Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 3

Verfasst von: Dietmar Neutatz

 

Histoire totale mit Abstrichen

„1937“ – in Russland genügt die Nennung dieser Jahreszahl, um Assoziationen an eines der schrecklichsten Kapitel des 20. Jahrhunderts zu wecken. „1937“ steht für den Höhepunkt des stalinistischen Massenterrors, dem allein in diesem Jahr fast 700.000 Menschen zum Opfer fielen. Im Westen bleiben diese Vorgänge in der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, weil sie von der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen zugedeckt wurden. Inzwischen gibt es zwar eine umfangreiche wissenschaftliche Literatur über das Morden im Stalinismus, aber ihre Reichweite ist begrenzt. Schon von daher ist es nur zu begrüßen, dass Karl Schlögel, der sich bereits mehrfach als öffentlichkeitswirksamer Osteuropahistoriker profiliert hat, nun auch dieses Sujet in der ihm eigenen unkonventionellen Weise aufgegriffen hat.

Schlögel nimmt die Ungeheuerlichkeit der Vorgänge, die das Jahr 1937 kennzeichnen, zum Ausgangspunkt, aber er geht in seiner Darstellung weit über den stalinistischen Terror hinaus. „Traum“ ist sein zweites Leitmotiv – und damit stellt er den Schrecken des Stalinismus in ein Spannungsverhältnis zu der Vision von der lichten Zukunft, die nicht weniger als der Terror zum Stalinismus gehörte. Auch dafür eignet sich das Jahr 1937, denn es war ein Jubiläumsjahr: Zwanzig Jahre Oktoberrevolution bildeten den Anlass für Feiern und für Inszenierungen des sozialistischen Projekts.

In insgesamt 38 Kapiteln führt der Verfasser den Leser durch die Stadt Moskau und durch das Jahr 1937. Er beginnt mit der topographischen und thematischen Rückbindung von Textauszügen aus Michail Bulgakovs Roman „Der Meister und Margarita“ in das Moskau des Jahres 1937. Eine Betrachtung des Adressbuchs von 1936 leitet über zum Verschwinden von Menschen im Großen Terror. Der Terror macht einen Rückblick auf den Schauprozess gegen das „trotzkistisch-sinowjewistische terroristische Zentrum“ im August 1936 notwendig. So hat der Leser eine ausreichende Einstimmung, um die Problematik der ersten Episode des Jahres 1937 verstehen zu können: des Besuches von Lion Feuchtwanger in Moskau und seiner Audienz bei Stalin im Januar 1937. Damit beginnt eine lange Reihe von Stationen, die Schlögel chronologisch angeordnet hat. Am Ende steht wieder die Topographie Moskaus in Gestalt der Baugrube für den gigantischen „Palast der Sowjets“, der an der Stelle der gesprengten Christerlöserkathedrale das zentrale Monumentalgebäude der Hauptstadt des Sozialismus werden sollte.

Dieses Kompositionsprinzip ist faszinierend wie problematisch zugleich. Faszinierend, weil es den Leser in ein komplexes und widersprüchliches Szenario mitnimmt. Die klassische Monographie zum Stalinismus fokussiert auf einen oder wenige Aspekte und blendet andere aus. Bei Schlögel steht hingegen vieles nebeneinander: der Terror, das Massenfest, der Sport, der Film, die Party in der amerikanischen Botschaft, das Symphoniekonzert – um nur wenige Facetten aufzuzählen. Anliegen Schlögels ist es, einen Eindruck davon zu vermitteln, was es bedeutete, in der Sowjet­union unter Stalin zu leben. Er möchte „historiographisch zusammenbringen, was geschichtlich und lebensweltlich immer schon zusammengehört hat, durch die Arbeitsteilung der Wissenschaft aber voneinander separiert worden ist“ (S. 22). Ihm geht es um das Herauspräparieren einer ganzen Konstellation, um eine histoire totale. Seine Bezugskategorien sind der gemeinsame Raum und die gemeinsame Zeit. Problematisch ist die Komposition, weil das Buch aus weitgehend autonomen Kapiteln besteht, die nur lose miteinander verbunden sind, und weil es sich letztlich doch wieder überwiegend um eine Sicht von außen und von oben handelt. Außerdem dominiert der deskriptive Zugriff. Es bleibt vielfach dem Leser überlassen, Schlussfolgerungen zu ziehen und Zusammenhänge herzustellen.

Die analytische Komponente konzentriert sich auf die kausale Verknüpfung mehrerer Aspekte im Hinblick auf eine Erklärung des Massenterrors: Schlögel möchte zeigen, wie in der Atmosphäre des Misstrauens Fakten wie Volkszählungsergebnisse und Berichte über die sozialen Verhältnisse in der obersten Parteiführung ein subjektives Bedrohungsgefühl erzeugten, das in die Verhaftung von Millionen und die Erschießung von Hunderttausenden mündete.

Diese Interpretation des Großen Terrors als ein aus subjektivem Bedrohungsgefühl der obersten Führung resultierender Befreiungsschlag geht im Kern auf John Arch Getty zurück, dessen Thesen in der Stalinismusforschung allerdings keineswegs als common sense gelten können. Schlögel stellt einen Kausalzusammenhang zwischen der Verfassung von 1936 und dem Terror her: Die durch die neue Verfassung geschaffene Notwendigkeit, „allgemeine, freie und geheime“ Wahlen zum Obersten Sowjet zu veranstalten, habe dazu geführt, dass die Parteiführung auf dem Februar-März-Plenum des Zentralkomitees angesichts weit verbreiteter Unzufriedenheit im Land und der scheinbar ungebrochenen Präsenz „feindlicher“ und „konterrevolutionärer“ Elemente ihre Macht und die Stabilität des Regimes gefährdet sah und die Flucht nach vorne antrat.

Schlögel lässt die stenographischen Protokolle ausgiebig sprechen und zeigt eine Führung, die ‚am Ende‘ ist und in Panik verfällt. Die Wahlen von 1937 (die natürlich keine ‚freien‘ im demokratischen Sinne waren, aber den bis dahin von politischer Mitbestimmung ausgeschlossenen sozialen Schichten die Möglichkeit der Stimmabgabe eröffneten) schienen ohne die physische Liquidierung derer, die das Machtmonopol des Regimes hätten gefährden können, nicht durchführbar. Am Ende stand der berüchtigte Befehl Nr. 00447 vom Juli 1937, auf dessen Grundlage der NKVD Hunderttausende Menschen ermordete. Das Kapitel über das Februar-März-Plenum des Zentralkomitees ist sicherlich eines der stärksten des Buches. Der Deutungsansatz, der die in der Forschung wenig beachtete Verfassung von 1936 mit neuer Bedeutung auflädt, ist originell und diskussionswürdig, allerdings erscheint es problematisch, ihn in einem auf breite Leserschaft zielenden Buch als die Erklärung schlechthin für den stalinistischen Terror zu verkaufen, ohne andere Erklärungsansätze auch nur zu erwähnen.

Was den im Titel beschworenen „Traum“ betrifft, so bewegt sich der Verfasser in Sujets, in denen er sich erkennbar wohler fühlt als auf den Genickschussanlagen von Butovo. Gleich zu Beginn des Buches behandelt er den „Generalplan zur Rekonstruktion Moskaus“ aus dem Jahre 1935, der die Stadt zur Welthauptstadt des Kommunismus und zum Schaufenster einer Gesellschaft neuen Typs machen sollte. In Plänen, Prachtbänden und Filmen wurde die Zukunft antizipiert – Genres, mit denen Schlögel wie gewohnt souverän umgeht. Die direkte Heranziehung dieser Quellen überzeugt durch Frische und Originalität.

Schlögel zeigt das Moskau, wie es die Machthaber als Wunschvorstellung und Vision in die Zukunft projizierten, und erklärt die Semantik und die Bezüge von Architektur und Stadtplanung. Im Kapitel „Schaufenster Moskau“ führt er dem Leser vor Augen, wie die Stadt 1937 sein wollte: modern, auf der Höhe der Zeit, gut versorgt, sogar mit Luxusartikeln und Leuchtreklamen – aber alles vor dem Hintergrund permanenter Warenknappheit und einer gerade erst überwundenen Hungersnot. Reklame und Auslagen repräsentierten einen „Als-ob-Markt“. Es ging nicht wirklich um den Konsum der beworbenen Artikel, sondern um Erziehung des Volkes zu „Kultiviertheit“.

Schlögel führt den Leser auch in das andere, das reale Moskau von 1937: in die unter eklatantem Wohnraummangel leidende Stadt der Arbeitsmigranten, in das bäuerliche Milieu der Randbezirke mit ihren Holzhäusern, Baracken und Notunterkünften, in denen wenig Urbanes spürbar war. Im Kapitel über das Stalin-Autowerk spannt er geschickt den Bogen von den chaotischen Verhältnissen in der Fabrik zur Spezifik des Jahres 1937: Die Neuwahlen der Parteiorgane gingen mit einer von oben angefachten Dynamisierung der zugewanderten Arbeiter einher, die nun ihre ganze Frustration und Unzufriedenheit auf das Leitungspersonal und die Parteifunktionäre der unteren Ebenen abladen konnten. Auch das war eine Facette des Großen Terrors.

Am Beispiel der Eröffnung des Moskva-Volga-Kanals demonstriert Schlögel die sowjetische Euphorie, die Natur bezwingen zu können, kombiniert mit der Vorstellung der Großbaustelle als Ort der Transformation von Menschen und des fertigen Bauwerks als Gesamtkunstwerk. Hier ist Schlögel in seinem Element: bei der topographischen Verortung von für das System und die Gesellschaft kennzeichnenden Phänomenen. Die Einbindung in den Kontext von Repression, Sklavenarbeit und Terror macht dem Leser auch hier bewusst, dass er sich im Jahre 1937 befindet. Der Alltag der beim Kanalbau eingesetzten Sträflinge wird eindringlich beschrieben und dem offiziellen Postulat von der „Umschmiedung“ der Arbeiter gegenübergestellt.

In den Kapiteln über den Allunionskongress der Architekten und über das Verhältnis zu Amerika wird deutlich, dass sowjetische Architekten und Stadtplaner auch am Ende der dreißiger Jahre durchaus nach Westen blickten. Die Reduktion der sowjetischen Moderne auf die durch eine Amerikareise inspirierte Utopie des Satirikers Evgenij Petrov wirkt zwar eindimensional, aber die amerikanischen Inspirationen des Architekten Boris Iofan für den „Palast der Sowjets“ arbeitet Schlögel überzeugend heraus. Das Projekt war einerseits Inbegriff des stalinistischen Monumentalbaus, andererseits aber direkt beeinflusst vom New Yorker Rockefeller Center und damit Teil einer über die stalinistische Sowjetunion hinausgehenden metropolitanen Architektur.

Befremdlich wirkt das Kapitel über Lion Feuchtwangers unsägliches Moskau-Buch aus dem Jahre 1937, in dem er die stalinistischen Schauprozesse rechtfertigte. Schlögel möchte verstehen, warum ein westlicher Intellektueller zu dieser Sichtweise kommen konnte, er möchte den Denkhorizont der Zeitgenossen rekonstruieren. Er hat zweifellos Recht, wenn er Feuchtwangers Parteinahme für Stalin mit der Bedrohung durch Hitler erklärt, aber die Auswahl der Zitate aus Feuchtwangers Buch erweckt den Eindruck eines differenzierenden Beobachters und lässt sich nur schwer mit den eigentlichen Grundaussagen des Buches vereinbaren. In wohlweislich nicht zitierten Passagen leugnete Feuchtwanger immerhin die Existenz eines (von ihm in Gänsefüßchen gesetzten) „Terrors“ und bescheinigte Stalins Sowjetunion „im höchsten Sinne humane“ Ziele. Falscher konnte man das, was 1937 in Moskau geschah, nicht charakterisieren.

Umso mehr irritiert, dass ausgerechnet Feuchtwanger und der von seinen Diplomatenkollegen als naiv beschriebene amerikanische Botschafter Joseph E. Davies mit als die wichtigsten Zeitzeugen ins Treffen geführt werden. Der ganz normale Moskauer Sowjetbürger ist hingegen in Schlögels Darstellung erstaunlich wenig präsent. Entgegen seiner eingangs erklärten Absicht gelingt es dem Verfasser daher nur bedingt, die Lebenswelten von Moskau 1937 nachvollziehbar zu machen. Der Leser erfährt einiges darüber, was die Moskauer 1937 in der Zeitung lesen konnten, aber wenig davon, wie sie damit umgingen. Das subjektive Erleben tritt überwiegend in langen Zitaten aus den Selbstzeugnissen einer Handvoll immer wiederkehrender Personen entgegen, die fast durchwegs nicht die Moskauer Bevölkerung, sondern die Sicht von Ausländern, Funktionären und Intellektuellen repräsentieren: des amerikanischen Botschafters Davies, der Schriftsteller André Gide und Lion Feuchtwanger, des Kominternchefs Dimitrov, der Ehefrau des Schriftstellers Bulgakov. Daneben werden mehrmals das schon seit 1962 bekannte Tagebuch der Komsomolzin Nina Kosterina und einmal das ebenfalls in der Literatur viel bemühte Tagebuch von Stepan Podlubnyj zitiert. Die überlangen und häufig unkommentierten Zitate aus den erwähnten Texten suggerieren eine Authentizität des Erlebens, die in Anbetracht der mangelnden Repräsentativität nur eine scheinbare sein kann. Besonders kommt das im Kapitel über die Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution zum Tragen, wo sich Schlögel darauf beschränkt, die Berichte von Davies und Dimitrov über Seiten hinweg wörtlich abzudrucken.

Erbaulicher ist das Kapitel über die Traumwelten des sowjetischen Films. In „Sowjet-Hollywood“ vermittelt Schlögel dem Leser einen Eindruck davon, welche Filme die Zeitgenossen sahen – und der Kinobesuch gehörte gerade in der Hauptstadt zu den wichtigsten Freizeitaktivitäten. Überzeugend demonstriert der Verfasser, wie sowohl Lebenswirklichkeit als auch Zukunftsprojektionen Eingang in die Filme fanden. Die Traumwelt der Filme war unmittelbar auf die Lebenswelt bezogen: Gewöhnliche Menschen kämpfen für eine bessere Welt, wachsen in der Überwindung von dunklen Gestalten zu Helden. Hier wird wieder einmal deutlich, dass Unterhaltungs- und Freizeitkultur keinen Gegensatz zum Stalinismus bildeten, sondern dessen integraler – und streng kontrollierter –Bestandteil waren. Das gilt für das Kino genauso wie für den Gor’kij-Kultur- und Erholungspark, den Kulturpalast der Stalin-Autowerke oder das populäre „Lied von der Heimat“.

Insgesamt hinterlässt das Buch einen zwiespältigen Eindruck: Von der Grundkonzeption her faszinierend und stilistisch wie gewohnt meisterhaft, vermittelt es in attraktiver Form wichtige Einblicke. Die darstellerische Kraft wird allerdings erkauft mit dem Verzicht auf eine differenzierende Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Deutungen. Überhaupt hätte die Rückbindung in die neuere Sekundärliteratur intensiver ausfallen können, denn vieles von dem, was der Verfasser hier unter Berufung auf Quellentexte darlegt, wurde andernorts schon thematisiert. Schlögels Leistung ist die Verdichtung und Verknüpfung zu einem Gesamtensemble, wobei der selbst gesetzte Anspruch, das Leben im Moskau des Jahres 1937 nachvollziehbar zu machen, aufgrund der Quellenauswahl nur mit Einschränkungen eingelöst wird. Dazu trägt auch bei, dass das Buch nicht in dem Maße auf seinen engeren Gegenstand fokussiert ist, wie es der Titel erwarten ließe. Der Leser erhält eine Menge wichtiger Informationen über die Sowjetunion der dreißiger Jahre, aber an etlichen Stellen fehlt dann eben doch die Konkretisierung, wie sich das Dargelegte für die Menschen in Moskau 1937 manifestierte.

Dietmar Neutatz, Freiburg

Zitierweise: Dietmar Neutatz über: Karl Schlögel: Terror und Traum. Moskau 1937. München: Hanser, 2008. 812 S., Abb. ISBN: 978-3-446-23081-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Neutatz_MR_Schloegel_Terror_und_Traum.html (Datum des Seitenbesuchs)

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