Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 2, S. 325-327

Verfasst von: Christian Noack

 

Alexandre Sumpf: De Lénine à Gagarine. Une histoire sociale de lUnion soviétique. Paris: Gallimard, 2013. 931 S. = Collection Folio/Histoire, 207. ISBN: 978-2-07-034948-7.

Mit Sumpfs Sozialgeschichte liegt eine weitere umfangreiche Synthese der Sowjetgeschichte vor. Der junge französische Historiker interessiert sich vor allem für die Wechselbeziehungen von Herrschern und Beherrschten, die allen politischen und sozialen Umbrüchen zum Trotz ein leidlich stabiles Regime und eine langlebige sowjetische Mentalität hervorbrachten. Das Buch konzentriert sich auf die Entstehung der Sowjetunion, ihre Erschütterung und Konsolidierung unter Stalin und schließlich die Tauwetter­periode unter Chruščev. Sumpfs Verzicht auf die Einbeziehung der späten Sowjetunion beruht wohl auf der Einschätzung, dass sich das Wechselverhältnis zwischen sowjetischem Staat und sowjetischer Gesellschaft mit der Entstalinisierung wesentlich veränderte und dass mit der Machtübernahme Brežnevs bereits die Geschichte des Niedergangs der UdSSR begann.

Für seine Darstellung wählt Sumpf einen thematischen Zugang, der demjenigen von Stephen Lovells Soviet Union: A Very Short Introduction (2009) ähnelt. Wo Lovell seinen Lesern nur knapp über hundert Seiten Lektüre zumutete, bietet Sumpf allerdings mehr als achthundert Seiten faktengesättigter Darstellung und Analyse. Der erste und mit knapp vierhundert Seiten umfangreichste Abschnitt unter dem Titel Sowjetisch sein diskutiert vier Schwerpunkte: den imperialen Charakter des sowjetischen Projekts, den prometheischen Anspruch, einen neuen Menschentypus kreiert zu haben, die Frage des fortbestehenden Klassencharakters der Sowjetgesellschaft und schließlich die Ideologie und Praxis der sowjetischen Ökonomie. Mit etwas über zweihundert Seiten fällt der folgende Teil, Bürger sein, nur etwa halb so lang aus. Dieser konzentriert sich auf die Herrschafts­struk­turen und die Versuche, Herrschaft auf eine „soziologische Basis“, zu stellen. Sumpf diskutiert die verwendeten Mobilisierungsstrategien und Kontrollinstrumente und geht abschließen der Frage nach, inwieweit sowjetische Heldenfiguren (Intellektuelle, Arbeiterelite, Soldaten) in der Art von „Projektionsflächen“ funktionierende Integrationsangebote schufen. Er diskutiert in diesem Teil auch ausführlich Potential und Grenzen eingeführter soziologischer Analysekategorien für die sowjetische Gesellschaft. Noch etwas knapper präsentiert sich der letzte Teil, der sich unter dem Titel strahlende Zukunft zunächst den tatsächlichen oder vermeintlichen Erfolgsgeschichten der Sowjetunion wie dem Sieg über Hitlerdeutschland, Bildung und Wissenschaft oder Sport widmet. Dem folgen Abschnitte zum Funktionieren von Kommunismus als säkulare Ersatzreligion, zur Rolle von offizieller Kultur und kulturnost‘ sowie zum Schicksal von Religiosität und Konfessionen.

Dieser Breite und Vielfalt im Einzelnen inhaltlich gerecht zu werden ist im Rahmen einer kurzen Rezension kaum denkbar. Ich beschränke mich im Folgenden deshalb auf einige wenige Aspekte. Zunächst zur Frage quoi neuf? Sumpf hat keine revolutionäre Neuinterpretation der Sowjetgeschichte zu bieten. In vielem erkennt man Linien, die etwa Moshe Lewin bereits gezogen hat („Flugsandgesellschaft“). Sie werden von Sumpf systematisch ausgebreitet und mit Erkenntnissen der jüngeren Forschung unterfüttert. Damit ist Sumpfs Buch sicher mehr als eine Sozialgeschichte im engeren Sinne. Die oben skizzierten Themenabschnitte deuteten schon an, dass hier eine integrierte Sozial-, Kultur- und Politikgeschichte neueren Zuschnitts angestrebt wird, in der die Menschen und ihre Alltagserfahrung von zentraler Bedeutung sind. Im Allgemeinen gelingt es Sumpf überzeugend, diese Dimensionen zusammenzuführen. Ein gutes Beispiel dafür ist etwa die umfassende Diskussion von Wahlen als Repräsentations- und Mobilisierungs­instrument, zugleich aber auch als bidirektionaler Kommunikationskanal.

Innerhalb der Kapitel ist Sumpfs Darstellung zumeist gut informiert, das Buch rezipiert die englisch-, französisch- und russisch-, nicht aber deutschsprachige Forschung. Lediglich in Bereichen, die nicht unbedingt für seine Argumentation von zentraler Bedeutung sind, ist die Absicherung durch Primär- oder Sekundärquellen etwas dünn. Dies gilt etwa für die zehn Seiten, die dem Tourismus gewidmet sind. Hier stützt sich Sumpf auf einen einzigen Sammelband. Beim Feld der Religionen hat Sumpf unter anderem auch eine Reihe maßgeblicher neuerer französischsprachiger Publikationen nicht ausgewertet. Sumpfs Darstellungsweise ist klar und pointiert, allerdings neigt das Buch aufgrund des thematischen Zuschnitts dazu, historische Entwicklungsdynamiken zugunsten von strukturellen Aussagen zu überspielen. Dem minder vorinformierten Leser wird nicht immer unmittelbar klar werden, ob Sumpf beispielsweise gerade die Vorkriegs- oder Nachkriegsgesellschaft unter Stalin thematisiert.

Insgesamt wird deutlich, dass Alexandre Sumpf mit seiner voluminösen Sozialgeschichte der Sowjetunion von den Anfängen bis in die sechziger Jahre gegen die Dominanz der Politik- und Ideengeschichte in Frankreich anschreibt, auch wenn er selbst die simple Gegenüberstellung in seiner Einleitung nicht gelten lassen will. Er legt eine anspruchsvolle Synthese vor, die vor allem die jüngere Forschung in eindrucksvoller Breite rezipiert. Außerhalb Frankreichs wird man sich allerdings fragen, an wen sich dieses Buch primär richtet: Fachhistoriker werden die ein oder andere wertvolle Information oder originelle Analyseansätze finden, zu vieles ist für sie allerdings bereits Gemeingut. Für interessierte Laien bieten der thematische Zugriff und der damit verbundene Verzicht auf chronologische Gliederung zu wenig Orientierung. Sumpfs Neigung, seine Argumente mit einer Masse von Details und vor allem Daten zu unterfüttern, dürfte keiner der beiden Gruppen besonders entgegenkommen. Man mag darüber hinaus bedauern, dass das Buch nur einen engen Zeitrahmen von 1917 bis in die frühen sechziger Jahre abdeckt. Diese Einschränkung hätte allerdings klarer angedeutet werden können als durch ein schlichtes „… bis Gagarin“ im Titel.

Christian Noack, Amsterdam

Zitierweise: Christian Noack über: Alexandre Sumpf: De Lénine à Gagarine. Une histoire sociale de l’Union soviétique. Paris: Gallimard, 2013. 931 S. = Collection Folio/Histoire, 207. ISBN: 978-2-07-034948-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Noack_Sumpf_De_Lenine_a_Gagarine.html (Datum des Seitenbesuchs)

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