Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 335-336

Verfasst von: Hans-Heinrich Nolte

 

Olga G. Ageeva: Imperatorskij dvor Rossii 1700–1796 gody. Monografija [Der russländische Kaiserhof 17001796. Eine Monographie]. Moskva: Nauka, 2008. 379 S.ISBN: 978-5-02-035516-3.

Ageeva legte eine Gesamtgeschichte des kaiserlichen Hof in St. Petersburg während des 18. Jahrhunderts vor. Sie beruht auf der Sekundärliteratur, vor allem aber auf umfangreichen Archivstudien. Zusammen mit R. R. Gafifullin hat die Autorin einige ihrer wichtigsten Quellen in Bd. 2 der bei Schlacks erscheinenden Zeitschrift Imperskaja Rossija / Classical Russia auch ediertzwischen 1721 und 1788 erlassene Hofordnungen oder sie ergänzendes Material.

Ageeva schreibt die Geschichte des Hofes einschließlich derkleinen Höfeals Geschichte der Institutionen. Ihre Darstellung setzt chronologisch mit einer Übersicht des Moskauer Hofes ein und folgt dann den Regierungsperioden von Peter I. bis Katharina II. Auf diesem Hintergrund untersucht sie systematisch einzelne Ränge von den Kavalieren des Hofs über Hofmeister und Staatsdamen, Kammerpagen, Haiduken und Lakaien bis zu Zahlmeistern. Sie schließt mit den Regeln des Dienstes bei HofeVersorgung und Unterbringung, Strafen und Abschieden.

In einzelnen Abschnitten geht sie auf wichtige Fragen ein, z. B. auf die Europäisierung der Ränge vor allem nach braunschweigischem und preußischen Vorbild (man fragte aber auch bei anderen Höfen an)gofmeister, obergofmejster […] kamerger, kofešenk, zilberdiner etc. Tabellen verdeutlichen, welche Titel wann benutzt wurden, und auch, wie viel žalovane für jeden vorgesehen war. Für die unteren Ränge blieb es übrigens im 18. Jahrhundert meist konstant, die karly z. B. bekamen stets um 4050 Rubel im Jahr. Die Geldeinkommen der oberen Ränge stiegen dagegen schnellder Oberhofmeister von 100 unter Peter I. auf 4000 Rubel unter Anna Ioannovna; der Hofmarschall von 300 unter Katharina I. auf 2.555 unter Katharina II. Natürlich kamen die Sachleistungen hinzu, von der Unterkunft bis zum Feuerholz oder den Kerzen. Die Kosten des Hofes stiegen kontinuierlichwurden 1733 noch 260.000 Rubel festgelegt, waren es 1784 schon 916.393 und mit den Ausgaben für die Kanzlei des Zahlmeisters über eine Million Rubel. Auch die Zahl derer, die am und vom Hof lebten, nahm ständig zuwaren es 1784 2.952 Personen, so kam Peter II. noch mit 688 aus.

Welche Funktionen hatte der kaiserliche Hof in Russland? Kann man dem kontinuierlichen Ausbau politische Ziele zuordnen oder war er sozusagen eine automatische Folge der Institutionalisierung und damit eindrucksvolles Beispiel für Parkinsons Gesetz, dass jeder Beamter danach strebt, die Zahl der Unterstellten zu vermehren? Die Aufwendungen wurden ja auch nur durch die Konkurrenz um die dem Staat insgesamt zugänglichen Mittel und nicht durch ständische Kontrolle begrenzt. Die Autorin geht hier wenig auf diese Fragen ein und setzt sich z.B. mit Norbert Elias eher abwehrend auseinander. Die Funktion, adlige Eliten an den Monarchen zu binden (oder diesen Teil der Machtsicherung zu vernachlässigen), wird aus ihrer Darstellung aber durchaus greifbar. Wurden z.B. unter Katharina I. viele Mädchen aus den Familien der Aufsteiger wie Skavronskij oder Efimovskij zu freiliny am Hofe, waren es unter Katharina II. vor allem Angehörige der bekannten russischen Adelsfamilien von den Dolgorukij bis zu den Musin-Puškin. Die Zahl der Vertreterinnen baltischer Familien unter den Damen bei Hofe sank unter der deutschen Kaiserin (konnte eine Tiesenhausen sich vielleicht zu genau vorstellen, was Anhalt-Zerbst eigentlich war?), dafür stieg nach den Teilungen Polens die Zahl der frejliny aus alten polnischen Familien wie Branickij, Potockij und Radziwiłł.

Die Fräulein bei Hofe erhielten ein Quartier im Schloss, 600 Rubel, Kaffee zum Frühstück und Essen tagsüber sowie verschiedene Sorten Kerzen. Ihre Aufgabe war es, die kaiserlichen Personen innerhalb der Hofräume zu bedienen, ihnen Gesellschaft zu leisten und mit ihnen spazieren zu gehen. Sie erhielten ein besonderes Abzeichen, eine Uniform war aber nicht vorgesehen. Starben sie im Dienst, wurden sie auf dem Friedhof des Nevskij-Klosters beerdigt. Die Feier einer Hochzeit wurde vom Hof unterstützt, die Hochzeitskrone nicht selten von der Kaiserin gestiftet und Mitglieder der kaiserlichen Familie konnten Trauzeugen sein. Die Kosten konnten, wie bei der Hochzeit von Fräulein A. V. Panina, einschließlich eines Geldgeschenks und weiteren Gabenvon Ikonen und Schmuck bis zur Weißwäsche – auf 46.000 Rubel steigen.

Eine andere Gruppe, die in dem Buch lebendig wird, sind die arapyeine kleine Gruppe von Dienern im Livree, die aus allen Teilen des muslimischen Kosmos oder der Karibik kamen, z.B. ein Abdullah aus Barno, der als Junge an einen englischen Kaufmann verkauft und 1772 auf Paros von einem russischen Kapitän erworben worden war. Er wurde orthodox getauft, und 1786 schenkte der Kapitän dem damals 23 Jahre alten Mann die Freiheit. Der Hof nahm ihn in Dienst.

Das Buch liest sich, sieht man einmal von solchen Einblicken in das Alltagsleben ab, relativ zäh. Das sollte aber nicht darüber täuschen, dass es ein für die Forschung unentbehrliches Buch ist schon weil es eine große Menge prosopographischen Materials zur Verfügung stellt. Zum Beispiel tauchen 16 Golicyns im Register auf, zwei davon Frauenwo will man sich sonst schnell und zuverlässig informieren, wer Kontakte zu Hof hatte? O. G. Ageeva hat ein Handbuch zur politischen Geschichte des 18. Jahrhunderts geschrieben, auf das jeder Forscher zurückgreifen wird.

Hans-Heinrich Nolte, Barsinghausen

Zitierweise: Hans-Heinrich Nolte über: Ol’ga G. Ageeva: Imperatorskij dvor Rossii 1700–1796 gody. Monografija [Der russländische Kaiserhof 1700–1796. Eine Monographie]. Moskva: Nauka, 2008. 379 S.ISBN: 978-5-02-035516-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Nolte_Ageeva_Imperatorskij_dvor_Rossii.html (Datum des Seitenbesuchs)

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