Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), H. 3, S. 451-452

Verfasst von: Reinhard Nachtigal

 

Raphael Utz: Rußlands unbrauchbare Vergangenheit. Nationalismus und Außenpolitik im Zarenreich. Wiesbaden: Harrassowitz, 2008. 288 S. = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 73. ISBN: 978-3-447-05738-7.

Imperiengeschichte ist in den letzten Jahren ein Trend der Forschung, der nicht zuletzt deshalb Aufschlüsse verspricht, weil die meisten Großreiche sich eben kaum für einen historischen Vergleich eignen. In seiner Heidelberger Dissertation widmet sich der Verfasser der ideengeschichtlichen Begründung der russischen Expansion in der zweihundertjährigen Petersburger Epoche. Da steht zunächst die Verwestlichung Russlands als starke Triebfeder, die zur Ausprägung eines spezifisch russischen Nationalismus als selbständige Kraft in der russischen Ideengeschichte führte. In der ersten Hälfte des 19. Jh. bestimmte dann die Troika Rechtgläubigkeit, Selbstherrschaft und Volkstümlichkeit – Utz begreift letztere bereits als Nationalismus, so wie er das russische narodnost’ etwa als „Nationalcharakter“ übersetzt – die Suche nach der raison d’être der staatlich-gesellschaftlichen Elite, die sich der politischen Defizite in der russischen Entwicklung seit der Französischen Revolution wohl bewusst war, insbesondere was den Bereich der politischen Partizipation betraf. Der Mangel ließ sich nur zeitweise und immer unglaubwürdiger mit der Vorstellung überdecken, die russische Nation habe ihren Willen der Autokratie übertragen; Zar und Volk seien eins. Unter Alexander II. begann der Nationalismus von den beiden anderen staatsbegründenden Ideen wegzudriften und stellte schließlich die Selbstherrschaft in Frage, was im Ersten Weltkrieg zum Zusammenbruch des Systems führte.

Diese Elemente wirkten sich außenpolitisch in einem (orthodox-)christlichen Missionierungs- und Befreiungsgedanken aus, der sich vor allem auf christliche Völker und Gruppen im Osmanischen Reich richtete und expansionistisch war. Als Russland seit Alexander II. zur Einverleibung originär nichtchristlicher Völkerschaften in Mittel­asien schritt, kam kurzerhand eine „integrationistische“ Selbstzuschreibung gegenüber den Asiaten zum Zuge: Eine Seelenverwandtschaft Russlands mit Asien wurde behauptet, die später im russischen Eurasiertum weiterleben sollte. Freilich, eine Seelenverwandtschaft in dieser verklärenden Selbstzuschreibung, die nach der Meinung der zu Befreienden nicht frug, ließ sich bei Bedarf auch auf andere, europäische und westslawische Völker, und sogar über den Zusammenbruch des zarischen Imperiums hinweg bis in die Sowjetzeit übertragen. Dass mit dieser Sicht Ressentiments etwa gegen die westliche Zivilisation und politische Ordnung verbunden waren, während mit ihr gleichzeitig auch messianische Ressentiments gegen die Asiaten einhergingen, wurde nicht als Widerspruch empfunden.

Wenngleich viele Motive und Bilder dieser Geistesgeschichte bis heute in dem andauernden Dilemma fortwirken, einerseits zum Westen aufholen, anderseits aber überzeugend begründen zu müssen, weshalb genügend Abstand zu diesem zu halten und ein russischer Sonderweg einzuschlagen sei, so scheint es doch keine gerade Linie vom petrinischen Reich zu Putins Russland zu geben, wo zarische mitunter synkretistisch neben alten kommunistischen Symbolen bestehen. Sicher, Autokratie und in gewissem Sinne auch die Orthodoxie lebten in 80 Jahren Sowjetdiktatur als Staats- und Herrschaftsform anverwandelt weiter. Doch es ist auch nicht zu übersehen, dass das Zarenreich der Petersburger Epoche gegenüber der Sowjetzeit positive Züge und humanisierende Stränge aufwies, die allerdings Teil des Aufholprozesses zum Westen waren. So ist wohl „Russlands unbrauchbare Vergangenheit“ als Verdikt über eine eigenständige russische Entwicklung zu sehen, soweit sie sich vom Westen absetzte und sich außenpolitisch expansiv manifestierte.

Utzens Studie bietet nicht nur einen guten Überblick über die russische Ideengeschichte der Epoche, sondern auch über ihre außenpolitische Wirkung auf die Stationen der Expansion des Staates seit Peter dem Großen. Doch ob die Frage, wie „brauchbar“ diese Geschichte denn nun sei, damit so eindeutig zu beantworten ist, bleibt wohl offen: Nicht nur „Westler“ und Russen dürften das unterschiedlich bewerten.

Reinhard Nachtigal, Freiburg i. Br.

 

Zitierweise: Reinhard Nachtigal über: Raphael Utz: Rußlands unbrauchbare Vergangenheit. Nationalismus und Außenpolitik im Zarenreich. Wiesbaden: Harrassowitz, 2008. 288 S. = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 73. ISBN: 978-3-447-05738-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Nachtigal_Utz_Russlands_unbrauchbare_Vergangenheit.html (Datum des Seitenbesuchs)

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