Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 4, S. 618-619

Verfasst von: Christian Noack

 

David L. Cooper: Creating the Nation: Identity and Aesthetics in Early Nineteenth-century Russia and Bohemia. DeKalb: Northern Illinois University Press, 2010. vii + 347 S.; Hardcover, Illustrationen, Anmerkungen, Literaturverzeichnis, Index, ISBN: 978-0-87580-420-0.

Hat die Forschung in der Entwicklung der Nationalliteraturen zu lange nur einen Spiegel der breiteren Nationsbildungsprozesse gesehen? In seiner vergleichenden Fallstudie zur tschechischen und böhmischen Literaturentwicklung im 19. Jahrhundert plädiert David L. Cooper zunächst einmal dafür, literarische Entwicklung ihrem Selbstverständnis gemäß zu untersuchen.

Ausgangspunkt von Coopers Untersuchungen sind Diskussionen europäischer Intellektueller über die Interpretation des kulturellen Erbes der Antike im 18. Jahrhundert. Vor dem Hintergrund der sich beschleunigenden Modernisierung wurden die universellen und überzeitlichen Vorbilder immer häufiger als Begrenzung schöpferischer Freiheit gesehen. Zunehmende Differenzierung habe auch der Wunsch nach einer kulturellen Erneuerung erfordert, die zugleich stabile Identitätsmuster zu schaffen in der Lage sein musste. Wie Cooper in den vier Kapiteln des ersten Teilabschnittes seiner Studie nachvollziehbar schildert, wurden in ganz Europa intensive Debatten über die Erneuerung der Literatur geführt, die letztlich zu einer Durchsetzung der Nation als neuer ästhetischer Grundlage geführt hätten. Cooper legt überzeugend dar, dass dies auch mit gewisser zeitlicher Verschiebung in Russland und in den böhmischen Ländern geschah, und zwar in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Die Nation habe sich sowohl in der Literatur als auch darüber hinaus als modernisierungsfähig und identitätsstiftend bewährt.

Die drei Kapitel des zweiten Teils illustrieren diesen Prozess am Beispiel der Diskussion von literarischen Übersetzungsproblemen. Für den literaturwissenschaftlichen Laien ist dies der interessanteste und aufschlussreichste Teil der Studie. Am Beispiel von Volksliedern und Balladen und der darauf aufbauenden Debatte über „nationales“ Versmaß demonstriert Cooper die Geburt nationaler Literaturen aus autochthoner Tradition und kulturellem Transfer. Gleichsam als Nebeneffekt demonstriert Cooper, dass Übersetzungsphänomene als Teil des Kulturtransfers nicht notwendigerweise ein Nachweis kultureller Rückständigkeit sein mussten, da sowohl die russische wie auch die tschechische Literatur sich im europäischen Kontext sehr schnell Anerkennung um ihrer Eigenständigkeit willen erwarben.

Der dritte Teil vertieft zunächst die Analyse der im ersten Teil umrissenen Debatten durch eine begriffsgeschichtliche Untersuchung. Cooper verfolgt die Diskussion von zentralen Begriffen der Klassik und Romantik, wie libozvučnost’ oder klassičnost’ einerseits, und narodnost’ andererseits. Hier geht es ihm offensichtlich nicht nur um den Nachweis der literarischen Umsetzung, die zu beurteilen ich mich außerstande sehe, sondern auch der gesellschaftlichen Relevanz. Im russischen Falle rekonstruiert er in für meine Begriffe überzeugender Weise, wie von Anfang an sowohl staatskritische als auch staatsbewahrende Kräfte an ein und demselben Diskurs teilhatten. Cooper verweist im abschließenden Kapitel des Abschnittes auch auf den engen Zusammenhang mit der zaristischen Bildungspolitik und deren Rolle in der Schaffung einer nationalen (imperialen) Intelligenz, verkörpert etwa durch Uvarov.

So ist Cooper mit seinem Buch ein sehr materialreicher und originell argumentierender literaturwissenschaftlicher Beitrag zur Nationalismusforschung gelungen, der bekannte Einsichten und neue Funde unter einem neuen Blickwinkel untersucht. Auch die ausführlichen Anmerkungen, das Literaturverzeichnis und der detaillierte Index verdienen Anerkennung. Aufgrund des thematischen und nicht unbedingt chronologischen Ansatzes erleichtert es vor allem der Index, Querverbindung nachzuvollziehen. Leider kann dem Verlag dieselbe Sorgfalt nicht attestiert werden; im Buch finden sich häufig Satzfehler.

So sehr der Rezensent als Historiker nach der Lektüre bereit ist zu konzedieren, dass die Nationalismusforschung bisher die Eigenlogik der Literaturentwicklung nicht adäquat berücksichtigt haben mag, so wenig scheint Coopers weitergehende Schlussfolgerung nachvollziehbar: Er scheint zu suggerieren, dass literarische Debatten nicht nur Nationalliteraturen, sondern letztlich auch den Nationalismus selbst hervorgebracht hätten (S. 29, 254255). Da Cooper sozialhistorische Hintergründe weitgehend außer Acht lässt, kann das Buch eine so weitgehende These kaum stützen. Die materialreiche und gut geschriebene Studie stellt interessante Fragen, die Notwendigkeit eines Ikonoklasmus in der Nationalismusforschung belegt sie meines Erachtens nicht.

Christian Noack, Amsterdam

Zitierweise: Christian Noack über: David L. Cooper: Creating the Nation: Identity and Aesthetics in Early Nineteenth-century Russia and Bohemia. DeKalb: Northern Illinois University Press, 2010. vii + 347 S.; Hardcover, Illustrationen, Anmerkungen, Literaturverzeichnis, Index, ISBN: 978-0-87580-420-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Noack_Cooper_Creating_the_Nation.html (Datum des Seitenbesuchs)

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