arbeit mit minderjährigen Straftätern entwickelten (S. 365). Schließlich brachte Russland mit N. Tagancev, S. Budzinskij, A. Bogdanovskij, A. Kistjakovskij und anderen auch eigene Theoretiker auf dem Gebiet des Jugendstrafrechts hervor. Dementsprechend ist die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Zeit, in der es in der Kriminalistik zu einem regen internationalen Austausch mit umfangreicher Beteiligung russischer Juristen kamso auf Kongressen, von denen manche wie der Gefängniskongress in St. Petersburg im Jahr 1890 sogar in Russland stattfanden, im Rahmen von grenzübergreifenden Fachorganisationen wie beispielsweise der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung und schließlich im Zuge von internationalen Debatten, die in Periodika ausgetragen wurden. In diesem Zusammenhang betont die Autorin den Anstieg der Mitgliederzahl des russischen Ablegers der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung; sie weist auf die Bedeutung dieser Entwicklung hin und thematisiert die Probleme ihrer innerer Zersplitterung (S. 119).

In einem weiteren Schritt arbeitet die Autorin verschiedene Etappen der theoretischen und praktischen Lösung des Problems der Jugendkriminalität im Russland der späten Zarenzeit heraus. Zum einen geht Mill der Frage nach, wie sich das Verständnis von Alter im russischen Recht im Laufe der Zeit veränderte. Hier kann im juristischen Sinne ein Wandel des Verständnisses von Jugend vom rein biologischen Phänomen über das Aufkommen der Kategorie derZurechnungsfähigkeitbis hin zur Einteilung des Lebens­abschnittsJugendin verschiedene Phasen beobachtet werden. Besondere Relevanz gewann diese Frage gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als in Russland die Kriminalität in allen Altersgruppen, vor allem aber unter Jugendlichen, sprunghaft anstieg, wobei die von der Autorin analysierten Faktoren Wohnungsnot, Verwahrlosung und Armutallesamt Folgen der damaligen massiven Urbanisierung und Industrialisierungdiese Zunahme stark begünstigten. Zum anderen untersucht die Autorin die einschlägigen Gesetze daraufhin, wie sich in ihnen der Entstehungsprozess der Jugendgerichtsbarkeit widerspiegelt. Am Anfang des Straf- und Zwangserziehungswesens für Jugendliche stand die Justizreform von 1864. Bis dahin waren Minderjährige gemeinsam mit volljährigen Straftätern in denselben Einrichtungen untergebracht worden. Gemäß dem Statut über die von Friedensrichtern verhängten Strafen wurden nun Minderjährige erstmals nicht mehr zu Kerkerhaft verurteilt, sondern in Besserungsanstalten überführt. In diesem Kontext weist die Autorin auf einen substantiellen Unterschied zwischen Russland und den westlichen Ländern bei der Entstehung des Zwangserziehungssystems hin: In Russland entstand es als Ersatz für die Kerkerhaft, in den westlichen Ländern als Bestandteil eines Systems zur Versorgung obdachloser Kinder und Jugendlicher. Erst danach wurden hier spezielle Anstalten auch für jugendliche Straftäter eingerichtet. Unterschiede gab es auch im Bereich der Finanzierung, da es in Russland Steuervorteile für die Unterstützung derartiger Anstalten gab. Dies hatte zur Folge, dass die Ausgaben zum Erhalt spezieller Einrichtungen für Minderjährige zu 90 Prozent von privaten und gesellschaftlichen Organisationen getragen wurden. Ab 1909 erschwerte der Staat zwar die Finanzierung in diesem Bereich, staatliche Einrichtungen entstanden deshalb jedoch nicht. Genau umgekehrt stellte sich in Russland und den westlichen Ländern die Rollenverteilung zwischen Staat und Gesellschaft bei der Erziehung vonschwierigen Jugendlicheninnerhalb des Strafvollzugswesens dar. So zeigt Mill, dass in Deutschland, Großbritannien, Frankreich und den USA zahlreiche private Initiativen entstanden, umschwierigenHeranwachsenden zu helfen, während in Russland die Initiativen zur Lösung dieses Problems vom Staat ausgingen (S. 200).

Breiten Raum hat die Autorin in ihrer Monographie den speziellen Strafgerichten für Minderjährige gewidmet, die im Zuge der Strafprozessreform von 1897 als eine eigene Gruppe definiert wurden. Das erste auf Jugendliche spezialisierte Gericht wurde 1910 in St. Petersburg eingerichtet. Derartige spezielle Strafgerichte für Jugendlichebis 1914 gab es sie in über zehn Städtenentstanden gleichzeitig mit jenen in Westeuropa, allerdings in geringerer Zahl. In diesem Zusammenhang geht Mill auch auf die Betreuer der Jugendlichen vor Gericht ein, Erwachsene, denen im Strafgerichtswesen für Jugendliche eine wichtige pädagogische Funktion zukam. Mill analysiert die Personengruppe der Betreuer auf der Grundlage der von ihr ausgewerteten Daten über Ausbildung, Alter und Geschlecht. Im Großen und Ganzen wird die vorrevolutionäre Erfahrung mit den Strafgerichten für Minderjährige von der Autorin positiv bewertet. Das Fehlen formaler Prozeduren war charakteristisch. Im Zentrum der Gerichtsverfahren stand das Gespräch des Richters mit dem Jugendlichen in Anwesenheit des Betreuers.

Einen Kritikpunkt an Arbeiten zur Justizgeschichte (nicht nur) in Russland ist die weitgehende Beschränkung der Forschung auf das gesetzte Recht und die Ausklammerung des ungeschriebenen Gewohnheitsrechts des einfachen Volkes. Dies trifft leider auch auf die hier rezensierte Arbeit zu. Für das hier behandelte Thema bedeutet das beispielsweise, dass eine wesentliche Form aktiver Hilfe der Bevölkerung für Strafgefangene, nämlich die in der bäuerlich geprägten Gesellschaft Russlands wichtige Tradition, anlässlich der Feiertage vor allem inhaftierte Jugendlichen durch Almosen und die Gefängnisse durch Geschenke zu unterstützen, unbeachtet bleibt. Ganze Berge von Lebensmitteln und Süßigkeiten wurden den inhaftierten Kindern zu Ostern und zu Weihnachten von der einfachen Bevölkerung gebracht, getreu dem Sprichwort:Vor dem Bettelstab und dem Gefängnis ist keiner gefeit.Hier bedarf es wohl einer weiteren Untersuchung des ungeschriebenen Gewohnheitsrechts, der Rechtspraxis des einfachen Volkes, um das Bild zu komplettieren.

Grosso modo handelt es sich bei Mills Monographie um eine gelungene Arbeit, deren Veröffentlichung in russischer Sprache durchaus wünschenswert wäre. Eine solche Übersetzung würde eine in Russland bestehende Lücke füllen und das Niveau der Diskussionsbeiträge der beteiligten russischen Wissenschaftler heben.

Irina P. Pavlova, Krasnojarsk

Zitierweise: Irina P. Pavlova über: Tatjana Mill: Zur Erziehung verurteilt. Die Entwicklung des Jugendstrafrechts im zaristischen Russland 1864–1917. Frankfurt a.M.: Klostermann, 2010. XI, 395 S. = Lebensalter und Recht, 3; Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 250. ISBN: 978-3-465-04100-9, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Pavlova_Mill_Zur_Erziehung_verurteilt.html (Datum des Seitenbesuchs)

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