Stephen V. Bittner The Many Lives of Khrushchev’s Thaw: Experience and Memory in Moscow’s Arbat. Cornell University Press Ithaca, NY, London 2008. XI, 235 S., 1 Kte., Abb. ISBN: 978-0-8014-4606-1.

Die Geschichte der poststalinistischen Sowjet­union ist, verglichen mit der Geschichte des Sta­linismus, noch immer ein unbeschriebenes Blatt; Neuerscheinungen sind daher immer willkommen und, wie im vorliegenden Fall, sogar sehnsüchtig erwartet. Immerhin verspricht eine Geschichte des Moskauer Viertels Arbat in den turbulenten Zeiten der Entstalinisierung ab 1953 aufregend und erkenntnisreich zugleich zu sein. Die Assoziationen, die der Arbat hervorruft, reichen von Bulat Okudžavas Hit „Moj Arbat“ über die Bausünden der sechziger Jahre bis zu Anatolij Rybakovs Perestrojka-Roman „Die Kinder vom Arbat“ oder der zweiten McDonalds-Filiale auf russischem Boden. Der langen Assoziationskette im Falle des Arbat entsprechen die vielfältigen Themen, die Stephen V. Bittner streift. Der Mythos Arbat und seine Genese bilden die Grundlage seiner Geistesgeschichte des „Tauwetters“. Dabei bleibt Bittner der traditionellen Geistesgeschichte insofern verhaftet, als seine leitende Frage ist, wie Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler, die in Moskaus Arbat arbeiteten (nicht unbedingt lebten), das „Tauwetter“ erlebten.

Der Arbat ist die Bühne, auf der Bittner anhand verschiedener Fallbeispiele die Verwandlung des „Tauwetters“ als „gelebter Erfahrung“ (S. 13) zu einem Mythos nachvollziehen will. Dabei unterscheidet Bittner drei Phasen dieser Verwandlung. Die erste Phase behandelt er exemplarisch unter anderem an Lehrplandiskussionen in der Musikpädagogischen Hochschule. Schon vor der Geheimrede Chruščevs im Jahre 1956, erst recht jedoch danach, brachen die ideologischen Unterschiede innerhalb der Lehrerschaft auf. Die Spannungen zwischen den Lehrern und die Frage nach den Auswirkungen des „Tau­wetters“ auf die Inhalte des Unterrichts wur­den überlagert von Disziplinarproblemen mit der Studentenschaft, die im Jahre 1957 anlässlich des Internationalen Jugendfestivals in Moskau besonders virulent wurden. Die unterschiedlichen Vorstellungen über das „Tauwetter“ und seine Implikationen für die musikalische Erziehung schließlich wurden vom Zentralkomitee durch ein Dekret entschieden, welches im Mai 1958 unter Stalin geschmähte Musikstücke in den Lehrplan der Musikhochschulen aufnahm. Die erste Phase des „Tauwetters“ war laut Bittner eine Phase von „numerous thaws and freezes, of cloudy weather, and of uncertain forecasts“ (S. 4). Dass jene vieldeutige Phase ausgerechnet von einem eindeutigen Dekret der Partei beendet wurde, ist für Bittner jedoch nicht Auftakt zu einer eingehenden Analyse, sondern lediglich zur Darstellung der zweiten Phase des „Tauwetter“-Mythos. In jener zweiten Phase, in den sechziger Jahren, ha­be die intelligencija eine Nostalgie für die vermeintlich liberalen fünfziger Jahre gepflegt. Jener Liberalismus jedoch, so Bittners Behauptung, war eine Erfindung der sechziger Jahre und traf mitnichten die Stimmung, die die zweifelnden, vorsichtigen oder auch konservativen Künstler und Intellektuellen in den fünfziger Jahren selbst empfanden. Obwohl Bittner drei Phasen des „Tauwetter“-Mythos unterscheiden will, fällt doch der Unterschied zwischen der zwei­ten und der dritten Phase relativ un­ein­deu­tig aus. Weder chronologisch noch thematisch wird die von Bittner behauptete Phaseneinteilung klar. Auch die Kapitel selbst bieten nur wenig Aufschluss über die angeblichen Unterscheide in einer zweiten und dritten Phase.

Jene mangelnde Trennschärfe wird verstärkt durch drei weitere „big themes“ (S. 13), die sich durch die Kapitel des Buches ziehen. Zum einen geht es Bittner, wie bereits erwähnt, darum, das „Tauwetter“ als gelebte Erfahrung darzustellen. Hinter jener gelebten Erfahrung jedoch verbirgt sich lediglich die Erkenntnis, dass die Intellektuellen sehr viele Varianten erprobten und kannten, mit den politischen und kulturellen Veränderungen umzugehen. Ein zweites großes Thema für Bittner ergibt sich aus der Kategorie der Generation. Auch hier jedoch bleibt er unentschieden, denn er beantwortet die Frage, ob die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation im Erleben des „Tauwetters“ eine Rolle spielte oder nicht, letztendlich nur mit der Feststellung, dass dies eben von Fall zu Fall variierte. Ein drittes Thema schließlich ist die Rolle der Vergangenheit für die Zukunft von Politik und Kultur. Theater und Architektur entdeckten in den sechziger Jahren die Ästhetik der frühen Sowjetunion wieder, und die Intelligenz der siebziger Jahre sehnte sich nach dem an­geblichen Liberalismus der fünfziger Jahre. Und auch hier sind die Erkenntnisse für Historiker wenig bahnbrechend: „Consequently, collective memory had little to do with the accurate recall of events that were experienced first­hand.“ (S. 15)

Das Problem an Bittners Buch ist, dass er trotz oder vielmehr gerade wegen der Fülle der Themen und Phasen, die es ihm ermöglicht hätten, sich dem „Tau­wetter“ analytisch zu nähern, auf der bloß deskriptiven Ebene stehen bleibt. Er verliert sich in nahezu jedem seiner Kapitel in den Quellen und findet nur selten zu seinen ursprünglichen Fragen zurück. Weder wird das „Tauwetter“ als gelebte Erfahrung lebendig oder gar verstanden, noch erschließt sich der räumliche Fokus auf den Arbat. Sowohl der Mythos „Arbat“ als auch der Mythos „Tauwetter“ werden jeweils für sich in empirischem Material ertränkt und finden daher nicht zueinander. In den einzelnen Kapiteln kann man zwar viel erfahren über die Folgen des „Tauwetters“ für den Lehrplan des Gnesin-Institutes oder das Repertoire des Vachtangov-Theaters – als Buch hingegen funktioniert Bittners zunächst vielversprechende Studie über den Arbat leider nicht.

Alexandra Oberländer, Bremen

Zitierweise: Alexandra Oberländer über: Stephen V. Bittner: The Many Lives of Khrushchev’s Thaw: Experience and Memory in Moscow’s Arbat. Cornell University Press Ithaca, NY, London 2008. ISBN: 978-0-8014-4606-1, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 1, S. 111-113: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Oberlaender_Bittner_The_many_lives.html (Datum des Seitenbesuchs)