Gregor Thum Die fremde Stadt. Breslau nach 1945. Siedler Verlag Berlin 2003. 639 S., Abb., Ktn.

Diese von Karl Schlögel (Frankfurt/Oder) betreute Dissertation beschreibt eine historisch einzigartige Metamorphose, nämlich die Umwandlung der preußisch-deutschen Provinzhauptstadt Breslau in die polnische Wojewodschaftszentrale Wrocław. Niemals zuvor hat eine so große Stadt „einen totalen Bevölkerungsaustausch dieser Art erlebt“ (S. 44). Der Prozess dieses „Bevölkerungsaustausches“ – was für ein unhistorischer, die Realität beschönigender Terminus! – vollzog sich jedoch nicht nur im Schicksalsjahr 1945, sondern erstreckte sich auf „mehrere Jahre und Jahrzehnte“ (S. 168), und er ist sogar „bis heute nicht abgeschlossen“ (S. 46). Für die polnischen Neusiedler war Breslau nicht nur in jenem Jahr eine „fremde Stadt“, sie blieb es vielmehr so lange, bis sich die verbreitete Furcht, sie könnte früher oder später an die Deutschen zurückfallen, endgültig gelegt hatte.

Der Verfasser erhebt nicht den Anspruch, „Breslaus Nachkriegsgeschichte als Ganzes darzustellen“ (S. 46), auch wenn er – was aus dem Titel nicht hervorgeht – die 57 Jahre zwischen dem Kriegsende (1945) und dem Universitätsjubiläum (2002) mehr oder weniger ausführlich behandelt. Er hat sich gewissermaßen als „roten Faden“ einen Teilaspekt herausgesucht, und der ist für ihn immer „die leitende Frage [...] nach den Konsequenzen des Bevölkerungsaustausches“ (S. 46). Wohl ist er sich bewusst, dass dadurch andere wichtige Gesichtspunkte der Stadtgeschichte in den Hintergrund treten, doch hat sich bei ihm die Auffassung durchgesetzt, dass eben diese ethnische Mutation das „zentrale Element der Breslauer Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg“ (S. 46) darstellt. Lobenswert ist sein Bestreben, das gestellte Thema „Bres­lau“ nicht isoliert zu betrachten, sondern es in die deutsch-polnische Beziehungsgeschich­te (S. 46) einzuordnen.

Als Hauptquelle dienten dem Verfasser offensichtlich Akten der (Staats-)Archive Warschau und Breslau, die er mit bewundernswertem Eifer geradezu akribisch – manchmal vielleicht zu akribisch – ausgewertet hat. Als zweite Quelle ist das umfangreiche polnische Schrifttum zu nennen, von dem er wohl kaum einen Titel übersehen hat. Dankenswerterweise hat er als drit­te Quelle noch Erinnerungen von Zeitgenossen her­angezogen. Auch wenn die Zitate für eine Dissertation wohl zu reichlich ausgefallen sein mögen – 150 Stück von unterschiedlicher Länge, angefangen von vier (S. 120) bis zu 95 Zeilen (S. 248–251) –, so stellen sie doch ebenso wie die 66 aussagestarken Fotos nicht nur eine Bekräftigung der Ausführungen, sondern auch willkommene Auflockerungen dar. Ebenso wie die Quellenzitate und die Fotos trägt der gute, flotte Stil zum besseren Verständnis der Darstellung bei. Manche Seiten sind so spannend ge­schrieben, dass man wirklich gerne weiterliest. Zu loben ist auch die gewissenhafte Red­aktion; Druckfehler wird man mit der Lupe suchen müssen.

Was die leider nicht chronologische Gliederung betrifft, so teilt der Verfasser sein Buch in zwei ungleich große Teile ein, die er wie folgt überschreibt: „Nachkriegszeit. Der Bruch und das Überleben“ (S. 60–244) und „Gedächt­nis­politik. Die Verwandlung der Stadt“ (S. 248–494). Zwar verweist er zwischendurch immer wie­der auf die Historie von Breslau vor 1945, doch widmet er ihr unter der Überschrift „Mythi­sierung der Stadtgeschichte“ (S. 304–337) auch ein eigenes Kapitel. Gebührend betont Gregor Thum die Mittlerrolle der schlesischen Haupt­stadt zwischen dem „preußisch strengen Ber­lin“ und dem „sinnlich barocken Wien“ (S. 15). Er begnügt sich nicht mit trockenen Geschichtsdaten, sondern erweist sich vielmehr als kompetenter Kulturhistoriker, wenn er in seine interdisziplinären Betrachtungen immer insbesondere die Kunstgeschichte, auch die Denkmäler (z.B. S. 407, 409, 521), mit einbezieht. Kritisch zeigt sich der Verfasser gegenüber jenen pol­nischen Historikern, die sich sowohl als „pro­fessionelle Forscher wie als öffentlichkeits­wirksame Propagandisten“ (S. 393) „zuweilen ha­nebüchener ideologischer Konstruktionen“ be­dienten (S. 488), um künstliche Traditionslinien von den Piasten bis 1945 zu entwerfen und das Bild einer „urpolnischen“ Stadt zu zeichnen (S. 393, auch 309). Doch sobald er sich selbst mit dem Nationalitätenverhältnis befasst, verrät er Unsicherheit. Mehrmals bezeichnet er Breslau als eine „deutsche Stadt“ (z.B. S. 15, 45), ein anderes Mal dagegen überschreibt er sogar einen ganzen Abschnitt mit der irreführenden Über­schrift „Bastion des Polentums“ (S. 324–329). Hätte er die amtliche Wahlstatistik herangezogen, hätte er feststellen können, dass bei der Reichstagswahl von 1912, der letzten vor dem Ersten Weltkrieg, sich lediglich 0,2 % der Breslauer (Männer) für eine polnische Liste entschieden haben.

Bei der Schilderung der 57-jährigen Metamorphose beschönigt der Verfasser nichts, was in der „Hauptstadt des wilden Westens“ (S. 260) pas­sierte – weder die sowjetischen noch die polnischen Montagen während der „Kohabationszeit“ (S. 134), als die gebliebenen bzw. die nach Kriegsende wieder zurückgekehrten Deutschen mit den zugewanderten Polen zusammenleben mussten, noch die „Deurbanisierung“ (S. 162) der ehemaligen Großstadt durch die aus Dörfern und Kleinstädten zugewanderten Umsiedler (60–70 %), die bei ihrer Ankunft einen „Kulturschock“ (S. 162, 253) erlebten, noch die ungeheuren Schwierigkeiten, die sich für die polnischen „Pioniere der ersten Stunde“ insbesondere beim Aufbau einer neuen Stadtverwaltung ergaben. Der Verfasser verschweigt auch nicht die Differenzen, die nach der Neubesiedlung in der zu­sammengewürfelten „heterogenen Migra­tions­gesellschaft“ (S. 49) entstanden und mehr oder weniger lang anhielten. Eine zuverlässige Statistik über die regionale Herkunft der Neubreslauer dürfte es kaum geben, doch sollen 70–75 % freiwillig aus Zentralpolen gekommen sein (S. 524) und nur etwa 10 % aus ostpolnischen Wojewodschaften stammen (S. 157). Viel Verständnis bringt der Verfasser für die zuletzt ge­nannten auf, nicht bloß, weil sie Haus und Hof verloren, sondern weil sie „auch die Gräber ihrer Angehörigen zurücklassen“ mussten (S. 37). Hätte er der Objektivität halber nicht auch ein Mitgefühl gegenüber den deutschen Breslau­ern ausdrücken können, die doch überwiegend ein ähnliches Schicksal erlitten hatten?

Bei dem großen Umfang der Darstellung (526 S.) bleiben Wiederholungen und Widersprüche nicht aus, die sich durch ein leider fehlendes Personenregister mindestens zum Teil hätten vermeiden lassen. Dem aufmerksamen Le­ser dürfte z.B. auffallen, dass das Breslau von 1945 einerseits als „Trümmerfeld“ (S. 13), „Trüm­merwüste“ (Klappentext und S. 170) und „Ruinenlandschaft“ (S. 254) bezeichnet wird, an­dererseits aber „kein Mangel an Wohnraum“ be­standen habe, so dass „die ersten Ansiedler [...] beinahe die freie Wahl“ hatten, „sich unter den vielen leer stehenden Wohnungen und Häusern das herauszusuchen, das den eigenen Bedürf­nissen und dem Geschmack am ehesten entsprach“ (S. 201). Wäre ganz Breslau im Sommer 1945 wirklich eine „Trümmerwüste“ gewesen, wären doch auch nicht die „Szabrownicy“ (S. 185), die „professionellen Plünderer“, alltäglich in so großen Scharen aus der nahen und sogar fernen Umgebung in die Stadt eingefallen, um sich an dem „Reichtum an herrenlosem Gut“ (S. 186) zu vergreifen.

Lobenswert ist der Mut und die Offenheit des Verfassers, der die „Schreckensherrschaft“ des fa­na­tischen Gauleiters Karl Hanke (S. 26) bei der Belagerung der Stadt ebenso verurteilt wie den „Exorzismus“ der Polen (S. 356) bei der Aus­rottung des Deutschtums nach Kriegsende. Mit Recht stellt er die Verdienste der Breslauer Germanisten und Kunsthistoriker heraus (S. 518), die sich lange vor der Wende 1989/90 entschieden gegen das ahistorische Ignorieren der re­alen Geschichte gewandt sowie Kontakte mit deutschen Kollegen angeknüpft haben und dadurch zu Wegbereitern einer dringend notwendigen Verständigung zwischen den Polen und den Deutschen geworden sind.

Die sehr zahlreichen Anmerkungen (S. 531–598) und das umfangreiche Quellen- und Litera­turverzeichnis (S. 599–633) bestätigen den enor­men Fleiß und die große Sachkenntnis des Verfassers. Trotz so mancher Mängel wird man ihm bescheinigen müssen, dass er ein Werk ge­schaf­fen hat, das Anerkennung verdient und das jeder heranziehen sollte, der sich mit der Geschichte des deutschen Breslau und des nunmehr polnischen Wrocław beschäftigt.

Helmut Neubach, Zornheim bei Mainz

Zitierweise: Helmut Neubach über: Gregor Thum: Die fremde Stadt. Breslau nach 1945. Siedler Verlag Berlin 2003. ISBN: 978-3-570-55017-5 (korr. Fassung vom 19.10.2009), in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Neubach_Thum_Fremde_Stadt.html (Datum des Seitenbesuchs)