Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 2

Verfasst von: Alexandra Oberländer

 

Guido Hausmann: Mütterchen Wolga. Ein Fluss als Erinnerungsort vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Frankfurt/Main: Campus Verlag, 2009. 494 S., 11 Abb. ISBN: 978-3-593-38876-2.

Wie schreibt man die Geschichte eines Flusses? Was eint die Geschichte eines Flusses? Ist ein Fluss ähnlich wie eine Stadt ein Geschichtsraum? Oder sind die Geschichten des Flusses entlang seines Laufes durch Landschaften und Jahrhunderte nicht doch so kontingent, dass der historische Gegenstand verloren geht? Bei der Beschäftigung mit Naturräumen als geisteswissenschaftlichem Untersuchungsgegenstand stellen sich solche Fragen in schöner Regelmäßigkeit immer wieder aufs Neue. Obwohl vor allem Lucien Fevbres Geschichte des Rheins einen „Meilenstein historischer Forschung“ darstellt, bleiben Flüsse in der Regel von Historikern und Historikerinnen unbeachtet. Ein solches Schattendasein fristete auch „Mütterchen Wolga“ – immerhin die „Lebensader Russlands“ – für lange Zeit. Guido Hausmann hat nun ein Buch vorgelegt, in dem er die Geschichte der Wolga unter kulturhistorischen Fragestellungen schreiben möchte. Hausmann begreift die Wolga als „komplexen Erinnerungsort“ (S. 13), der zu einem „imperialen und nationalen Identifikationssymbol“ wurde (S. 17).

Mit seiner Beschreibung der Wolga als „komplexem Erinnerungsort“ reiht sich Guido Hausmann in die Reihe derjenigen Vertreterinnen und Vertreter der Geschichtswissenschaft ein, die vor allem seit den neunziger Jahren im Fahrwasser von Maurice Halbwachs, Jan Assmann und Aleida Assmann die Bezüge von kulturellem und/oder kollektivem Gedächtnis erforschen. Drei Themenkomplexe erstrecken sich über sechs Kapitel in Hausmanns Buch. Einerseits interessiert ihn das „Wolgawissen“ (S. 16). Die geographische Lage des Flusses war für den imperialen Herrschaftsanspruch der russischen Autokratie von Bedeutung, die spätestens seit dem 18. Jahrhundert das Reich wirtschaftlich und administrativ erschließen wollte. Einen zweiten Themenkomplex bildet die Tradierung dieses Wissens, das weit zurückliegende Wurzeln hat. So stellt Hausmann dar, dass sich das vermeintlich originär russische Bild vom „Mütterchen Wolga“ bereits bei den „türksprachigen Völkern“ (S. 37) etabliert hatte. Drittens beschäftigt sich Hausmann mit der Transformation der Wolga zu einem „komplexen Erinnerungsort“. Dieser Prozess, der vor allem seit dem 18. Jahrhundert stattgefunden haben soll, dominiert Hausmanns Erzählung über weite Strecken. Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist (wenig überraschend) die Wolgafahrt Katharinas der Großen von 1767. Neben der imperialen Bedeutung dieser Reise sind es die Wolga als orthodoxer Raum und als Ort der Freiheit, die den Fluss zu einem „komplexen Erinnerungsort“ werden lassen.

Hausmann beginnt seine größtenteils chronologische Darstellung der Wolga mit den ersten überlieferten Quellen aus der Frühen Neuzeit, als der Fluss Lebensraum unterschiedlicher Religionen und Ethnien war. Die Steppennomaden, die das südliche Wolgagebiet seit dem Mittelalter besiedelten, interpretierten die Wolga als türkischen Fluss. Als seit dem 17. Jahrhundert im oberen Flussverlauf eine ganze Reihe von Klöstern entstand, die teilweise die Wolga als Referenzrahmen in ihre Gründungsmythen aufnahmen, wurde der Fluss laut Hausmann zunehmend zu einem orthodoxen Erinnerungsort.

Die ‚orthodoxe Wolga‘ hatte ebensowenig wie die Wolga der Nomadenvölker einen eindeutigen Flussverlauf. Ursprung wie Mündung der Wolga waren lange Zeit Fragen der Glaubens und der Vorstellungskraft und keine Frage der Kartographie. Sobald jedoch das Wolgagebiet Objekt imperialer Herrschaftsansprüche wurde, stellte sich die Frage nach eindeutigem Wissen. Jenes ‚Wissen‘ über die Wolga jedoch bleibt bei Hausmann ein nahezu ausschließlich auf die Eliten und das Zentrum bezogener Begriff. Die Wolga als Lebensraum vor Ort, die man kennen und sich aneignen musste, wollte man an ihr siedeln, bleibt über weite Strecken des Buches im Dunkeln. Obwohl er viele eindrucksvolle Quellen präsentieren kann, etwa regionale Lieder über die Wolga, versäumt es Guido Hausmann, diese nach lokalen Wissensproduktionen zu befragen.

Hausmann nähert sich der Wolga fast ausschließlich vom Zentrum aus an. Das Wolgagebiet als eigenen kulturgeographischen, multiethnischen Raum beschreibt er nur kursorisch. Dies zeigt sich besonders plastisch im Kapitel über die „Nationalisierung“ des Flusses (S. 352). Vor allem seit dem 19. Jahrhundert sei die Wolga zu einem russischen Fluss geworden. Doch wie sich diese Nationalisierung vor Ort umsetzte, zeigt Hausmann nicht. Stattdessen beschränkt er sich auch hier fast ausschließlich auf Quellen von Reisenden aus den Hauptstädten des Russischen Reiches und ihre Wahrnehmung der Wolga. Wie reagierten beispielsweise die Städte entlang der Wolga auf den einsetzenden Tourismus? Wie erschloss man sich als Provinz den Fluss, der den Weg ins Zentrum öffnete? Welche Potentiale bot der Fluss und welche Gefahren? Welche Rolle spielte er etwa in urbanen Mythen? Diese Fragen sind nicht die Fragen Hausmanns. Menschen, die am Fluss wohnten, tauchen in Hausmanns Beschreibung allenfalls am Rande auf. Lediglich den Wolgatreidlern widmet er ein eigenes sozialhistorisch inspiriertes Kapitel. Hier weist Hausmann auf die unterschiedlichen geographischen Vorstellungen von Zentrum und Peripherie hin, wenn die Autokratie die Wolga stromabwärts liest, wohingegen die Treidler in ihren Liedern die Wolga stromaufwärts erinnern.

Die Leistung des Buches liegt sicherlich in der minutiösen Darstellung der Vielzahl schriftlicher Quellen. Gleichwohl befremden gelegentliche Quellenzitate, die über eine halbe Seite gehen. Da dies oftmals nur auf Russisch geschieht, sind diese Quellenausschnitte als Material für die Lehre nur bedingt geeignet. Ebenso fehlt streckenweise eine Interpretation dieser ausführlichen Zitate, die allzu häufig der bloßen Illustration dienen und für sich selbst sprechen sollen, statt analysiert zu werden. Auch die Konzentration Hausmanns auf schriftliche Quellen (jenseits der Treidlerlieder) ist auffällig. Bildliche Quellen werden nur am Rande in eine Analyse der Wolga als „komplexem Erinnerungsort“ einbezogen. Obwohl Guido Hausmann nicht zuletzt durch die Auswahl und Gewichtung seiner Quellen die Wolga als russischen Erinnerungsort beschreibt, behauptet er abschließend, dass die Vielzahl der Erinnerungen an die Wolga es nicht erlaube, die Wolga als kulturelles Gedächtnis Russlands anzusehen (S. 436). Dieses Ergebnis überrascht nicht nur, weil Hausmanns eigenes Narrativ das einer erfolgreichen Integration der Wolga in ein kulturelles Gedächtnis ist, das eben viele unterschiedliche Interpretationen zulässt. Das Ergebnis überrascht auch, da es nahezu kontrafaktisch anmutet. Schließlich war die Wolga laut Hausmann ein wichtiger Referenzrahmen für die Idee einer russischen Nation und stand für die gelungene Integration unterschiedlicher Ethnien und Religionen in ein imperiales Staatsgebilde.

Alexandra Oberländer, Bremen

Zitierweise: Alexandra Oberländer über: Guido Hausmann: Mütterchen Wolga. Ein Fluss als Erinnerungsort vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Frankfurt/Main: Campus Verlag, 2009. ISBN: 978-3-593-38876-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Oberlaender_Hausmann_Muetterchen_Wolga.html (Datum des Seitenbesuchs)

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