Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 3, S. 425-428

Verfasst von: Irina P. Pavlova

 

Hubertus F. Jahn: Armes Russland: Bettler und Notleidende in der russischen Geschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Paderborn [usw.]: Ferdinand Schöningh, 2010. 250 S., 8 Abb., Tab. ISBN: 978-3-506-76929-9.

Russland ist nach landläufiger Meinung ein reiches Land armer Leute. Und tatsächlich stellten „Arme Leute“ (Dostoevskij) in allen Perioden der Geschichte Russlands die absolute Mehrheit seiner Bevölkerung. Hubertus Jahn hat sich nun zum Ziel gesetzt, das Problem der Armut in Russland „von den Anfängen“ bis in die Gegenwart zu untersuchen. Hierbei hat er als eigentlichen Gegenstand für seine Untersuchung die Allerärmsten, also die Bettler und Notleidenden, ausgewählt. Damit hat er sich eine sehr anspruchsvolle Aufgabe gestellt und diese insgesamt mit Erfolg gelöst. Angesichts der Breite des Themas kann nicht erwartet werden, dass alle Phasen der Geschichte Russlands das gleiche Maß an Durchdringung erfahren. So differieren in der Monographie Tiefe und Qualität der Darstellung des Themas in den verschiedenen Epochen. Entsprechend der solideren Quellengrundlage und dem größeren Ausmaß der Verbreitung des Bettelwesens ist der deutlich überwiegende Teil der Arbeit nur zwei Jahrhunderten, nämlich dem Zeitraum vom Beginn des 18. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, gewidmet. In fünf von insgesamt sieben Kapiteln erstreckt sich die Darstellung von Peter I., dem Großen, der den Anstoß dazu gab, das Bettelwesen in Russland vom Standpunkt westlicher Rechtsvorstellungen zu betrachten, über Nikolaj I., während dessen Herrschaft das Bettelwesen als Phänomen neu begriffen und dementsprechend 1837 das „Komitee zur Sortierung und Aufsicht von Bettlern in St. Petersburg“ (Komitet po razboru i prizreniju niščich v Sankt-Peterburge) gegründet wurde, bis zur Thematisierung des Bettelwesens durch Journalisten und Schriftsteller, zur statistischen Erfassung der Bettler sowie zur Betrachtung des Themas aus ethnographischer Perspektive als Teil der Lebensrealität des „einfachen Volkes“. Das zentrale Erkenntnisinteresse des Autors gilt hierbei jeweils dem Spannungsverhältnis zwischen Staat und Bettlern, wobei der räumliche Schwerpunkt der Arbeit auf St. Petersburg bzw. Petrograd und Leningrad liegt.

Es ist durchaus positiv zu bewerten, dass der Autor seine Darstellung bewusst bis in die Gegenwart ausgedehnt hat, wobei er die aktuelle, postsowjetische Situation als „Renaissance des Bettelwesens“ charakterisiert. Er gibt damit dem Leser die Möglichkeit, das Problem umfassender zu verstehen und es nicht nur als historisches, sondern auch als ernstes soziales Phänomen der Gegenwart zu begreifen. Die aktuellen Erscheinungen der Obdachlosigkeit, Landstreicherei und des Bettelwesens müssen vor dem historischen Hintergrund gesehen werden. So entdeckt der Autor ähnliche Züge des Bettelwesens in heutiger Zeit und am Ende des 19. Jahrhunderts (S. 144).

Eine bemerkenswerte Besonderheit dieser Arbeit stellt die Zusammensetzung des Spektrums von Quellen unterschiedlichster Art, die der Autor nach eigener Aussage teilweise ganz zufällig entdeckt hat. Neben archivalischen Dokumenten wurden für die Darstellung unter anderem mittelalterliche Chroniken, Heiligenviten, Bylinen, Rechtsquellen, Reiseberichte, Werke der schöngeistigen Literatur, Aufzeichnungen von Ethnographen, Ikonen und andere Bildquellen, Interviews mit Bettlern und sogar auch Beobachtungen des Autors selbst herangezogen. Es stimmt, „die Armen haben keine eigene Stimme“ (S. 13), aber während des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde den Bettlern und dem Problem des Pauperismus im Kreise derer, die ihre Gedanken schriftlich niederlegten, so viel Aufmerksamkeit zuteil, dass die zeitgenössische Literatur, die dem Autor für seine Arbeit zur Verfügung stand und von ihm in seiner Monographie auch ausgewertet wurde, überaus umfangreich ist. In diesem Zusammenhang verdienen die Ausführungen des Autors über die Frage der Repräsentativität und Aussagekraft der historischen Quellen, die sich im Kapitel „Realitäten des Bettelns“ finden, besonderes Interesse. Hier begründet der Autor auch, warum für die angemessene Darstellung einer gesellschaftlichen Erscheinung wie des Bettelwesens die Analyse von Schicksalen einzelner Bettler und Notleidender genauso wichtig ist wie die Berücksichtigung von „penibel erhobenen Daten“ (S. 94), vor allem da die Aussagekraft unvollständiger statistischer Daten begrenzt ist.

In Kenntnis der Literatur über Armut und Bettelwesen in Europa ist es dem Autor gelungen, die Besonderheit dieser Phänomene in Russland zu beschreiben, wo es keine klare Abgrenzung zwischen den beiden BegriffenArmerundBettlergab. In diesem Zusammenhang ist an die folgende Definition in Marmeladovs berühmtem Monolog aus DostoevskijsVerbrechen und Strafezu erinnern, die von den Bemühungen der russischen Intelligenz des späten 19. Jahrhunderts um eben eine solche begriffliche Abgrenzung zeugt:Armut als solche ist kein Laster, das steht fest. [] Doch Bettelei [] ist durchaus ein Laster. In der Armut als solcher bewahren Sie noch den Adel der angeborenen Gefühle, in der Bettelei hingegen niemals.

Grundlage für die Verbreitung des Bettelwesens in Russland waren nach Auffassung des Autors die geographische Ausdehnung des Landes, seine agrarische Struktur, die jahrhundertelang wirksame Institution der Leibeigenschaft, Rituale und Traditionen der orthodoxen Kirche, die das Leben in der Dorfgemeinde prägenden religiösen und kulturellen Traditionen, das Beharrungsvermögen der Verwaltung sowie die beschleunigte Industrialisierung und Urbanisierung. Nach Ansicht des Autors lag Russland bei manchen Vorstellungen über Bettler und den Kampf gegen das Bettelwesen zeitweise um zwei Jahrhunderte hinter dem westlichen Europa zurück (S. 32). Den polizeilichen Maßnahmen zur Unterbindung des Bettelwesens wurde in Russland seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts eine größere Bedeutung beigemessen als der Unterstützung für die Notleidenden. Gegen Ende jenes Jahrhunderts begann die Verwaltung in Russland, nach westlichem Vorbild zwischen „echten Bettlern“ und „falschen Bettlern“ zu unterscheiden – eine Entwicklung, die mit einem schrittweisen Wandel des traditionellen Bildes vom Bettler als „Mensch Gottes“ („čelovek Božij“) zusammenfiel. Jedoch konnten weder die grundlegenden Ideen von persönlicher Autonomie und individueller Eigenverantwortung, noch die rationalen Vorstellungen von der Nützlichkeit des Menschen und vom Bettelwesen als gesellschaftlichem Problem, die sich im westlichen Europa entwickelt und durchgesetzt hatten, ins Bewusstsein der breiten Bevölkerung Russlands vordringen. Im Unterschied zum westlichen Europa, wo der Kampf gegen das Bettelwesen ursprünglich vor allem von den Stadtgemeinden geführt wurde, erfolgte in Russland die Initiative zu diesem Kampf von „oben“, von der Machtzentrale. Die wiederholten gesetzlichen Verbote belegen dem berechtigten Urteil Hubertus Jahns zufolge deren Unwirksamkeit und den Fortbestand des Problems, zum einen infolge mangelnder Hilfe für die ärmsten Teile der Bevölkerung und zum anderen, weil es sich bei den Bettelnden zu einem erheblichen Teil um „Berufsbettler“ handelte. Die Zielsetzung der gesetzlichen Maßnahmen zum Verbot des Bettelwesens war illusorisch angesichts des krassen Ungleichgewichts zwischen den angedrohten Strafen einerseits und den angebotenen Hilfen andererseits. Darüber hinaus spiegelt die Wirkungslosigkeit der staatlichen Bettelverbote die traditionell negative Haltung gegenüber rechtlichen Regelungen in Russland insgesamt, wurden Gesetze doch grundsätzlich als etwas Fremdes, von oben aufgezwungenes wahrgenommen. Außerdem weist der Autor zurecht darauf hin, dass die Grenze zwischen „Bettler“ und „Nicht-Bettler“ keineswegs eindeutig war, was sich in den vielfach belegten Schwierigkeiten der Polizei, zwischen Bettlern und Soldaten zu unterscheiden, spiegelt.

Der Verfasser betont die außerordentliche Bedeutung religiöser, und damit in Russland vor allem christlich-orthodoxer, Denk- und Verhaltensnormen für das von ihm behandelte Thema. So sei die Zahl der Bettler in überwiegend von Lutheranern bewohnten Orten, in denen etwa 200 Mal so viel für Wohltätigkeit ausgegeben wurde als im Durchschnitt des jeweiligen Kreises, deutlich geringer gewesen, und in der tatarischen Bevölkerung des Russländischen Reichs habe es überhaupt keine Bettler gegeben (S. 121).

Im hier besprochenen Buch wird auch die Innenwelt der Bettler sozialpsychologisch beleuchtet, indem verschiedene Typen wie beispielsweise „Mutter mit Kind“, „Betbruder“, „Scheinheiliger“, „Abgebrannter“ und „Barfüßler“ vorgestellt werden. Auch werden Tricks und Kniffe der Bettler beschrieben, mit deren Hilfe sie andere Menschen auf sich aufmerksam machten und zur Überlassung milder Gaben bewegten. Der Autor thematisiert auch das hierarchische System unter den Bettlern, das sich bei der Verteilung der lukrativsten Standorte auswirkte.

Für Russland ist bis zum heutigen Tag die parallele Existenz zweier Welten charakteristisch, nämlich der „Welt der beiden Hauptstädte“ und der „Welt des übrigen Russlands“. Das Leben in der ersten dieser beiden ließ sich noch mehr oder weniger mit polizeilichen Mitteln regeln, in der anderen folgte das Leben den Traditionen. Dementsprechend wurden Bettler zur Lösung des Problems in den beiden Hauptstädten einfach in „die Heimat“ geschickt – in der Sowjetperiode waren dies die allseits bekannten „101 Kilometer“ jenseits der jeweiligen Stadtgrenze. Weil sich Hubertus Jahn in seinem Buch im wesentlichen auf Quellenmaterial aus den Hauptstädten, allen voran St. Petersburg beziehungsweise Petrograd und Leningrad stützt, ist das Thema wissenschaftlich noch keineswegs ausgeschöpft. So steht beispielsweise die genauere Erforschung der Besonderheiten der einzelnen Regionen, deren diesbezügliche Verschiedenartigkeit der Autor unter Hinweis auf Berichte der örtlichen Verwaltungen durchaus erwähnt (S. 125), noch aus. In Sibirien zum Beispiel, wohin – wie der Autor zurecht bemerkt – viele Bettler zwangsverschickt wurden, unterblieb deren Registrierung. Sie reihten sich vermutlich ein in die große Teil der Verbannten, die in Sibirien „auf der Flucht“ waren und vom „Almosensammeln“ lebten.

Im Schlusskapitel des Buches analysiert Hubertus Jahn die tragischen menschlichen Folgen der Revolutionen und Kriege im Russland des 20. Jahrhunderts, die zu einem massiven Anstieg der Zahl von Bettlern und Notleidenden führten. Als Quellenbasis dienten ihm Aufzeichnungen, Erinnerungen und literarische Texte. In diesem Kapitel widerlegt der Autor die Behauptung, in sowjetischer Zeit habe es keine Bettler gegeben. Immer wieder wurden Menschen in erheblichem Umfang durch den wiederholten massiven Mangel an Lebensmitteln zum Betteln genötigt, und zwar sogar noch in der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als eine schwere Hungersnot herrschte und zusätzlich noch Abertausende von arbeitsunfähigen Kriegsinvaliden in weitgehender Ermangelung staatlicher Unterstützung um ihr Überleben kämpfen mussten. Für die Komplettierung des Bildes wäre es wünschenswert gewesen, wenn auch auf die gesetzlichen Maßnahmen des Sowjetstaates im Kampf gegen das professionelle Bettelwesen eingegangen worden wäre, dessen Protagonisten nun mit verallgemeinernden, eindeutig pejorativen Begriffen wie „Parasiten“, „asoziale Elemente“ und dergleichen bezeichnet wurden. Die Periode von Glasnost’ und Perestrojka hat der Autor ebenso wie die darauf folgende postsowjetische Zeit auf der Grundlage einer nur sehr begrenzten Anzahl von Quellen bearbeitet. Leider fehlen hier sowohl statistische Angaben als auch eine historisch-soziologische Analyse. Ebenfalls wünschenswert wäre eine intensivere Erforschung der sozialpsychologischen Ursachen für das Bettelwesen in den genannten Zeiträumen gewesen.

Besonderes Interesse verdienen die Tabellen in Hubertus Jahns Buch, welche auf den vomBettlerkomiteegesammelten Daten basieren und sowohl die Gesamtzahl der Bettler in St. Petersburg in der 2. Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts als auch deren Verteilung auf die einzelnen Rayons enthalten. Eine der aus diesem Zahlenmaterial zu ziehenden Schlussfolgerungen lautet, dass das Niveau der Schreib- und Lesefähigkeit der Bettler in St. Petersburg erheblich höher war als im Landesdurchschnitt.

Insgesamt füllt Hubertus Jahns Monographie eine historiographische Lücke, die besonders vor dem Hintergrund der historischen Realitäten Russlands verwunderten musste, waren doch gerade hier Bettler und Notleidende allen, Zeitgenossen wie Historikern, sofort ins Auge springende Soziotypen.

Irina P. Pavlova, Krasnojarsk

Zitierweise: Irina P. Pavlova über: Hubertus F. Jahn: Armes Russland: Bettler und Notleidende in der russischen Geschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Paderborn [usw.]: Ferdinand Schöningh, 2010. 250 S., 8 Abb., Tab. ISBN: 978-3-506-76929-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Pavlova_Jahn_Armes_Russland.html (Datum des Seitenbesuchs)

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