Mathias Niendorf Das Großfürstentum Litauen. Studien zur Nationsbildung in der Frühen Neuzeit (1569–1795). Harrasowitz Verlag Wies­ba­den 2006. 329 S., 3 Ktn. = Veröffentlichungen des Nordost-Instituts, 3. ISBN: 3-447-05369-0.

Die Monographie von Matthias Niendorf beschäftigt sich mit einem in der europäischen Geschichtsschreibung noch wenig erforschten The­ma, und zwar mit der Frage der Nationsbildung in der Frühen Neuzeit. Dies gilt vor allem für die Nachfolgestaaten des Großfürstentums Litau­en. Dies ist sicher auch dem Umstand geschuldet, dass jeder Historiker, der sich mit dem mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Litauen beschäftigt, zusätzliche Hürden wie die Notwendigkeit, die litauische, polnische, weißrussische und russische Sprache ausreichend zu beherrschen, sowie die Schwierigkeit, Zugang zur Literatur aus den Regionen zu finden, zu überwinden hat. Niendorf ist einer der wenigen deutschen Historiker, der die oben erwähnten Probleme durch seine sprachliche Kompetenz sowie seine persönlichen Kontakte zu den in der Region forschenden Historikern bewältigt hat. Die Liste der von ihm verwendeten Literatur vor allem in litauischer, polnischer und weißrussischer Sprache ist beeindruckend, was bei westlichen Historikern eher die Ausnahme als die Regel darstellt.

Die Erforschung der Probleme der Nationsbildung im Großfürstentum Litauen in der Zeit von 1569 bis 1795 wird nicht nur durch formale Hindernisse erschwert, sondern auch durch den Gegenstand selbst. Die frühneuzeitliche Nation des Großfürstentums Litauen war von Anfang an multiethnisch und multikonfessionell geprägt. Dies bedeutete, dass die schon früher an den Beispielen Deutschlands und Frankreichs ausgearbeiteten theoretischen Schemata sich nicht immer als für die politische Nation Litauen passend erwiesen. Deshalb musste Niendorf im methodischen Ansatz Neuland betreten.

Seine guten Kenntnisse der Geschichte des Groß­fürstentums Litauen beweist Niendorf schon im ersten Kapitel, in dem er die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen bespricht. Die Zusammenfassung der historischen Entwick­lung des frühneuzeitlichen litauischen Staates 1569–1795 ist vorbildlich, auch gemessen an Maßstäben für Forscher, die sich hauptsächlich mit dieser Geschichte beschäftigen.

Bei der Erforschung der frühneuzeitlichen Nation des Großfürstentums Litauen war Niendorf gezwungen, sich mit Problemen zu beschäftigen, die auf den ersten Blick keinen direkten Zusammenhang mit dem Thema haben. Da­bei gewinnt er neue Erkenntnisse, auf die frü­her in der Historiographie nicht geachtet wurde. Ein sehr gutes Beispiel, wie komplex Nien­dorf die Problematik untersucht hat, ist die Interpretation der Reformationsprozesse im Großfürstentum. Als einen der Beweggründe, warum sich der litauische Adel der Reformationsbewegung anschloss, sieht Niendorf den Wunsch, die nationale Identität bei den Bewohnern des Großfürstentums zu stärken. Diese Interpretation ist in der Geschichtsschreibung des Großfürstentums Litauen völlig neu, obwohl es genügend For­schungen über diese Problematik gibt.

Aus der insgesamt ausgezeichneten Forschungs­arbeit Niendorfs sei das 4. Kapitel „Zur Rolle des Religiösen“ als besonders gelungen hervorgehoben. Der Verfasser interpretiert hier zum ersten Mal in der Geschichtsschreibung die Bedeutung der Heiligenkulte für den Nationsbildungsprozess im Großfürstentum Litauen. Wichtig ist dabei, dass diese Problematik für das gesamte Großfürstentum untersucht wird. Niendorf gelingt der Nachweis, dass manche Heiligen­kulte nicht nur bei den katholischen Litauern vorhanden waren, sondern auch im ruthenischen Teil des Großfürstentums. Sie bildeten damit einen die politische Nation integrierenden Faktor. Obwohl diese Forschungsergebnisse ganz neu sind, so sollte man sie doch in ihrer Bedeutung nicht überschätzen. Die Heiligenkulte einten nur die Anhänger der katholischen und der unierten Kirche, während der russisch-orthodoxe Teil der Bevölkerung des Großfürstentums von der Einigungskraft dieser Kulte fast nicht berührt wurde. Damit bleibt die Frage nach den ideologischen Grundlagen der gesamten politischen Nation des Großfürstentums Litauen unbeantwortet. Allerdings ist einzuräumen, dass es fast unmöglich ist, in der multikonfessionellen Gesellschaft der frühen Neuzeit eine einzige gemeinsame Ideolo­gie zu finden. Wenn es sie überhaupt gab, dann müsste man sie nicht im religiösen Leben, sondern im staatlichen Bereich suchen. Im ersten Kapitel seiner Habilitationsschrift macht Niendorf die wichtige Bemerkung, dass die Rolle der weltlichen Umgebung des Großfürsten bei der „Erfindung“ der litauischen Nation von viel größerer Bedeutung war als die Rolle der Geistlichen, und dass es sich hierbei um ein Spezifikum des Großfürstentums Litauen gehandelt ha­be. Er macht auch auf den Kult um den Großfürs­ten Vytautas (1392–1430) als eine einigende Kraft der ganzen Gesellschaft aufmerksam. Diesen Beobachtungen kommt in Niendorfs Arbeit leider nur die Bedeutung von Randbemerkungen zu, obwohl sie meines Erachtens Antwort darauf geben könnten, mit wem sich die gesamte litauische Gesellschaft identifizieren konnte, besaß der Vytautas-Kult doch in der Tat eine die Gesell­schaft integrierende Wirkungsmacht. Bemer­kens­wert und gleichfalls typisch für die litauische Gesellschaft der Zeit war der unterschiedliche Inhalt dieses Kults. Im ruthenischen Teil des Großfürstentums wurde Vytautas für seine „Hel­dentaten“ in der Ostpolitik verehrt, im katholischen Litauen wurde dagegen die Westpolitik des Großfürsten viel höher geschätzt.

Ein anderer spezifischer Zug des frühneuzeitlichen Litauen sind die sehr stark ausgeprägten regionalen Identitäten innerhalb der Nation. Nien­dorf erkennt dieses Problem, wenn er über die Žemaiten als einen möglichen Fall von verhinderter Nationsbildung spricht. Damit ist aber die Vielfalt der möglichen, nicht Realität gewor­de­nen Entwicklungen noch nicht erschöpft. Wenn sich eine žemaitische Nation nicht vollständig entwickelt hat, wie steht es mit den Ukrainern? Haben sie die Chance zur Nationsbildung im 17. Jahrhundert genutzt? Gab es so etwas wie die regionale Identität der Weißrussen, die im 20. Jahrhundert zu einer nationalen Identität wurde? Diese Fragen bleiben im Buch von Niendorf unbeantwortet, was dem Verfasser kaum vorzuwerfen ist. Ihre Beantwortung setzt nämlich – wie im Falle der Ukraine – die Beschäftigung mit der Geschichte des gesamten pol­nisch-litauischen Staates voraus, was Niendorfs Untersuchung aber überhaupt erst ermöglicht hat. Damit eröffnet das Buch neue Forschungsperspektiven für andere Historiker.

Alvydas Nikžentaitis, Vilnius

Zitierweise: Alvydas Nikžentaitis über: Mathias Niendorf Das Großfürstentum Litauen. Studien zur Nationsbildung in der Frühen Neuzeit (1569–1795). Harrasowitz Verlag Wiesbaden 2006. 329 S., 3 Ktn. = Veröffentlichungen des Nordost-Instituts, 3. ISBN: 3-447-05369-0., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 1, S. 125-126: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Nikzentaitis_Niendorf_Grossfuerstentum_Litauen.html (Datum des Seitenbesuchs)