Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 2

Verfasst von: Hans-Heinrich Nolte

 

Klaus Meyer: Russland – Vertraute Fremde. Neues und Bleibendes in historischer Perspektive. Ausgewählte Beiträge von Klaus Meyer †, hrsg. von Dittmar Schorkowitz. Frankfurt / Main [usw.]: Lang, 2008. 362 S., Abb., Tab. = Gesellschaften und Staaten im Epochenwandel, 17. ISBN 978-3-631-57453-9.

Der Herausgeber gliedert die gesammelten Aufsätze von Klaus Meyer in vier Themenbereiche – Deutschland und Russland, Bildung und Hochschulen, Städte im Wandel der Zeit und autobiographische Notizen – und ordnet die Beiträge innerhalb dieser Bereiche wiederum nach deren innerer Chronologie, wodurch vier fortlaufende Darstellungen entstehen. So wird der Sammelband ein gut lesbarer Kommentar zur Geschichte Russlands bzw. der UdSSR und der deutsch-russischen Beziehungen. Ein Werkverzeichnis hätte den Band abgerundet.

Der erste Bereich beginnt mit der Titelfrage bei der Gesandtschaft Meyerbergs 1661/62, als Zar Aleksej die durch die osmanische Expansion für Russland günstige Lage nutzen wollte, um die Anerkennung der Gleichrangigkeit des Moskauer Herrschers mit dem Kaiser durchzusetzen. Dem folgt die Beschreibung des „Russisch-Deutschen Volksblatts“, eines offiziellen Propagandablatts des Russländischen Reichs – es fällt auf, wie geschickt der Herausgeber Kotzebue die Kosakenbegeisterung des Jahres 1813 mit human interest-Stories anheizte. Die Aufzeichnungen Moltkes über seinen Aufenthalt in St. Petersburg 1856, die gesammelten Darstellungen zu russischen Reaktionen auf die Reichseinigung sowie  zu deutschen auf die Revolution von 1905 sind besonders spannend. Beispielsweise machen die Hinweise sowohl einiger russischer Nationalisten wie einiger Baltendeutscher nach der Annexion des Elsass 1871 auf die  Folgen für die Ostseeprovinzen deutlich, wie sich mit der Annexion im Westen  auch die Stimmung im Osten änderte. Meyers Hinweise auf die Debatte zwischen Maximilian Harden und Rosa Luxemburg über die Wirkungen der russischen Revolution von 1905 auf den „Weltwesten“ (so Harden, zitiert S. 81) sind auch heute noch lesenswert.

Der zweite Bereich versammelt Arbeiten Meyers zur Bildungspolitik. Die Aufsätze begleiten diese von der Gründung der Universität Moskau 1755 bis zu den Universitäten der baltischen Unionsrepubliken vor 1978/79. Die Texte enthalten z.B. den Versuch, das Budget deutscher Professoren in Russland um 1805 zu konkretisieren, aber auch die nüchterne, Positiva und Negativa benennende Analyse der Kaderpolitik der dreißiger Jahre aus dem von Gernot Erler herausgegebenen Stalinismusband von 1982. Schorkowitz verzichtet darauf, den umfangreichen Beitrag Meyers zur Wissenschaftspolitik aus dem von Oskar Anweiler und Karl-Heinz Ruffmann 1973 herausgegebenen Band zur Kulturpolitik der Sowjetunion wieder abzudrucken, der von den siebziger bis in die neunziger Jahre oft Seminarlektüre war und sicher noch leicht zugänglich ist. Allerdings lässt dieser Verzicht gerade den Text außen vor, für den Meyer im Hochschulleben wohl am besten bekannt war.

Der Bereich zur Stadtgeschichte versammelt Aufsätze ab den achtziger Jahren, mit denen Meyer sich und seinen Kollegen ein weiteres Forschungsgebiet erschloss. Eindrucksvoll bleibt der Vergleich zwischen Berlin und St. Petersburg, der mit dem Zitat Dostojewskis, dass „Berlin bis zur Unglaublichkeit an Petersburg erinnert“ (Zitat S. 252), einsetzt, aber dann auch die Differenzen herausarbeitet, nicht zuletzt die Rangunterschiede. Preußen war eben, wie der „Vestnik Evropy“ 1870 notierte, „Parvenü in Europa“ (Zitat S. 63), und seine Hauptstadt konnte sich an Großzügigkeit und Glanz kaum mit der Stadt an der Neva messen – obgleich Berlin als landesherrliche Stadt eines deutschen Kurfürsten viel älter war als „Piter“.

Aus den autobiographischen Notizen lernt der Leser vor allem etwas über die Rolle, welche Victor Hehn und Theodor Schiemann im akademischen Leben des Kollegen gespielt haben. Eine Tochter Schiemanns intervenierte gegen Meyers Kritik an dessen Tätigkeit als Kurator der Universität Dorpat 1918, weil er nur Deutsche und Deutschbalten, keine Esten oder Letten angestellt sehen wollte. Trotzdem wurde Meyers Dissertation 1956 in Hamburg angenommen. Die Förderung des Drucks durch die Freie und Hansestadt wurde jedoch in der Bürgerschaft aus der SPD attackiert – offenbar vor allem des Themas wegen, denn Schiemann war eben ein nationalistischer Historiker und seine Korrespondenz mit dem Kaiser gab auch Gelegenheit, die Dolchstosslegende zu wiederholen (Zitat S. 318). Vielleicht hat diese frühe Erfahrung mit politisch motivierten Infragestellungen wissenschaftlicher Arbeit aus beiden Richtungen Meyer in die Lage versetzt, 1968 in Berlin mehr Diskursivität und mehr Offenheit zu bewahren, als es anderen Kollegen gelungen ist.

Klaus Meyer war einer der zuverlässigsten Osteuropahistoriker. Man konnte mit seiner Nachdenklichkeit rechnen sowie auf seinen entschiedenen Willen zählen, die Quellen ernst zu nehmen und nicht mit vorweg gefassten Interpretationen wegzuerklären. Dittmar Schorkowitz hat mit dieser Sammlung die Forschungsleistungen und nicht zuletzt den Tonfall von Klaus Meyers Beiträgen zu den Debatten zwischen 1963 und 2007 bewahrt.

Hans-Heinrich Nolte, Barsinghausen

Zitierweise: Hans-Heinrich Nolte über: Klaus Meyer: Russland – Vertraute Fremde. Neues und Bleibendes in historischer Perspektive. Ausgewählte Beiträge von Klaus Meyer †, hrsg. von Dittmar Schorkowitz. Frankfurt/Main [usw.]: Lang, 2008. 362 S., Abb., Tab. = Gesellschaften und Staaten im Epochenwandel, 17. ISBN 978-3-631-57453-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Nolte_Meyer_Russland_Vertraute_Fremde.html (Datum des Seitenbesuchs)

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