Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 117-118

Verfasst von: Andreas Oberender

 

Alexandre Sumpf: La Grande Guerre oubliée. Russie, 1914–1918. [Der vergessene große Krieg. Russland 1914–1918]. Paris: Perrin, 2014. 527 S., 23 Abb., 6 Ktn. ISBN: 978-2-262-04045-1.

Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war für das Zarenreich und seinen Nachfolgestaat, die Sowjetunion, eine Zeit der Krisen, Kriege und Katastrophen. Trotz ihres traumatischen Charakters sind einige dieser Ereignisse und Vorgänge im historischen Gedächtnis derjenigen Völker, die im Zarenreich und in der Sowjetunion lebten, kaum präsent. Das gilt vor allem für den Ersten Weltkrieg. In der kollektiven Erinnerung der Russen, Ukrainer, Weißrussen und Balten spielt er seit langem eine untergeordnete Rolle. Die Kriegserfahrungen und menschlichen Verluste der Jahre 1914 bis 1917 wurden von den Heimsuchungen der folgenden drei Jahrzehnte in den Schatten gestellt und relativiert (Bürgerkrieg, Zwangskollektivierung, Hungersnot, Großer Terror, Großer Vaterländischer Krieg). Eine umfassende Aufarbeitung und Verarbeitung des Ersten Weltkrieges fand in der Sowjetunion nicht statt, nicht in der Zwischenkriegszeit und erst recht nicht nach 1945. Von der sowjetischen Geschichtswissenschaft wurde der Krieg als bloßer Prolog der Oktoberrevolution abgetan, aber nicht als historisches Phänomen eigenen Rechts ernst genommen und erforscht. Bis heute wird ein Großteil der Forschung zur Geschichte des Ersten Weltkrieges in Osteuropa außerhalb Russlands geleistet. Gesamtdarstellungen zu diesem Thema, seien sie russischer, seien sie westlicher Provenienz, sind selten. Umso mehr ist es zu begrüßen, wenn sich ein Historiker der Aufgabe stellt, den aktuellen Forschungsstand zur Geschichte Russlands im Ersten Weltkrieg zusammenzufassen und für einen breiten Leserkreis aufzubereiten.

Anders als etwa Orlando Figes oder Peter Holquist, die Weltkrieg, Revolution, Bürgerkrieg und alliierte Intervention als zusammenhängendes „Kontinuum der Krise“ (Holquist) verstehen und darstellen, lässt Alexandre Sumpf sein Buch im Jahr 1918 enden. Den Bürgerkrieg und den Sieg der Bol’ševiki behandelt er nicht. Die ersten fünf Kapitel beleuchten aus unterschiedlichen Perspektiven, wie die Streitkräfte des Zaren und die russische Gesellschaft den Krieg erlebten. Militärische und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aspekte werden in einer panoramahaften Rundumschau nacheinander abgehandelt und zu einer histoire totale gebündelt, die der Front und dem Hinterland, den Erfahrungen von Soldaten und Zivilisten gleichermaßen Rechnung trägt. Besondere Aufmerksamkeit widmet Sumpf jenen Herrschaftstechniken, die im Weltkrieg erstmals erprobt und später von den Bol’ševiki aufgegriffen und perfektioniert wurden: zentralistische Lenkung der Wirtschaft; ideologische Mobilmachung gegen äußere und innere Feinde; Deportation missliebiger Bevölkerungsgruppen. Die Kapitel 6 bis 8 bieten in konventioneller Form einen Überblick des Ereignisablaufes von der Februarrevolution bis zum Frieden von Brest-Litovsk. Auch der Zerfall des Russländischen Reiches, die Loslösung zahlreicher peripherer Regionen, findet Erwähnung. Im neunten und letzten Kapitel geht Sumpf der Frage nach, warum die gesellschaftliche, wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg in der Sowjetunion über bescheidene Ansätze nicht hinausgelangte. In der Erinnerungspolitik des Regimes spielte der Krieg nie eine nennenswerte Rolle. Anders als die Industrialisierung der 1930er Jahre und der Zweite Weltkrieg besaß er kein identitätsstiftendes Potential, das sich die Machthaber hätten zunutze machen können, um ihre Herrschaft zu legitimieren und das Volk an sich zu binden. Obgleich der Erste Weltkrieg 1945 kaum dreißig Jahre zurücklag, war er für die sowjetische Bevölkerung längst ferne Vergangenheit.

Sumpf wartet nicht mit neuen Erkenntnissen auf. Er bietet eine souveräne Synthese der Sekundärliteratur, die sich ungeachtet der thematischen Bandbreite nie in Nebensächlichkeiten oder übertriebener Detailfülle verliert. Sumpf erzählt eine Geschichte, deren Grundzüge jedem Kenner der Materie bereits gut vertraut sind. Es ist die Geschichte einer Großmacht, die von Anfang an vom Krieg überfordert war. Russlands militärische Schlagkraft und wirtschaftliche Ressourcen reichten nicht aus, um die außen- und machtpolitischen Ambitionen der Autokratie zu realisieren. Die anfängliche Kriegsbegeisterung, ohnehin nur auf einzelne Segmente der Bevölkerung beschränkt, verflüchtigte sich rasch, und die schweren Niederlagen des Jahres 1915 wirkten nachhaltig demoralisierend. Dauer und Intensität des Krieges, die hohen Verluste und die Flüchtlingsströme aus den Frontregionen trafen die Armee und die Gesellschaft im Hinterland unvorbereitet. Je länger sich der Krieg hinzog, je größer die Zweifel an einem für Russland siegreichen Ausgang wurden, desto lauter wurde die Kritik am verkrusteten autokratischen System. Im Februar 1917 brach die Monarchie nicht etwa zusammen, weil das Reich eine verheerende militärische Niederlage erlitten hätte. Die Lage an der Front war schwierig, aber keineswegs aussichtslos. Auch die Versorgungsengpässe in den Großstädten und Industriezentren hätten nicht zwangsläufig zur Revolution führen müssen. Ausschlaggebend war der Ansehensverlust der Autokratie. Der Zar, seit Herbst 1915 Oberkommandierender, hatte aus Sicht der politisch und wirtschaftlich tonangebenden Kräfte jeglichen Kredit verspielt. Er und seine Coterie unfähiger Höflinge und Minister schienen den Weg zum Sieg zu blockieren und mussten deshalb beiseite geräumt werden.

Die Geschichte des Zarenreiches im Ersten Weltkrieg ist auch eine Geschichte gesteigerter gesellschaftlicher Aktivität und Selbstorganisation. Wo der Staat versagte oder Ungenügendes leistete, dort fanden Stadtverwaltungen und Zemstva neue Betätigungsfelder. Im Krieg vollzog die Zivilgesellschaft einen Entwicklungssprung. Das Gleiche gilt für die Wirtschaft. Eine neue technokratische Elite trat selbstbewusst auf den Plan. Wie Sumpf betont, wäre es verkehrt, die Geschichte Russlands im Ersten Weltkrieg ausschließlich als Geschichte absehbarer Misserfolge und unausweichlichen Scheiterns zu erzählen. Der Krieg brachte die erstarrten Verhältnisse in Bewegung; er setzte Staat und Gesellschaft unter Veränderungsdruck; er eröffnete neuartige Zukunftsperspektiven. Selbst nach einem Sieg hätte die Autokratie nicht ohne Weiteres zum Status quo von 1914 zurückkehren können. Erst der Krieg ermöglichte einen Systemwechsel, der zu Friedenszeiten undenkbar gewesen wäre. Die Tragik besteht darin, dass die Provisorische Regierung nicht den Mut aufbrachte, aus dem Krieg auszuscheiden. Damit setzte sie die Errungenschaften vom Februar 1917 aufs Spiel. Unrealistische Hoffnungen auf einen Sieg und die Überzeugung, den Verbündeten unbedingt die Treue halten zu müssen, machten die Provisorische Regierung blind für die Kriegsmüdigkeit der Armee und der Bevölkerung. Welche Folgen das hatte, ist zur Genüge bekannt. Im Revolutionsjahr 1917 stand Russland vor einer Weggabelung. Dem Versagen der bürgerlich-liberalen Kräfte und dem unerwarteten Siegeszug einer radikalen Minderheit ist es zuzuschreiben, dass Russland auf einen Weg gezwungen wurde, der es von Europa entfernte, anstatt es ihm anzunähern. Diese historische Weichenstellung wirkt bis heute nach.

Andreas Oberender, Berlin

Zitierweise: Andreas Oberender über: Alexandre Sumpf: La grande guerre oubliée. Russie, 1914–1918. [Der große vergessene Krieg. Russland, 1914–1918]. Paris: Perrin, 2014. 527 S., 23 Abb., 6 Ktn.. = ISBN: 978-2-262-04045-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Oberender_Sumpf_La_grande_guerre_oubliee.html (Datum des Seitenbesuchs)

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