Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 2, S. 304-305

Verfasst von: Reinhard Nachtigal

 

John W. Steinberg: All the Tsar’s Men. Russia’s General Staff and the Fate of the Empire, 1898–1914. Baltimore, MD: Johns Hopkins University Press, 2010. XVII, 383 S., Tab., Abb. ISBN: 978-0-8018-9545-6.

Vor dem allgemeinen Hintergrund der Systemkrise des späten Zarenreichs zeichnet der Schüler des amerikanischen Russland-Militärhistorikers Allan K. Wildman die Versuche der reformorientierten Kräfte in der militärischen Führung Russlands nach, durch die Verbesserung der Ausbildung der Offiziere, insbesondere aber der Generalstabsoffiziere, die Armee zu modernisieren und damit einen Stand wie den westeuropäischer Generalstäbe und Armeen zu erreichen. Französische Offiziersausbildung und preußischer Generalstab waren die Vorbilder, an denen man sich dabei orientierte. Das Ergebnis dieser Bemühungen kann vorweg genannt werden: Das Ziel wurde nicht erreicht, auch die bitteren Lehren, die der Russisch-Japanische Krieg 1904–1905 erteilte, der die Studie in die Zeit „davor“ und „danach“ gliedert, bewirkten keine Einsicht, wie die Katastrophe im Ersten Weltkrieg noch einmal verdeutlichte („Change, innovation, reform – all were occurring in the education of General Staff officers at a slow, perhaps too slow, but carefully monitored pace“, S. 226).

Spannend liest sich die Schilderung, wie sich fortschrittliche Militärdenker im Umkreis der Nikolaj-Militärakademie, des Kriegsministeriums und des Generalstabs in das Ringen mit der reformunwilligen Elite um den Zaren begaben, die jeglicher Modernisierung widerstand und die Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg einzig auf das Versagen des russischen Oberbefehlshabers A. N. Kuropatkin zurückführte, anstatt systemimmanente Fehler wie mangelhafte Truppenführung, ungenügende Vernetzung der Befehlsebenen sowie das nicht funktionierende Kommunikationswesen zu beheben. Diese Defizite beschreibt der Verfasser als eines der wichtigsten ungelösten Probleme. Dass dies bei der Uneinsichtigkeit des zarischen Umfelds – Großfürsten als Truppeninspekteure, betagte Generale, die das engere Vertrauen des Zaren genossen, schließlich der Zar selbst – sich nicht ändern konnte, wird auf den Byzantinismus dieser Elite zurückgeführt, in dem Herkunft und Dienst in der Garde eine größere Rolle spielten als Befähigung und Begabung. Die Offiziersausbildung blieb theoretisch und lückenhaft, Manöver und Kriegsspiele hatten, vor allem bei Anwesenheit des Zaren, nur Paradecharakter, sie taugten nicht für wirklichkeitsnahe Situationen. Die Ausbildung der zukünftigen Generalstäbler reiche nur für Friedenszeiten, stellte ein Akademieprofessor nach dem Krieg von 1904–1905 fest. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Militärdoktrin als Voraussetzung für die reibungslose Kommunikation zwischen den einzelnen Truppenteilen rückte in den Vordergrund.

Reformorientierte Denker wirkten oftmals zur gleichen Zeit mit den Reformgegnern, so dass ein den Miljutinschen Ideen nahestehender N. N. Obručev dem reaktionären Kriegsminister P. S. Vannovskij, G. A. Leer einem M. I. Dragomirov und Kuropatkin einem V. G. Glazov gegenüberstand. Die Gegensatzpaare lassen sich bis in den Weltkrieg fortsetzen, etwa mit den Kriegsministern A. F. Rediger (1905–1909), V. A. Suchomlinov (1909–1915) und dem Militärtheoretiker N. N. Golovin, seit 1909 Professor der Nikolaj-Akademie. Geradezu tragisch liest sich die Geschichte eines Konservatismus, der auf veralteten militärischen Traditionen aus der Zeit Suvorovs („bayonets before bullets“) beharrte und die Industrialisierung des modernen Krieges ignorierte: Immer wieder nahm ein genialer Kopf Anlauf, um an der richtigen Stelle Änderungen zu beginnen, und scheiterte doch am Beharrungswillen des Establishments. Das Hauptschlachtfeld war dabei die Nikolaj-Akademie, um deren qualitative Hebung es ging (Kapitel 2): den Reformern, um die Generalstäbler zu erfolgreichen Truppenführern zu machen, den Reformgegnern, um geheiligte Traditionen und die Prärogative der Autokratie zu wahren.

Nach Steinberg unterblieb die Professionalisierung der Armee, die von oben begonnen werden sollte. Die tiefe Kluft zwischen Mannschaft und Offizieren bestand weiter, das Gefühl des Mittelmaßes der Generalstäbler hatte ein Bewusstsein der eigenen Wirkungslosigkeit in der Befehlshierarchie zur Folge; die Bedeutung der sozialen Herkunft und der Nähe zum Hof für die Karriere und den Aufstieg in höchste Ränge, selbst ohne dass man jemals eine Generalstabsausbildung durchlaufen hatte, blieb erhalten. Im Weltkrieg kamen dann allerdings Nachwuchs-Truppenführer an die Spitze, die tatsächlich in ihrer Zeit an der Generalstabsakademie etwas gelernt hatten. Dieses Phänomen ist in ähnlicher Weise auch von der Militärhierarchie Österreich-Ungarns in der Weltkriegsepoche bekannt. Hierzu gehören die Namen der späteren Generale M. V. Alekseev und A. I. Denikin. Damit ist angesprochen, dass in der Studie Hinweise auf die spätere Biographie erfolgreicher Reformer und ihrer Zöglinge fehlen, die belegen könnten, dass deren Bemühen bzw. Ausbildung durchaus nicht vergebens waren.

Bezeichnend ist das Schicksal des Generalstabs, der in Folge des verlorenen Kriegs von 19041905 vom Kriegsministerium getrennt wurde, um 1909 unter Suchomlinov diesem doch wieder unterstellt zu werden. Leider wird an dieser Stelle nicht recht deutlich, dass dieses ursprünglich operative Planungsorgan im Weltkrieg überhaupt nicht das darstellte, was es in anderen Armeen war: In Russland wurde es die ausführende Militärbehörde zur Verwaltung des gesamten Hinterlands, während die eigentlichen Generalstabsaufgaben ans Hauptquartier (russ. stavka) und seinen Stabschef übergingen. So kennzeichnet der Verfasser auch die Generalstabsoffiziere mehr als Verwalter denn als Truppenführer. Ein beschränkter Fortschritt stellte sich doch noch in den letzten Friedensjahren vor 1914 ein, wie kleinere Manöver zeigten, änderte aber nichts an der insgesamt fatalen Entwicklung: „The Imperial Army suffered from such serious deficiencies at the tactical level as well as in executing basic command-and-control practices that doctrinal development remained crippled.“ (S. 247) Da aber Armee und Offizierskorps wesentliche Faktoren der Reformfähigkeit und Modernisierung im Staat ausmachten, wirkte sich der Rückstand auch auf andere Ebenen des Reichs aus.

Bedauernswert an der ansonsten überzeugenden Arbeit bleibt die fehlerhafte Schreibweise von Eigennamen und gelegentlich auch russischer Fachtermini. Wichtige deutschsprachige Studien wie die Dietrich Beyraus, Günther Kronenbitters oder zuletzt Werner Beneckes wurden nicht rezipiert, fremdsprachige Forschungen wurden nur als englische Übersetzungen aufgenommen – ein Strukturdefizit der angelsächsischen Osteuropaforschung. Sie dürften aber Steinbergs allgemeinen Befund kaum beeinflusst haben, in dem das Versagen infolge des Nichtwillens zur Veränderung als Leitmotiv durchscheint.

Reinhard Nachtigal, Freiburg i.Br.

Zitierweise: Reinhard Nachtigal über: John W. Steinberg: All the Tsar’s Men. Russia’s General Staff and the Fate of the Empire, 1898–1914. Baltimore, MD: Johns Hopkins University Press, 2010. XVII, 383 S., Tab., Abb. ISBN: 978-0-8018-9545-6, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Nachtigal_Steinberg_All_the_Tsars_Men.html (Datum des Seitenbesuchs)

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