Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 4, S. 631-633

Verfasst von: Andreas Oberender

Wiebke Bachmann: Die UdSSR und der Nahe Osten. Zionismus, ägyptischer Antikolonialismus und sowjetische Außenpolitik bis 1956. München: Oldenbourg, 2011. 224 S., Tab. = Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 102. ISBN: 978-3-486-70371-9.

Die Außenpolitik der Sowjetunion gegenüber den Staaten Asiens, des Nahen Ostens, Afrikas und Lateinamerikas ist in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Forschung gerückt. Diesem Trend verdankt auch die Studie von Wiebke Bachmann ihre Entstehung. Die Autorin untersucht die Beziehungen der Sowjetunion zu zwei strategisch bedeutsamen Regionen bzw. Staaten des Nahen Ostens: Ägypten, das seit 1922 formell unabhängig war, aber weiterhin starkem britischen Einfluss unterworfen blieb, und Palästina, wo 1948 der Staat Israel gegründet wurde. Bachmann konzentriert sich auf die Phase zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der frühen Chruščev-Zeit. Ihre Herangehensweise an das Thema ist einem traditionellen Verständnis von Geschichte der Außenpolitik und Diplomatie verpflichtet. Es geht um Geopolitik, Großmachtkonkurrenz vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Krieges, um Sicherheitszonen und Einflusssphären. Neuere methodische Ansätze – zu denken ist etwa an die Kulturgeschichte der Außenpolitik – bleiben unberücksichtigt, was den Wert der Studie aber nicht im Geringsten schmälert.

Bachmann geht multiperspektivisch vor, indem sie Israel und Ägypten nicht als passive Objekte der sowjetischen Außenpolitik zeigt, sondern als selbstständige Akteure, die im Umgang mit Moskau eigene Ziele und Interessen verfolgten. Auf diese Weise entsteht ein dynamisches Bild wechselseitiger Einwirkung der Sowjetunion auf Israel bzw. Ägypten und umgekehrt. Damit ist auch schon ein hervorhebenswerter Vorzug des Buches benannt. Anerkennung verdient des Weiteren die breite Quellengrundlage, die auch Material aus dem für Ausländer nach wie vor schwer zugänglichen Archiv für Außenpolitik der Russländischen Föderation (AVP RF) einschließt.

Bis in den Zweiten Weltkrieg hinein hatte die Sowjetunion kaum Möglichkeiten, auf den Nahen Osten einzuwirken. Zwar gab es seit den frühen 1920er Jahren in Ägypten und Palästina Kommunistische Parteien, die der Komintern angehörten, doch waren sie zu klein und zu unbedeutend, als dass sie brauchbare Instrumente für eine sowjetische Einflussnahme hätten abgeben können. Der Zionismus galt als Spielart des bürgerlichen Nationalismus, und daher kamen die jüdischen Siedler in Palästina als Verbündete nicht in Frage. Gemäß der Leninschen Doktrin, wonach der Nationalismus kolonialer und unterdrückter Völker legitim sei, weil er sich gegen den westlichen Imperialismus richte, wurden Nationalbewegungen und Unabhängigkeitsstreben der Araber von Moskau gutgeheißen, wenn auch nicht aktiv unterstützt.

Erst 1943, als Ägypten mit britischer Erlaubnis die UdSSR diplomatisch anerkannte, eröffneten sich für die Sowjetunion Möglichkeiten, den Nahen Osten in ihre offizielle Außenpolitik einzubeziehen. Als bevölkerungsreichster arabischer Staat war Ägypten für die Sowjetunion von besonderem Interesse. Bald nach Kriegsende intensivierte sich auch das sowjetische Interesse an Palästina. In mehreren Kapiteln zeichnet Bachmann nach, wie sich die sowjetisch-ägyptischen und die sowjetisch-israelischen Beziehungen bis 1956 entwickelten und welche Ziele die drei Staaten jeweils verfolgten.

Wie nicht anders zu erwarten, waren die Motive der Moskauer Führer keineswegs uneigennützig. Es ging ihnen in erster Linie darum, die aus dem Kolonialzeitalter überkommene Hegemonie Großbritanniens im Nahen Osten nachhaltig zu schwächen. Auch das aus Moskauer Sicht unwillkommene amerikanische Engagement im Mittelmeerraum und in Vorderasien verlangte nach Abwehrmaßnahmen. Von guten politischen Beziehungen zu Palästina/Israel und Ägypten versprachen sich sowohl Stalin und Molotov als auch Chruščev einen Sicherheitsgewinn an der verwundbaren Südflanke der Sowjetunion, wo es, anders als in Osteuropa, keine von Moskau abhängigen Satellitenstaaten gab.

Die noch während des Krieges beginnende Annäherung an Ägypten und andere arabische Staaten erbrachte jedoch bis 1947 keine konkreten Erfolge, die in der Konfrontation zwischen der Sowjetunion und den Westmächten von Nutzen hätten sein können. Von den Arabern enttäuscht, revidierte Moskau seine Einschätzung des Zionismus. Es wandte sich Palästina zu und befürwortete die Gründung des Staates Israel. Die sowjetische Führung glaubte, Kapital aus den antibritischen Ressentiments der Zionisten schlagen, einen jüdischen Staat ins Fahrwasser der Sowjetunion ziehen und gegen Großbritannien in Stellung bringen zu können. Die Jewish Agency, Interessenvertretung der jüdischen Siedler, ging gerne auf die sowjetischen Avancen ein, hoffte sie doch, dass Moskau die großangelegte Einwanderung osteuropäischer und sowjetischer Juden nach Palästina/Israel fördern werde.

Davon hätten beide Seiten profitiert. Je größer die Zahl der Juden im Nahen Osten, desto besser – so die Überlegung der Jewish Agency – ließe sich die Existenz eines separaten jüdischen Staates rechtfertigen, desto wirksamer – so Moskaus Kalkül – werde sich die britische Position untergraben lassen. Doch erneut erlebte die sowjetische Führung eine Enttäuschung: Nach einer kurzen Phase konstruktiver Beziehungen zur UdSSR wandte sich Israel 1949 dem Westen und insbesondere den USA zu. Erbost über die „Undankbarkeit“ der Juden, begann Stalin einen Rachefeldzug, der in die Kampagne gegen „wurzellose Kosmopoliten“ und Schauprozesse gegen prominente jüdische Funktionäre in Osteuropa mündete. Wenige Tage vor seinem Tod befahl der Diktator schließlich den Abbruch der Beziehungen zu Israel.

Das sowjetisch-israelische Zerwürfnis zog eine Wiederannäherung der Sowjetunion an die arabische Welt nach sich. Moskau war bestrebt, vor allem Ägypten aus allen Allianzen herauszuhalten, die den arabischen Staaten von den Westmächten angeboten wurden (Alliiertes Nahostkommando; Bagdad-Pakt). Für die Offiziere um Gamal Abdel Nasser, die 1952 den ägyptischen König Faruk stürzten, war der Ostblock als Gegengewicht zum Westen und als Waffenlieferant attraktiv. Nasser, ein Führer der Bewegung der Blockfreien, betrieb eine opportunistische Schaukelpolitik, die um Äquidistanz zu den beiden Machtblöcken des Kalten Krieges bemüht war und Ost gegen West auszuspielen versuchte. Obgleich auch unter seiner Herrschaft ägyptische Kommunisten verfolgt wurden, avancierte der Nationalist Nasser zum Freund der Sowjetunion. Möglich wurde dies, weil Stalins Nachfolger den Nationalismus in den jungen Staaten der Dritten Welt noch einmal ausdrücklich als legitim anerkannten. Die Blockfreien mochten keine folgsamen Vasallen Moskaus sein, aber ihr gegen die alten Kolonialmächte gerichteter Nationalismus war ein wichtiger Aktivposten, den sich die Sowjetunion im Ringen mit dem Westen zunutze machen wollte.

Bachmanns Studie ist rundherum gelungen. Das Buch überzeugt durch schnörkellose Präsentation und eloquente Interpretation der historischen Fakten sowie einen angenehm handlichen Umfang. Es erinnert daran, dass sich die Erforschung von Diplomatie und internationalen Beziehungen nicht in der Beschäftigung mit performativen Aspekten wie Sprache und Ritualen erschöpfen darf. Im Mittelpunkt einer traditionell verstandenen Geschichte der Außenpolitik stehen die konkreten Interessen von Staaten und die Frage, unter welchen Bedingungen diese Interessen formuliert und mit welchem Ergebnis sie in der internationalen Arena verfochten werden. Dass dieser Ansatz keineswegs obsolet ist, sondern noch immer wichtige Erkenntnisse zu liefern vermag, hat Wiebke Bachmann eindrucksvoll bewiesen.

Andreas Oberender, Berlin

Zitierweise: Andreas Oberender über: Wiebke Bachmann: Die UdSSR und der Nahe Osten. Zionismus, ägyptischer Antikolonialismus und sowjetische Außenpolitik bis 1956. München: Oldenbourg, 2011. 224 S., Tab. = Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 102. ISBN: 978-3-486-70371-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Oberender_Bachmann_Die_UdSSR_und_der_Nahe_Osten.html (Datum des Seitenbesuchs)

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