Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 1, S. 150-151

Verfasst von: Viktor Nerlich

 

Thekla Kleindienst: Die Entwicklung der bundesdeutschen Osteuropaforschung im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik. Marburg/Lahn: Verlag Herder-Institut, 2009. IX, 434 S., Abb., Tab., Graph. = Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung, 22. ISBN: 978-3-87969-358-0.

Eines der wesentlichen Merkmale (nicht nur) der deutschen wissenschaftlichen Erforschung Ost(mittel)europas ist aus historischer Sicht ihre Nähe zur Politik bzw. politischen Praxis. Eine geschichtliche Untersuchung der multidisziplinären deutschen Osteuropawissenschaften bliebe daher ohne Berücksichtigung ihrer Beziehung zu den jeweiligen politischen Machtkonstellationen unvollständig. Für die Zeit von 1945 bis Anfang des neuen Jahrtausends liegt mit Thekla Kleindiensts Studie nunmehr ein erster Teilüberblick über das komplexe Verhältnis der bundesdeutschen Osteuropaforschung zur Politik vor. Entstanden am Rostocker Lehrstuhl für vergleichende Regierungslehre, widmet sich die Dissertation der außeruniversitären Osteuropaforschung auf der Grundlage der jeweiligen wissenschaftlichen Zielsetzungen und politischen Anforderungen im Zeichen des Kalten Krieges, der Entspannungs- bzw. Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition, der Auflösung des Ostblocks Anfang der 1990er Jahre und der darauffolgenden Neuorientierung von Wissenschaft und Politik. Ein abschließendes Kapitel problematisiert die Beziehung der deutschen Osteuropaforschung zur Politikberatung. Im Ergebnis gelangt Thekla Kleindienst zu dem Schluss, dass die Rückwirkung politischer Entwicklungen auf die Osteuropaforschung auch für die Zeit nach 1945 charakteristisch blieb.

Für ihre Untersuchung wählt Thekla Kleindienst den institutionellen Zugang und erörtert ausgewählte Einrichtungen der außeruniversitären Osteuropaforschung (Herder-In­sti­tut, Südost-Institut, Osteuropa-Institut, Arbeitsgemeinschaft für Osteuropaforschung, Institut für Ostrecht, Collegium Carolinum und Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien) vor dem Hintergrund ihrer Beziehungen zur Politik. Gerade bei der außeruniversitären Forschung, so die Verfasserin, entstünden aufgrund ihrer Finanzierung durch Bund und Länder exklusive Verbindungen zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik. Es ist daher konsequent, wenn sie die Zweiseitigkeit aus politischen Forderungen einerseits und dem Anspruch der beteiligten Wissenschaftler an sich selbst bzw. gegenüber ihren Fachkollegen andererseits als zentralen Rahmen ihrer Arbeit betrachtet. Thekla Kleindienst möchte jedoch nicht nur die Auswirkungen der (inter)nationalen politischen Ereignisse auf die Osteuropaforschung zeigen, sondern auch die Entwicklungsphasen der ausgewählten Forschungsinstitute einander gegenüberstellen. Dabei interessiert sie sich nicht nur allgemein für das Verhältnis zwischen Politik und Osteuropaforschung unter dem Einfluss von Außen- und Innenpolitik, sondern auch für die Gründe der sich nach ihrer Meinung stets wiederholenden Verständigungsschwierigkeiten zwischen den beiden Beteiligten.

Ungeachtet aller politischen Interdependenzen ging die Initiative für die Wiederbegründung der Osteuropaforschung nach 1945 von wissenschaftlicher Seite aus, wobei sich sehr schnell die Frage nach ihrem Verhältnis zur Politik stellte. Thekla Kleindienst sieht in der politischen Dienstbarmachung der Osteuropaforschung vor 1945, insbesondere während des Zweiten Weltkrieges, das Erbe, das die Gründung der westdeutschen Osteuropaforschung aus heutiger Sicht geprägt habe. Nicht zuletzt deshalb sei man bei der Reorganisation von dem Ziel ausgegangen, eine Popularisierung der Forschungsergebnisse als Aufgabe wissenschaftlicher Tätigkeit anzuerkennen, deren Politisierung hingegen gänzlich zu vermeiden. Gleichwohl empfand man das Bedürfnis, die Politik etwa in der Vertriebenenfrage oder hinsichtlich des Problems der verlorenen Ostgebiete zu unterstützen. Es galt daher von Anfang an, einen Ausgleich zwischen wissenschaftlicher Objektivität und guten Beziehungen zur Politik herzustellen.

Unter diesen Voraussetzungen entstanden zahlreiche Forschungseinrichtungen, die Thekla Kleindienst vor dem Hintergrund der politischen Geschichte nach Forschungszielen, Personalien, rechtlicher Verfassung und Beziehungen zu den sie fördernden Behörden untersucht. Waren anfänglich die landeskundlichen Interessen prägend, trat ab Mitte der fünfziger Jahre die weitgefasste Beschäftigung mit dem Thema Sowjetologie hinzu, die im 1961 gegründetenBundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studienihre eigene Wirkungsstätte fand und sich ausdrücklich als Zweckforschung zur Politikberatung verstand. Sie leitete zugleich eine Entwicklung ein, die im Verlaufe der sechziger und siebziger Jahre die Prävalenz der historischen Disziplin innerhalb der Osteuropaforschung zugunsten sozialwissenschaftlicher Fächer ablöste. Besondere Aufmerksamkeit widmet Thekla Kleindienst dem Gutachten des Bundesrechnungshofes zurLage der bundesgeförderten Osteuropa-Forschungvon 1974. Nicht ohne Grund nennt sie es daswohl einschneidendste und folgenreichste Dokumentnach der Gründungsphase der westdeutschen Osteuropaforschung, ging es doch immerhin auch um die Neustrukturierung der Institutionenlandschaft, wobei die Verantwortung hierfür von der Sphäre des Politischen auf die Ebene des Fiskalischen verlagert wurde. Die Empfehlungen des Gutachtens betrafen alle an der Osteuropaforschung beteiligten Institutionen. Diese werden von der Verfasserin einander detailliert gegenübergestellt. 22 Jahre später hatte der Bundesrechnungshof die deutsche Osteuropaforschung noch einmal zu begutachten. Zu den dadurch wiederum veranlassten finanziellen und institutionellen Sorgen trat nunmehr aber auch eine Sinnkrise der Osteuropaforschung selbst hinzu, die auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politikberatung unter völlig anderen Vorzeichen erneut aufwarf.

Die vorstehend nur angedeutete Komplexität des von Thekla Kleindienst gewählten Themas bedingt Stärken wie Schwächen der Studie. Sehr gut ermöglicht sie nicht nur Einblicke in die wichtigen persönlichen Verbindungen zwischen Osteuropaforschung und Politik bzw. politischem Beamtentum, sondern auch in die unterschiedlichen organisatorischen, inhaltlichen und politischen Vorstellungen und Konzepte der Beteiligten. Dadurch gelingt es der Verfasserin, sowohl den Spannungsreichtum im Verhältnis zwischen Osteuropaforschung und Politik als auch den Einfluss politischer Ereignisse auf die Förderung der ostwissenschaftlichen Forschung in grundsätzlicher Hinsicht nachzuweisen. Dass dabei viele interessante, mit dem Thema der Studie in Zusammenhang stehende Einzelaspekte leider nur partiell erörtert bzw. angedeutet werden können, ist angesichts des (wohl zu groß bemessenen) zeitlichen Rahmens unvermeidlich. Die Verfasserin hat sich daher nach eigenem Bekunden von vornherein auf „Kernpunkte der Entfaltung der Ost(europa)forschung im Kontext politischer Entwicklungen“ beschränken müssen. Auch die Betrachtung der einzelnen, konzeptionell sehr vielfältigen Forschungsinstitutionen lässt viele Fragen unbeantwortet, zumal da strukturelle und formale Aspekte dominieren. So ist es letztlich ohne Erkenntniswert, wenn bspw. die Mitgliederversammlung der zum Teil als eingetragene Vereine organisierten Institute als Scharnier zwischen Wissenschaft und Ministerialbürokratie charakterisiert wird, aber ungeklärt bleibt, wer satzungsgemäß Mitglied werden konnte. Demgegenüber wäre es auch für Thekla Kleindiensts Fragestellung von Belang gewesen zu erkunden, inwieweit sich die politischen Vorgaben in den Erträgen der ostwissenschaftlichen Forschungen widerspiegelten. Zwar nimmt die Verfasserin Periodika und ausgewählte Reihen der Forschungseinrichtungen in den Blick, beschränkt sich dabei jedoch meist auf insgesamt eher oberflächliche Analysen. Dennoch eröffnet die vorliegende Studie den Weg zu weiteren, notwendigen Detailuntersuchungen zur jüngeren Geschichte der deutschen Osteuropaforschung.

Viktor Nerlich, Berlin

Zitierweise: Viktor Nerlich über: Thekla Kleindienst: Die Entwicklung der bundesdeutschen Osteuropaforschung im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik. Marburg/Lahn: Verlag Herder-Institut, 2009. IX, 434 S., Abb., Tab., Graph. = Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung, 22. ISBN: 978-3-87969-358-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Nerlich_Kleindienst_Entwicklung_der_westdeutschen_Osteuropaforschung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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