Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 3, S. 411-413

Verfasst von: Irina P. Pavlova

 

Blagotvoritelnost’ i miloserdie. Rubež XIX-XX vekov. Istoriko-dokumental’noe izdanie. Avtory-sostaviteli: V. N. Zanozina i E. A. Adamenko. S.-Peterburg: Liki Rossii, 2010. 247 S., zahlr. Abb. ISBN: 978-5-87417-324-1.

Blagotvoritelnost’ v istorii Rossii: Novye dokumenty i issledovanija. Otv. Red. L. A. Bulgakova. S.-Peterburg: Nestor-Istorija, 2008. 436 S. ISBN: 978-5-98187-238-9.

Diese Übersicht ist zwei in St.-Petersburg erschienenen Sammelbänden gewidmet: einem Band mit Fotos und erläuternden Texten und einer Sammlung von Dokumenten und wissenschaftlichen Aufsätzen. Der erste Sammelband – das im Jahre 2010 erschienene Buch „Blagotvoritelnost’ i miloserdie“ (2. Auflage, 1. Auflage 2000) – zeigt, dass das Interesse an der Geschichte des Wohltätigkeitswesens, das sich in den letzten Jahrzehnten in einer großen Anzahl von Veröffentlichungen niedergeschlagen hat, nicht versiegt ist. Die erste Auflage hatte noch „in St.-Petersburg“ im Titel. In dieser Auflage ist diese Einschränkung weggefallen, weil die veröffentlichten Beiträge nicht nur die Hauptstadt, sondern auch andere Orte Russlands (Moskau, die Gouvernements Novgorod und Nižnij Novgorod u.a.) behandeln, obwohl die absolute Mehrheit der Fotos sich tatsächlich auf das Wohltätigkeitswesen St. Petersburgs/Petrograds bezieht. Die Veröffentlichung beruht auf Forschungsarbeiten des Zentralen Staatlichen Archivs für Kino-, Foto- und Pho­no­dokumente in St. Petersburg. Als Initiator tritt der Nordwestliche Multiple-Sklerose-Verband auf. Das Hauptmaterial machen mehr als 300 Fotos aus. Die Erläuterungen zu den Fotos haben keinen wissenschaftlichen Charakter; tatsächlich sind es Text-Zitate aus Werken von vorrevolutionären Autoren. Die Texte spiegeln deshalb stereotype Vorstellungen von den Tugenden der Angehörigen der Zarenfamilie und der Oberschichten der Gesellschaft wider. Die beigefügte Liste vorrevolutionärer Arbeiten zu diesem Thema ist von Interesse (S. 244247).

Wohltäter unterstützten Erziehungs- und Bildungseinrichtungen für Kinder, die Versorgung Bedürftiger mit Wohnungraum und Nahrung, die Pflege von Männern und Frauen im Alter usw. Die Beiträge des abschließenden Sammelbandteiles sind der Organisation der Unterstützung für die während des ersten Weltkrieges verwundeten Soldaten und ihre Familien gewidmet. Der Band zeigt übersichtlich, dass in der Hauptstadt Dutzende von Heil- und Bildungseinrichtungen für Kinder und Erwachsene auf Kosten von Spenden und Privatinitiativen existierten. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Wohltätigkeit zu einer angesehenen Form der gesellschaftlichen Lebens und erreichte ein neues Niveau: Sammelaktionen erhielten Massencharakter, soziale Einrichtungen wurden auf der Grundlage der Erkenntnisse der Gesundheitslehre und wissenschaftlicher Prinzipien organisiert. Im Großen und Ganzen stellt dieser Sammelband nicht mehr als eine illustrierte, in mancher Beziehung ‚galamäßige‘ Quelle dar. Das kommt nicht zuletzt daher, dass die damaligen Fotos sehr häufig einen statischen, inszenierten und eingeschriebenen Charakter trugen.

Der von L. A. Bulgakova herausgegebene Sammelband ist demgegenüber von wissenschaftlichem Interesse. Er besteht aus zwei Teilen: Quellen und Beiträge. Im ersten Teil finden sich neue Dokumente über das Verhältnis zwischen der Zarenregierung und den Bünden der Landschaften und der Städte (Zemskij sojuz und Gorodskoj sojuz) in den Jahren 19151916, die aus dem Russischen Historischen Staatsarchiv (RGIA) stammen, und Quellen über die Wohltätigkeit von Frauen in der russischen Emigration. Der zweite Teil besteht aus 19 wissenschaftlichen Artikeln über verschiedene Themen der Geschichte des Wohltätigkeitswesens, wobei dieses sehr breit verstanden wird: nicht nur als unentgeltliche Tätigkeit und finanzielle Unterstützung für Hilfsbedürftige, sonder auch als Stiftertätigkeit (mecenatstvo), staatliche Sozialfürsorge, Gemeinschaftshilfe usw. Der Sammelband zeigt die nach wie vor existierende Begriffsverwirrung in diesem Forschungsfeld. Der geographische Rahmen umfasst St. Peterburg (5 Artikel), Moskau (3), den Ural und das Auslandsrussentum; der chronologische reicht vom 18. Jahrhundert bis in die 1930er Jahre.

Der Sammelband wird durch eine historiographische Übersicht von Adele Lindenmeyr, der US-amerikanischen Pionierin der russischen Wohltätigkeitsgeschichte, eröffnet. Sie zeichnet ein positives Bild von der Entwicklung der Historiographie zu diesem Thema in den letzten Jahrzehnten und meint, es sei die Zeit der sorgfältigen Analyse von Fakten und der gleichzeitigen Vertiefung von konzeptionellen Forschungen gekommen. Die Autorin vertritt die These, dass in der Geschichte der sozialen Fürsorge in Russland das binäre Konzept (patriarchalische Wohltätigkeit – staatliche Sozialfürsorge) widerlegt sei (S. 97), und hält die Erforschung der Wohltätigkeit in der Sowjetzeit für notwendig, weil sie kein absolutes Verschwinden dieser Sphäre vermutet.

Die Autorin warnt auch vor einer eindeutigen Festlegung der Begriffe „reich“ und „arm“, weil sie die Erforschung der weniger bekannten „Identität der Empfänger“, der Motive der wohltätigen sozialen Unterstützung und ihrer Repräsentation für wichtig hält. Adele Lindenmeyr kommt zu der Schlussfolgerung, dass die Erforschung der Geschichte der Wohltätigkeit besonders fruchtbar sei, weil sie unser Verständnis einer ganzen Reihe von Problemen der politischen und sozialen Beziehungen, der moralischen und gesellschaftlichen Vorbilder vertiefe (S. 105).

Des Weiteren finden sich im Sammelband Beiträge zu folgenden Themen: Fragen der christlichen Ethik (ohne Berücksichtigung der orthodoxen Tradition) (S. Isaev), Geschichte der Kinderfürsorge (T. Frumenkova über das Waisenhaus in Moskau während der Regierungszeit Katharinas der Großen, L. Rogušina über die Betreuung von Waisenkindern Anfang des 19. Jahrhunderts), Arbeitslosenhilfe in Moskau (O. Dineeva), Geschichte der akademischen Preise und Auszeichnungen, des Volksbildungswesens, des St.-Petersburger Vereins der Volksuniversitäten (I. Barykina, L. Korablina, W. Morozan), Wohltätigkeit bei den Altgläubigen in St.-Petersburg (E. Kameneva), Wohltätigkeit der Pfarreien in St.-Petersburg und im mittleren Ural (N. Družinkina, E. Apkarimova), Wohltätigkeit der Kaufleute in St. Petersburg (O. Pavlova), Wohltätigkeit im Auslandsrussentum 19201930 (K. Avetisjan), Tätigkeit ausländischer Unternehmer im Bereich der sozialen Fürsorge (M. Baryšnikov, K. Višnjakov-Višneveckij).

In der zweiten Hälfte des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts begann der internationale Erfahrungsaustausch der Wohltätigkeitsorganisation. Der Geschichte der Mitwirkung Russlands an den internationalen Kongressen für Fürsorge und Wohltätigkeit ist der Artikel von L.A. Bulgakova gewidmet. Der Autorin gelang es, nicht nur die Schwierigkeiten der Teilnahme Russlands darzustellen, sondern auch zu bestimmen, welchem Modell der sozialen Fürsorge Russland zuneigte. Sie kommt zur Schussfolgerung, dass die russischen Theoretiker und Organisatoren der Fürsorge dem deutschen Modell zwar volle Anerkennung zollten und auch versuchten, einige Elemente davon zu übernehmen, es aber organisatorisch für unerreichbar hielten. Das englische Modell hätte viel Geld von den Kommunen gefordert. Deswegen wurde die kontinentale romanische Variante als Grundlage genommen (S. 363).

Der Artikel von S.V. Kulikov über die finanzielle Seite der gesellschaftlichen Organisationen der Kriegszeit ( des Bundes der Landschaften und des Bundes der Städte) ist von großem Interesse: Er ergänzt die Materialien des ersten Sammelbandteiles, die durch denselben Autor vorbereitet wurden. Wie der Autor zeigt, wurde die Hilfe für kranke und verwundete Soldaten zur Hauptaufgabe der Bünde. Die Verwendung des Begriffes „philanthropisch“ ist in Bezug auf dieses Bündnis von Organisationen fraglich, zumal wenn der Autor selbst betont, dass die Organisationen faktisch zu staatlichen Strukturen wurden (S. 373), dass deren Finanzierung durch den Staat sogar zum Nachteil für traditionelle, erfahrene Wohltätigkeitsvereine wie das Rote Kreuz gereichte (S. 377). Die Ursache dieses Phänomens sieht der Autor im politischen „Flirt“ der Zarenregierung mit den Oppositionsgruppen.

Die bekannte Expertin für die Geschichte des Wohltätigkeitswesens G. Ul’janova hat die Probleme beim Erwerb von materiellen Ressourcen (Immobilien) durch die wichtigsten Wohltätigkeitsinstitutionen – das Amt für die Einrichtungen der Kaiserin Maria und den Kaiserlichen Menschenliebenden Verein – untersucht. Sie analysierte die Praktiken bei der Übertragung vom persönlichem Besitz von Kaufleuten und reichen Adeligen sowie die dabei entstandenen rechtlichen Probleme bei der Erbfolge; weiterhin auch die Errichtung und Nutzung eigener Immobilien durch die Wohltätigkeitsvereine sowie deren Vermietung zur Erwirtschaftung von Erträgen. Die Autorin kommt zu der Schlussfolgerung, dass die russischen Verhältnisse mit den europäischen ganz und gar vergleichbar waren (S. 261).

Der Artikel von V. Tevlina ist dem faktischen Verschwinden der Wohltätigkeit während der Organisation des Sozialhilfesystems in der Anfangsperiode der Sowjetgeschichte gewidmet (d.h. von den Demokratisierungs- und Adressensystemprinzipien zur streng normierten Verteilung von materiellen Gütern (S. 398).

Im Sammelband spiegelt sich also wider, dass die Erforschung der Geschichte der Wohltätigkeit in Russland sich tatsächlich schon in der Phase der vertieften Untersuchung einzelner Richtungen und Probleme liegt. Das Niveau der einzelnen Artikel ist ungleichmäßig. Aber die meisten stellen Ergebnisse mühevoller wissenschaftlicher Arbeit auf der Basis zeitgenössischer archivalischer Dokumente dar. Aus einem Mosaik von Details und Motiven entsteht das Gesamtbild eines wichtigen sozialen Phänomens, der aktiven philanthropischen Tätigkeit.

Irina P. Pavlova, Krasnojarsk

Zitierweise: Irina P. Pavlova über: Blagotvoritel’nost’ i miloserdie. Rubež XIX-XX vekov. Istoriko-dokumental’noe izdanie. Avtory-sostaviteli: V. N. Zanozina i E. A. Adamenko. S.-Peterburg: Liki Rossii, 2010. 247 S., zahlr. Abb. ISBN: 978-5-87417-324-1. Blagotvoritel’nost’ v istorii Rossii: Novye dokumenty i issledovanija. Otv. Red. L. A. Bulgakova. S.-Peterburg: Nestor-Istorija, 2008. 436 S. ISBN: 978-5-98187-238-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Pavlova_Blagotvoritelnost.html (Datum des Seitenbesuchs)

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