Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 286

Verfasst von: Reinhard Nachtigal

 

Wolfgang Geier: Wahrnehmungen des Terrors. Berichte aus Sowjetrussland und der Sowjetunion 1918–1938. Wiesbaden: Harrassowitz, 2009. XII, 168 S. = Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund, 40. ISBN: 978-3-447-05736-3.

Die Studie behandelt die Verdrängung des kommunistischen Terrors im Sowjetstaat insbesondere durch westliche Intellektuelle, die das Land bis 1938 besuchten. Auch später huldigten viele von ihnen, teilweise noch bis zum Zusammenbruch des Staats, in gelegentlich groteske Züge annehmender Weise dem Personenkult Stalins. Geier beschreibt dies als „Elend der Intellektuellen“. Nur wenige von ihnen erkannten den Terror und verurteilten ihn, zum Teil aber erst verspätet: Arthur Koestler, Manès Sperber, André Gide, aber auch das Rätsel Klaus Mehnert. Ihnen gegenüber stand eine Legion namhafter Bewunderer und Apologeten des Sowjetsystems oder gar des Stalinismus wie Henri Barbusse, Herbert George Wells, George Bernard Shaw, Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger, Romain Rolland und Bernard Pares.

Geier beginnt seine Studie mit frühen Mahnern und Warnern wie Rosa Luxemburg, die schon 1918 den Sowjetterror kritisierte, und betrachtet dann die einzelnen Besucher. Die seitdem zahlreich nach Moskau pilgernden Intellektuellen, so Geiers Fazit, hätten die Radikalität und den inhumanen Dogmatismus der von der europäischen Aufklärung unbeleckten Bolschewiki erkennen und als wesentlichen Mangel des sowjetischen Gemeinwesens ansprechen müssen. Doch das ideologische Ziel, mit einem neuartigen Experiment eine ideale Zukunftsgesellschaft schaffen zu wollen, verstellte den ausländischen Intellektuellen den kritischen Blick auf die Wirklichkeit.

Das im Epilog als Kontrastfall angeführte „J’accuse“ Emile Zolas als Reaktion auf die Verurteilung und gesellschaftliche Ächtung des jüdischen Offiziers der französischen Armee Dreyfus im Jahre 1894 ist wohl als Votum Geiers aufzufassen: Während fast alle Unrechts- und Terrorregime noch zur Zeit ihres Bestehens ihre Ankläger gefunden haben, wobei die dritte Republik ein bürgerlich-parlamentarischer Rechtsstaat war, vermag Geier kaum einen solchen für den Sowjetstaat in den ersten beiden Jahrzehnten seines Bestehens auszumachen. Die Anklagen gegen die Hitler-Diktatur hätten eine Verurteilung des stalinistischen Terrors, der sogar früher begonnen hatte, bedingen müssen (S. 137). So mag die verständlich geschriebene und bündige Untersuchung, die mit einem knappen wissenschaftlichen Apparat auskommt, auch als Abrechnung mit der Wahrnehmung der politischen Linken im freien Westen zu verstehen sein.

Reinhard Nachtigal, Freiburg i.Br.

Zitierweise: Reinhard Nachtigal über: Wolfgang Geier: Wahrnehmungen des Terrors. Berichte aus Sowjetrussland und der Sowjetunion 1918–1938. Wiesbaden: Harrassowitz, 2009. XII. = Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund, 40. ISBN: 978-3-447-05736-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Nachtigal_Geier_Wahrnehmungen_des_Terrors.html (Datum des Seitenbesuchs)

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