Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 59 (2011), H. 4, S. 592-595

Verfasst von: Hans-Heinrich Nolte

 

Carsten Goehrke: Russland. Eine Strukturgeschichte. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2010. 462 S., Tab., Graph., Ktn. ISBN 978-3-506-76763-9.

Der Züricher Emeritus gliedert seine Strukturgeschichte in acht Teilbereiche: räumliche Rahmenbedingungen – staatlich-territoriale Entwicklung – materielle Grundlagen – Gesellschaft – Machtsystem – Kirche und Kultur – Persönlichkeit und Geschichte sowie Werte und Identitäten. Für jeden dieser Bereiche legt er einen chronologischen, stark interpretierenden Abriss vor, der jeweils bis in die Gegenwart führt, also z.B. die territoriale Entwicklung von den Lokalgesellschaften und der Ankunft der Waräger bis zur Russländischen Föderation darstellt und die Persönlichkeiten von Ivan IV. bis zu Gorbatschow. Ein wichtiges Buch, um das vorweg zu nehmen, das hier nicht nach einzelnen Fehlern durchsucht, sondern auf die zentralen Aussagen hin vorgestellt und diskutiert wird.

Herausragend ist das Kapitel über die räumlichen Rahmenbedingungen. Eindringliche knappe Karten erläutern die Voraussetzungen für die „Sickerwanderungen“, mit der die Ostslawen sich über den „nordeurasischen Subkontinent“ ausgebreitet haben. Kontinentalität wird gegen maritime Lage abgewogen und Vergleiche zwischen Nordamerika und dem Russländischen Imperium machen die geographische Gunstlage der USA deutlich.

Das Kapitel über die Wege zum Imperium verfolgt die Territorialentwicklungen von den Warägern bis Putin. Goehrke schränkt die Bedeutung des Mongolensturms ein und stellt endogene Gründe für das „Auseinanderdriften“ der Ostslawen heraus. Bestimmend für die Außenpolitik der Moskauer Herrscher war der pragmatische Umgang mit der jeweiligen Ideologie – der Krieg mit Japan 1905 wurde auch deshalb zur Katastrophe, weil man der Ideologie zu viel Raum gab. Die Chance, nach 1992 mehr Mittel auf die innere Entwicklung zu konzentrieren und die Rüstungsquote zu senken, wurde vertan, obgleich der Verlust der Weltmachtstellung unübersehbar war. Man kann dem sicher zustimmen, allerdings haben die Hochrüstung der USA und deren Interventionsbereitschaft im 21. Jahrhundert die Frage neu gestellt, welches Rüstungsniveau heute notwendig ist, um eine wie immer begrenzte Souveränität zu bewahren.

Überzeugend fasst Goehrke die materiellen Grundlagen der Entwicklung Russlands aus dessen Situation als „Spätstarter“, für den die wirtschaftlichen Impulse vor allem „elitengesteuert waren.“ (S. 112). Die Entwicklung des Donez-Beckens war aber stärker auf den Weltmarkt bezogen, als der Verfasser meint, nicht nur des französischen und belgischen Kapitals wegen – russische Kohle ging übers Mittelmeer, englische nach St. Petersburg, und trotz der Vervielfachung der russischen Kohleproduktion zwischen 1888 und 1913 schwankte der Grad der Selbstversorgung Russlands in dieser Periode kontinuierlich um 80 %, wie Irina Djakonova in ihrer 1999 in Moskau publizierten Arbeit „Neft’ i ugol“ gezeigt hat. Die Rolle der Importkohle an der baltischen Küste war wiederum ein Grund dafür, dass das russische Transportsystem im Ersten Weltkrieg während der deutschen Blockade der Ostsee nicht in der Lage war, die Hauptstadt mit Kohle zu versorgen.

Der Weltmarktbezug verweist überhaupt auf die inneren Grenzen einer nationalgeschichtlich arbeitenden Wirtschaftsgeschichte. Ist die Transformation 1989/91 ohne die Außenbezüge erklärbar (die zurückgekehrten Studenten aus den USA, über die Yale Richmond geschrieben hat, oder die selbst die Transformation überdauernden Einnahmen aus den Rohstoffexporten, welche Begehrlichkeiten weckten)? Zum Beispiel hätten die „Oligarchen“ und andere in der Jelzinzeit wohl kaum mehr als 140 Milliarden US-Dollar außer Landes bringen können, wenn sie nicht auf Deviseneinnahmen aus Erdöl- und Erdgasexporten hätten zugreifen können. Goehrke verweist nur auf den innerrussischen Teil dieser Umverteilung zugunsten der weithin aus der KPdSU stammenden „neuen Reichen“, der unter Putin dann vor allem um Mitglieder des ehemaligen KGB  erweitert wurde.

Goehrke kennzeichnet die Veränderungen in der „ostslawischen Gesellschaft“ im 10. Jahrhundert durch vier Indikatoren: Burgen neuen Typs, Verwendung von Schwertern, Beschleunigung der handwerklichen Arbeitsteilung und Fernhandel. Im Unterschied zum Westen bildete sich der Adel spät heraus, das Land war schwach urbanisiert, und die Städte hatten Burgstadt-Charakter. Von der Mitte des 13. Jahrhunderts an sieht Goehrke die Entwicklung einer „staatsfixierten Gesellschaft“ – eine gelungene Variation zu Hans-Joachim Torkes bekanntem Buchtitel. In den Städten blieb die Abriegelung der städtischen Höfe, die in Westeuropa an Bedeutung verlor, bestehen; der Adel hielt auch – anders als in Zürich oder Magdeburg, aber so wie in Paris oder Lissabon – seine Hörigen in den städtischen Höfen. Insgesamt formierte sich der Adel in „wachsender Abhängigkeit vom Großfürsten“ (S. 154). Der Prozess der Zivilisierung schritt insgesamt langsamer voran als im Westen, und eine „Kontinuität patriarchalen Denkens“ (S. 176) ist bis in die Gegenwart feststellbar. Goehrke sieht also den Kern des sozialen Wandels in Westeuropa nicht als Entwicklung einer Teilregion (dessen Zentrum man zwischen London und Florenz bestimmen könnte), sondern als Entwicklung des Westens allgemein. Das überzeugt wenig – fraglos versuchten die Ratsregierungen vieler Städte, alle Gerichtsbarkeit an sich zu ziehen, nur ist ihnen das in London gegen den König genau so wenig gelungen wie in Riga gegen den Orden (bzw. den Erzbischof). Und selten besaßen alle Einwohner einer Stadt Bürgerrechte. Was die Bauern anbelangt – Teile des Kapitels „Werte und Identitäten“ erinnern an Manuel Sarkisyanz’ Buch über Russland und den Orient, – aber sind Verbreitung und Wirkungsmächtigkeit von dem, was Sarkisyanz vor mehr als einem halben Jahrhundert über die russische „Pravda“ schrieb, heute besser bekannt?

Goehrkes Bild von der Sonderstellung Russlands hängt auch damit zusammen, dass er den Absolutismus, dem die ständischen Parlamente zwischen Toledo, Paris und Warschau sowie schließlich auch in Regensburg zum Opfer fielen, nicht als gesamteuropäische Periode wertet. Kontrastiert man die absolutistische Welt im 18. Jahrhundert mit der parlamentarischen, dann ergeben sich ganz andere Sonderstellungen und Gemeinsamkeiten, etwa zwischen Spanien, Frankreich, Preußen und Russland auf der einen und Polen, dem Reich, den Niederlanden und der Confoederatio Helvetica auf der anderen Seite. Goehrke folgt Nitsche in der These, dass die Wurzeln der Moskauer Autokratie endogen seien (S. 187). Auch wenn er damit sicher der Mehrheit des Faches entspricht, darf man als Vertreter der (zugegeben kleinen) Minderheit doch z.B. daran erinnern, dass auch im Westen nur wenige ständische Parlamente sich selbst einberufen konnten, die États généraux Frankreichs, aber auch die Reichstage bis zum „Ewigen Reichstag“ 1663 nach diesem Kriterium also ähnlich „okkasionell“ waren, wie Goehrke die sobory kennzeichnet. Ein anderes Beispiel ist der vyvod, die Zwangsumsiedlung, die bei Goehrke als typisch für Russland erscheint, aber durchaus ein Instrument allgemeiner westeuropäischer Politik war – im 16. und 17. Jahrhundert wurden erst Juden und dann Muslime aus den iberischen Staaten vertrieben, 1603 begann die plantation of Ulster, 1731 zwang Erzbischof Firmian die protestantischen Salzburger zur Aussiedlung, wie das dem Reichsrecht entsprach, und 1830 beschloss der Kongress der USA im „Indian Removal Act“, die Indianer östlich des Mississippi zu „entfernen“, um nur einiges heraus zu greifen.

In seinem Beitrag zur Kirchengeschichte geht Goehrke von einer großen Gemeinsamkeit zwischen Protestantismus und Katholizismus aus, die in der Vergangenheit vielleicht noch weniger der Realität entsprach als in der Gegenwart. Gewiss gab es Gemeinsamkeiten, z.B. darin, dass sowohl protestantische wie katholische Kirchen noch in der Frühen Neuzeit ziemlich dichte Netze von Pfarrschulen aufbauten, was die Orthodoxie nicht tat. Kirchlich entscheidend blieb aber doch, dass der Protestantismus für Orthodoxe wie Katholiken eine Häresie war, während die beiden alten Großkirchen sich gegenseitig für schismatisch hielten und viele dogmatische Positionen und Institutionen gemeinsam blieben – von der apostolischen Nachfolge und der Gültigkeit der ökumenischen Konzilien bis zum Klosterwesen. Die Homogenisierung zwischen Katholizismus und Protestantismus führt zur Konstruktion eines „vor allem protestantisch geprägten Westen“ (S. 300–301), vor dessen Hintergrund die Sakralisierung Russlands kritisiert wird, obgleich es ja das Reich war, das die Heiligkeit immerhin bis 1806 im Titel trug, Preußen, Österreich und Russland 1815 die „Heilige Allianz“ gründeten und die Königin von England bis heute den Titel „Defensor Fidei“ auf jede Münze schlagen lässt. Konkret führt die Geringschätzung der gesamtchristlichen Traditionen dazu, dass die Einrichtung des Synods unter Peter I. – nach Kapterev ohne das schwedische Vorbild des Konsistoriums nicht denkbar – als „logische Konsequenz“ russischer Entwicklung erscheint (S. 264).

Goehrke notiert S. 17 selbst, dass der strukturgeschichtliche Ansatz die Gefahr birgt, Kontinuitäten überzubetonen, also endogenen Entwicklungslinien zu viel Gewicht zuzumessen. Umgekehrt birgt der Systemansatz, den der Unterzeichnete für ergiebig hält, sicher die Gefahr, exogene Antriebe zu stark zu betonen.

Der Dissens des Rezensenten betrifft aber einen methodischen Punkt: Der Autor vergleicht kontinuierlich mit Entwicklungen Westeuropas, was sachlich notwendig ist, weil Russland und Westeuropa grundlegend (trotz der Säkularisierungen) durch das Christentum geprägt sind, und – was quellenimmanent unumgänglich ist – weil die russländischen Eliten sich im europäischen System ihren Platz suchten, sich also auf es bezogen. Goehrke vergleicht aber einen Modellbegriff von Westeuropa mit der Realität Russlands, wodurch der Westen viel gleichmäßiger durch Mitbestimmung geprägt und Russland viel autokratischer bestimmt wirkt, als es beide waren. In diesem Verfahren folgt der Autor eben jenen russländischen Eliten selbst, bei welchen es eine Tradition gibt, den inneren Gegner und die eigenen Zustände an einem Europabild zu messen, dessen Glanz alles andere verdunkeln musste – aber in der dann zwangsläufig folgenden Ernüchterung Europa negativer zu sehen, als angemessen war, weil es dem selbst gemachten Bilde nicht entsprach – wie Alexander Herzen, der nach der Niederwerfung der Revolution 1848 Europa als faulenden Fisch sah. Goehrke selbst hat (in seinem glänzenden, zusammen mit Gisela Tschudi verfassten Vergleich zwischen Zürich und Novgorod) gezeigt, dass Realität mit Realität verglichen werden muss (und Modell mit Modell).

Goehrkes Modellbegriff ist „Lateineuropa“. Er verdeutlicht seine Vorstellung in einer eindrucksvollen Skizze S. 317 – die Abstufungen laufen von Westen nach Osten, katholisch und protestantisch bilden eine Kategorie, romanisiert eine andere – wobei Rumänien als nicht romanisiert erscheint. Dass der Stand der parlamentarischen Systeme mit dem Stichjahr 1970 gezeigt wird, ruft gleich Einwände hervor – so erscheinen Deutschland und Italien trotz „faschistischer Bewegung“ (um Ernst Nolte zu zitieren) als parlamentarisch, aber Polen und Ungarn werden trotz der vielen Jahrhunderte Parlamentsgeschichte und Widerstands gegen den Absolutismus nicht dazu gerechnet. Und zur Betonung des Lateinischen hat schon Maurice Aymard angemerkt, dass zum gebildeten Europa stets gehörte, dass man zwei Fremdsprachen konnte – und die zweite war nun einmal, zumindest über viele Jahrhunderte hin, Griechisch.

Zusammenfassend: Goehrke diskutiert acht strukturelle Zugänge zur russischen Geschichte jeweils über ein Jahrtausend hinweg auf der Grundlage einer breiten Rezeption von Literatur und umfangreichen, vielfältigen eigenen Quellenarbeiten von der Agrar- zur Stadt-Geschichte und von der Gender-History zur Imperiumsforschung. Er hat seine enorme Quellenkenntnis in seiner monumentalen Geschichte des Alltags in Russland umfassend präsentiert. Die jetzt vorgelegte Strukturgeschichte bietet eine komprimierte Analyse, die sich von mehreren Bereichen her dem Thema nähert. Ein zentraler Beitrag zur Debatte über Russland.

Hans-Heinrich Nolte, Barsinghausen

Zitierweise: Hans-Heinrich Nolte über: Carsten Goehrke: Russland. Eine Strukturgeschichte. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn [usw.] 2010. ISBN 978-3-506-76763-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Nolte_Goehrke_Russland_Eine_Strukturgeschichte.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2012 by Osteuropa-Institut Regensburg and Hans-Heinrich Nolte. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.