Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 2, S. 332-334

Verfasst von: Dietmar Neutatz

 

Yuliya von Saal: KSZE-Prozess und Perestroika in der Sowjetunion. Demokratisierung, Werteumbruch und Auflösung 1985–1991. München: Oldenbourg, 2014. X, 404 S., Abb., 3 Tab.. = Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 100. ISBN: 978-3-486-70510-2.

In ihrer an der Universität Erlangen-Nürnberg angenommenen Dissertation untersucht Yuliya von Saal den Zusammenhang zwischen der Innenpolitik in der Sowjetunion unter Gorbačev und dem KSZE-Prozess. Sie möchte zeigen, welche Rolle die Helsinki-Schlussakte und die KSZE-Folgekonferenzen für die Aktivitäten der Menschenrechtsbewegung in der Sowjetunion und für die schrittweise Implementierung der Grundfreiheiten und Menschenrechte in der Sowjetunion während der Perestrojka spielten. Die Verfasserin tritt nicht mit dem Anspruch auf, die Machterosion und den Legitimationsverlust der Kommunistischen Partei und den daraus resultierenden Zusammenbruch der Sowjetunion völlig neu zu erklären, wohl aber die bisherigen Erklärungsansätze (ökonomische Krise, imperiale und soziale Überdehnung, „Gorbačev-Faktor“) um einen bislang vernachlässigten Aspekt zu ergänzen. Sie fragt nach reziproken Verbindungen zwischen der sowjetischen KSZE-Politik und den politisch-gesellschaftlichen Veränderungen unter Gorbačev.

Schon lange herrscht in der Forschung Konsens darüber, dass die Unterzeichnung der Helsinki-Schlussakte 1975 den Dissidenten in Osteuropa den Rücken stärkte, weil sich die Sowjetunion in „Korb III“ dazu verpflichten musste, die Menschenrechte zu achten. Brežnev und die führenden sowjetischen Staatsmänner hatten die reale Bedeutung dieser Verpflichtung unterschätzt und nicht realisiert, dass sie mit der Anerkennung eines kodifizierten Normenkatalogs, der im Widerspruch zur rechtlichen Praxis der kommunistischen Regime stand, mittelfristig deren Legitimität untergruben. Zwar gelang es dem Staatssicherheitsapparat in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, die Dissidentengruppen durch systematische Aktionen zu zerschlagen, aber wie das letzte Jahrzehnt der Sowjetunion zeigen sollte, hatten diese Maßnahmen keine nachhaltige Wirkung. Das über die KSZE transportierte westlich-liberale, auf Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat zielende Wertesystem fand vielmehr – so die Ausgangsthese des Buches – Eingang in das Denken nicht nur der Dissidenten, sondern breiterer Kreise der sowjetischen Gesellschaft bis hin zur Parteiführung.

Wie dieser soziokulturelle Prozess der Infiltration mit westlichem Gedankengut funktionierte und die innere Ordnung der Sowjetunion veränderte, war bislang nicht systematisch untersucht worden. In diese Lücke stößt die Verfasserin, ausgehend von einer profunden Kenntnis des Forschungsstandes, den sie in der Einleitung souverän darlegt und aus dem sie ihr Erkenntnisinteresse ableitet. Sie formuliert klare Fragen, nämlich 1. welche Ziele die Sowjetunion in den KSZE-Verhandlungen verfolgte, 2. wie sich der KSZE-Prozess auf die Reformen Gorbačevs und auf die politische Mobilisierung der Gesellschaft auswirkte und inwieweit die Liberalisierungsschritte während der Perestrojka in einem Zusammenhang mit der KSZE stehen, 3. welche normative Wirkung der KSZE-Prozess auf den Diskurs und das Wertesystem der sowjetischen Gesellschaft hatte, und 4. wie die Perestrojka auf den KSZE-Prozess zurückwirkte und die sowjetischen außenpolitischen Motive und Strategien veränderte.

Die Quellengrundlage ist umfassend. Ausgewertet wurde nicht nur publiziertes Material (Presse, Selbstzeugnisse, sonstige gedruckte Quellen), sondern die Verfasserin konnte auch in mehreren russischen Archiven arbeiten und hat zusätzlich Interviews geführt sowie unveröffentlichte autobiographische Schriften aus Privatbesitz aufgetrieben. Herausgekommen ist eine bestens fundierte und gleichzeitig gut lesbare, lebendige, anschauliche und argumentativ überzeugende Studie über die Endphase der Sowjetunion. Das Buch gliedert sich in drei Abschnitte: Zunächst beschreibt die Verfasserin das internationale Umfeld von der KSZE-Schlussakte 1975 bis 1985 und dem Beginn der Perestrojka. Der überwiegende Teil des Buches ist dann den innenpolitischen Folgen des KSZE-Prozesses in der Sowjetunion unter Gorbačev zwischen 1986 und 1989/90 gewidmet. Er handelt vom Machtverlust der Kommunistischen Partei gegenüber der sich emanzipierenden Gesellschaft, vom Sieg der Meinungs- und Pressefreiheit über die Zensur, von der Entkriminalisierung der Ausreisebewegung, dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, der Mobilisierung der Opposition sowie den politischen Reformen und dem finalen Kontroll- und Legitimitätsverlust der Kommunistischen Partei. Der letzte Abschnitt ist der wechselseitigen Beschleunigung von KSZE-Prozess und innerer Demokratisierung mit dem Ergebnis des Zusammenbruchs der Sowjetunion 1989–1991 gewidmet.

Der Verfasserin gelingt es, ihre These von der erheblichen Bedeutung des KSZE-Prozesses für den inneren Wandel in der Sowjetunion zu erhärten. An vielen Beispielen kann sie zeigen, wie auf den verschiedenen Ebenen der Gesellschaft und der Politik das Normensystem von Helsinki Wirkungsmächtigkeit entfaltete, unmittelbar die Liberalisierungsprozesse in der Sowjetunion dynamisierte und damit zum Zusammenbruch des kommunistischen Regimes beitrug. Während der Perestrojka übernahm die sowjetische Gesellschaft und mit ihr auch die Staatsführung zentrale westliche Werte wie Demokratie, Pluralismus, Meinungsfreiheit und auch Marktwirtschaft, wodurch das sowjetische Normensystem ausgehebelt wurde und die kommunistische Ideologie zusammen mit dem monopolistischen Machtanspruch der Partei erodierte. Die KSZE wurde ab 1988 zum Instrument und Argument der radikalen Reformer und zum Vehikel der Demokratisierungspolitik und mündete in die Vorstellung eines gemeinsamen freien Europa mit der Sowjetunion als gleichberechtigtem Mitglied.

Die Darstellung überzeugt, ist allerdings nicht immer auf die Kernfragestellung fokussiert. Streckenweise gerät sie vielmehr zu einer politischen Geschichte der Perestrojka, bei der zwar immer wieder der Bezug zur KSZE hergestellt wird, die aber grundsätzlich breiter angelegt ist und die Kontexte ausführlich darlegt. Diese breite Kontextualisierung der eigentlichen Fragestellung erweckt beim Leser zwischendurch den Eindruck, es mit einer umfassenden Geschichte der Sowjetunion zu tun zu haben. Dies ist insofern ein wenig trügerisch, als das Ökonomische, dem gemeinhin eine entscheidende Bedeutung für den Zusammenbruch des Kommunismus beigemessen wird, ausgeblendet bleibt. Letzteres war eine sinnvolle Entscheidung, denn die ökonomischen Faktoren mit hineinzupacken, hätte den Ansatz des Buches verwässert. Der Multikausalität des Niedergangs der Sowjetunion ist sich die Verfasserin bewusst. In der Zusammenfassung ordnet sie ihre Befunde in das Bild einer mehrere Bereiche umfassenden politischen und ökonomischen Krise ein.

Insgesamt hat Yuliya von Saal eine auf breiter Quellengrundlage und in der stringenten Argumentation rundum überzeugende Untersuchung vorgelegt, die nicht nur für Sowjetunionspezialisten interessant ist und zu Recht in der gut sichtbaren Reihe des Münchner Instituts für Zeitgeschichte erschienen ist. Auch sprachlich-stilistisch bewegte sich der Text auf einem hohen Niveau und ist durchgängig gut verständlich und flüssig lesbar.

Dietmar Neutatz, Freiburg

Zitierweise: Dietmar Neutatz über: Yuliya von Saal: KSZE-Prozess und Perestroika in der Sowjetunion. Demokratisierung, Werteumbruch und Auflösung 1985–1991. München: Oldenbourg, 2014. X, 404 S., Abb., 3 Tab.. = Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 100. ISBN: 978-3-486-70510-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Neutatz_Saal_KSZE-Prozess_und_Perestroika.html (Datum des Seitenbesuchs)

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