Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 483-485

Verfasst von: Irina P. Pavlova

 

Eric Lohr: Russian Citizenship. From Empire to Soviet Union. Cambridge, MA, London: Harvard University Press, 2012. 278 S., 9 Tab. ISBN: 978-0-674-06634-2.

Auf den ersten Blick ist Staatsbürgerschaft wohl ein trockenes juristisches Thema, aber Eric Lohrs Buch räumt mit diesem Vorurteil auf. Dies gilt um so mehr, als dem Thema zu Sowjetzeiten und in der Literatur insgesamt recht wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde und der im Buchtitel verwendete Begriff bzw. die verwendete Wortverbindung „russische Staatsbürgerschaft“ (Russian citizenship) im Kontext des Russischen Reiches als Oxymoron wahrgenommen wird, wie der Autor selbst feststellt. Der Autor unternimmt den Versuch, die allgemeine „russische Tradition der Staatsbürgerschaft“ zu definieren und zugleich die Ausnahmen als Reflexion der realen Praxis zu untersuchen. Für die Studie wurden die Migration und Immigration von Gruppen und Individuen sowie die Einbürgerung und die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft untersucht. Die Studie stellt eine interessante Mischung aus außenpolitischer und innenpolitischer Analyse des russischen Staates dar; zweifellos ein sehr aktuelles Thema. Behandelt wird der Zeitraum von den 1860er Jahren, der Zeit der Reformen Aleksanders II., als eine Ära der relativen Offenheit des Landes als Teil der Modernisierungsstrategie begann und sich für Ausländer Geschäftsverhältnisse und Besteuerung verbesserten, bis zu Beginn der 1930er Jahre, als Stalin einen autokratischen Modernisierungskurs wählte und die UdSSR sich der übrigen Welt verschloss. Die ein gutes halbes Jahrhundert umfassende Periode war eine Ära intensiver Wechselwirkung mit dem Ausland. Gleichzeitig wird der chronologische Rahmen im Buch noch weiter gespannt, da sich das erste Kapitel mit den Grenzen des Reiches und der Migration vor 1860 befasst und am Ende ein Ausblick auf die Probleme der Staatsbürgerschaft in der späten Sowjetzeit, während der Perestroika und um die Jahrhundertwende gegeben wird. Der Autor schließt das Buch mit einer Übersicht zur aktuellen Politik. Aktuell ist der Abschnitt über die Bestrebungen im Jahre 2008, den Bewohnern der Krim das russische Bürgerrecht zu verleihen.

Die Monografie basiert auf einer Fülle von Archivmaterial aus historischen Staatsarchiven, auf einem breit gefächerten Kreis einschlägiger Literatur zur Rechtsgeschichte, zu Minderheitenfragen, Migrationsprozessen usw. Das Buch bietet eine Zusammenfassung themenbezogener Beiträge des Autors und ist die vollständigste Untersuchung zu Fragen der Geschichte der russischen Staatsbürgerschaft. Interessant sind u. a. die in der Publikation enthaltenen Tabellen mit konkreten Zahlen zu Migrations- und Immigrationsströmen und die Statistiken zu Grenzübertritten.

Im Buch wird die Frage nach dem Verhältnis der Begriffe „Staatsangehörigkeit“ und „Staatsbürgerschaft“ theoretisch untersucht. Positiv ist die Tatsache zu bewerten, dass analoge Begriffe aus anderen Sprachen einer vergleichenden Analyse unterzogen werden. In den meisten europäischen Sprachen werden die Begriffe graždanstvo (citizenship, Staatsbürgerschaft) und poddanstvo (subjecthood, Untertanenschaft oder auch Staatsangehörigkeit) praktisch synonym behandelt. In Russland wurde Begrifflichkeit allerdings durch die gesellschaftliche Wahrnehmung von „Staatsangehörigkeit – Untertanenschaft“ verstärkt. In der imperialen Periode wurde der Begriff „Staatsbürgerschaft“, wie Lohr vermerkt, im oppositionellen Sinne verwendet. Er verkörperte das ideale Modell der Wechselbeziehungen von Staat und Mensch und spiegelte die Ambitionen der Liberalen wider, Staatsbürgerschaft als „das Sollen“ und Untertanenschaft als „das Sein“ zu betrachten. Diese These des Autors bedarf jedoch einer Einschränkung, da die Verwendung von graždanstvo (Staatsbürgerschaft) in Russland in Zusammenhang mit dem Begriff graždanin (Bürger) steht, den auch Autoren gebrauchten, die nicht unbedingt eine liberale Richtung vertraten. Ein typisches Beispiel dafür ist die eine Zeit lang von F. M. Dostoevskij herausgegebene Zeitschrift Graždanin (Der Bürger) mit einer konservativen, aristokratischen Ausrichtung.

Die Vorstellung der russischen Zaren, angesichts des riesigen Territoriums die Bevölkerungszahl vergrößern zu müssen, kam nicht von ungefähr. Da die untersuchte Periode eine Zeit der Grenzerweiterungen war, hat der Autor offensichtlich dem Problem der annektierten Territorien und der Einbürgerung ihrer Bewohner „nach dem Prinzip des Bodens“ besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dargestellt wird aber auch die Gewinnung ausländischer Fachkräfte für das [Russische] Reich. Der Autor arbeitet heraus, dass die russischen Regierung nach der Devise „gewinnen und festhalten“ verfuhr, und sieht diese Politik als nicht besonders erfolgreich an (S. 82).

Die untersuchte Periode war gekennzeichnet durch eine Bifurkation bei der Unifizierung von Normen: Es wurde eine klare Trennlinie zwischen Bürgern und Ausländern („fremden Bürgern“) gezogen. Interessant ist die Analyse der Staatsbürgerschaftsfrage an der deutsch-russischen Grenze. Als Bismarck in den 1880er Jahren über 30.000 russische Staatsangehörige aus Deutschland ausweisen ließ, war dies der Beginn einer politischen Regulierung des „guest worker system“: Das Visumsystem entsteht, Saisonarbeit und Ehen mit Ausländern werden geregelt usw. Diese Politik an der Westgrenze steht, wie der Autor zeigt, im Kontrast zum Umgang mit chinesischen Migranten im Fernen Osten. Sie war ein Spiegelbild der Politik Deutschlands an der Grenze zu Russland: ein Lavieren zwischen dem Verfolgen ethnisch-nationaler Ziele und der Sicherung des Bedarfs an billigen Arbeitskräften.

Ein zweiter außenpolitischer Aspekt der Staatsbürgerschaft sind die Auswanderung und die Denaturalisierung vor dem Hintergrund, dass durch die Befreiung der Bauern und die Entwicklung eines preiswerten Zugverkehrs die Ausreise ganz neue Größenordnungen annahm (S. 113). Eine Tradition im Strafrecht Russlands, die Bestrafung für „eigenmächtiges Verlassen des Vaterlandes“, wird ausgehöhlt. Der Autor untersucht die  Gesetzesänderungen und die unterschiedlichen Meinungen zur Reisefreiheit. Hervorgehoben wird der praktische Aspekt der Auswanderung von Gruppen nationaler Minderheiten wie Juden, Muslimen, Deutschen oder Amerikanern in verschiedenen Kombinationen von Rechten und Umständen. Juden beispielsweise war Einwanderung und Einbürgerung versagt, eine Ausreise war leichter möglich. Muslimen war die Rückkehr nach einer Auswanderung verwehrt. Für Deutsche und Polen war es laut Statistik fünfzigmal einfacher auszuwandern als für Russen, für Juden sogar 184 Mal (S. 179). Wie der Autor zu diesen Zahlen kommt, bleibt allerdings unklar. Das alte Regime nutzte die Staatsbürgerschaftspolitik, um die ethnische Dominanz der überwiegend slawischen Bevölkerung aufrechtzuerhalten.

Ein besonderes Kapitel ist dem Ersten Weltkrieg und der Revolution gewidmet. Unter den Bedingungen des Krieges verstärkte sich die Kluft zwischen Bürgern und Ausländern. Zur Zeit der Februarrevolution 1917 wurde der Übergang von der offiziellen Anrede „Untertan“ zur Anrede „Bürger“ vollzogen, die Aufhebung aller Beschränkungen für Minderheiten und religiöse Gruppen verkündet und Gesetze für deutsche Kolonisten, Juden u. a. verabschiedet. Besondere Rechtsverhältnisse wurden für Kriegsgefangene aus Feindstaaten geschaffen, wobei Vertreter slawischer Völker, wie Tschechen und Slowaken, eine Sonderstellung erhielten (S. 131).

In der sowjetischen Periode war die Politik „gewinnen und festhalten“ klassenmäßig ausgerichtet. Ein Beispiel dafür sind die „politisch Entrechteten“ (lišency), Personen, denen die bürgerlichen Rechte entzogen worden waren und die der Autor als „ihrer Staatsbürgerschaft Beraubte“ ansieht. Als Ergebnis dieser Periode gab es für Sowjetbürger Einschränkungen im Recht auf Auswanderung und der Wechsel einer Staatsbürgerschaft war außerordentlich erschwert (S. 175). Ausländer wurden auf Industriebaustellen geholt, aber viele konnten nicht mehr in ihre Heimatländer zurückkehren. Ende der 1930er Jahre (während Stalins „Großem Umbruch“, „Great Break“) tauchte die monolithische „sowjetische Staatsbürgerschaft“ auf. Die Abgeschlossenheit lässt sich mit Zahlen belegen. Gab es am Vorabend des Ersten Weltkrieges noch jährlich ca. zehn Millionen Grenzübertritte, waren es in den 1930er Jahren nur noch einige Tausend. Die Kontrolle nahm im untersuchten Zeitraum stetig zu, Ausgereiste wurden verdammt, und eine Ausreise galt als Verrat an der Heimat.

Dass der Autor den Schwerpunkt auf den außenpolitischen Aspekt legt, ist klar. Hingegen werden die Verantwortung des Staates gegenüber seinen Bürgern und die Frage, was Staatsbürgerschaft von Staatsangehörigkeit unterscheidet, nicht weiter untersucht. In der imperialen Periode Russlands gab es diese Verantwortung praktisch nicht. Es wäre schon wichtig gewesen darauf hinzuweisen, dass der Staat in anderen europäischen Ländern schon Ende des 19. Jahrhunderts die Verantwortung übernahm, soziale Hilfe für seine Bürger zu organisieren. In Russland entwickelten sich ein Gesetzeswerk in diesem Bereich wie auch eine an paternalistischen Idealen orientierte Praxis, namentlich die kaiserlichen Komitees, erst mit reichlicher Verzögerung. Daher blieben die Untertanen auch Untertanen.

Der Autor kommt zu dem folgerichtigen Schluss, dass die Staatsbürgerschaftspolitik eine unmittelbare Folge wirtschaftlicher und politischer Grundsatzentscheidungen ist. Auch heute steht die Russische Föderation vor der Wahl, entweder den Weg der Rechtsentwicklung der 1860er Jahre oder einen autokratischen Weg zu gehen.

Alles in allem zeichnet sich die Monografie durch einen sorgfältig ausgearbeiteten und mit pointierten Auffassungen des Autors angereicherten wissenschaftlichen Text aus, der sich zudem gut lesen lässt.

Irina P. Pavlova, Krasnojarsk

Zitierweise: Irina P. Pavlova über: Eric Lohr: Russian Citizenship. From Empire to Soviet Union. Cambridge, MA, London: Harvard University Press, 2012. 278 S., 9 Tab. ISBN: 978-0-674-06634-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Pavlova_Lohr_Russian_Citizenship.html (Datum des Seitenbesuchs)

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