Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 3, S.  464-466

Per Brodersen Die Stadt im Westen. Wie Königs­berg Kaliningrad wurde. Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2008. 367 S., 30 Abb. ISBN: 978-3-525-36301-0.

Nach der Arbeit von Bert Hoppe aus dem Jahr 2000 (Auf den Trümmern von Königsberg, München) liegt mit Per Brodersens Monografie nun eine weitere profunde Studie zur Nachkriegsgeschichte Königsbergs vor. Während Hop­pe die Geschichtspolitik der neuen Machthaber und die damit verbundenen Legitimations- und Aneignungsstrategien der neuen Bevölkerung hauptsächlich am Beispiel von Architektur und Städtebau untersucht, nimmt Brodersen neue Aspekte der Umkodierung des Königsberger Stadtraums und Gebiets in den Blick, so Umbenennungen von Ortschaften, die Kanonisierungen der Stadtgeschichte und den Umgang mit dem deutschen Kulturerbe. Die Transformation der Stadt weg vom deutschen, bürgerlichen Königsberg und hin zum sowjetischen Kaliningrad wird ebenso analysiert wie die Beziehungen zwischen Moskau und der Peripherie des Kaliningrader Gebiets.

Brodersen greift auf einen umfangreichen Fundus an Primärquellen insbesondere aus dem Gebietsarchiv und dem Archiv für die Akten des Gebietsparteikomitees sowie auf relevante Bestände des Russischen Staatsarchivs in Moskau zurück und berücksichtigt eine Reihe von Periodika wie die „Kaliningradskaja Pravda‟. Darüber hinaus konnten etliche bereits gedruckt vorliegender Quellenbände benutzt werden. Erwähnenswert sind insbesondere die Ergebnisse eines von Jurij Kostjašov durchgeführten Oral History-Projekts mit Neusiedlern, die von Eckard Matthes in deutscher Sprache herausgegeben wurden (Als Russe in Ostpreußen, Ostfildern 1999).

Der Autor geht von der Kernfrage „Was ist Ka­liningrad?“ aus und erschließt die Entwicklungen im Gebiet ab der Einnahme der Stadt durch die Rote Armee am 9. April 1945 in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive. Den Anfang bei der sowjetischen Besitzergreifung machten Mi­litärkräfte. Es folgten nur langsam die sich in der unwirtlichen, fremden und kriegszerstörten Stadt ansiedelnden Neusiedler aus unterschiedlichsten Teilen der Sowjetunion. Hauptprobleme der ersten Zeit waren neben dem Mangel an Lebensmitteln und Sicherheit besonders das Fehlen von Fachkräften und ausgebildetem Verwaltungspersonal sowie die zehn Jahre währende Behandlung des gesamten Gebiets als Grenzgebiet – gerade in den ersten Jahren schien die zukünftige staatliche Zugehörigkeit der Region ungewiss, was sich in einer lange anhaltenden „Kofferlaune“ der Neusiedler niederschlug. Damit verbunden war die Ignoranz der Moskauer Zentrale gegenüber den Problemen dieses westlichsten Punkts des Sowjetimperiums, ein Zustand, der erst mit der Verabschiedung eines Generalplans im Jahr 1968 endete.

Eine bedeutende Herausforderung stellte für die neuen Machthaber der Umgang mit dem angetroffenen Zeichensystem dar. Die Umbenennung der Ortschaften gestaltete sich sehr zögerlich und teilweise im Konflikt mit Moskau; häufig waren deshalb in den ersten Jahren gleichzeitig noch die deutschen Bezeichnungen präsent. Die Umkodierung erfolgte weitgehend ahistorisch und bediente sich einerseits des sowjetischen Kanons, teilweise orientierte sie sich auch an geografischen Besonderheiten oder der Herkunft der Siedler. Keinen Erfolg hatte der Versuch, die zahlreichen Ortsnamen baltischen Ursprungs zu litauisieren. Nicht eingegangen wird auf das Problem der Neuschaffung von Straßennamen.

In den ersten Jahren lebten alteingesessene Bevölkerung – sofern sie nicht geflohen war – und Neusiedler nebeneinander. Erstaunlicherweise war 1945 eine Zwangsaussiedlung zunächst nicht vorgesehen; sie wurde dann jedoch ab 1947 zügig umgesetzt und erreichte etwa 1960 mit vereinzelten Nachzüglern ihren Abschluss.

Zur kulturellen Aneignung der Stadt musste auch eine neue Bewertung ihrer Geschichte gehören. Für die ersten Jahre kann dabei von einer „historisierende[n] Identitätspolitik der Partei“ (S. 93) gesprochen werden. Man kreierte eine slawische Vergangenheit der Region, und die Propaganda konnte so von einer „Rückkehr auf slawischen Boden“ sprechen. Dieses Deutungsmuster erwies sich jedoch als unhaltbar, weshalb russische Aspekte der Königsberger Stadtgeschichte in den Vordergrund geschoben wurden. Dabei griff die Geschichtspolitik auf angebliche Traditionslinien von der zeitweisen russischen Besetzung während des Siebenjährigen Kriegs, von der russischen Präsenz während des „Vaterländischen Krieges“ gegen Napoleon und von der temporären Eroberung Ostpreußens zu Beginn des Ersten Weltkriegs zur russischen Gegenwart ab 1945 zurück. Tatsächlich konnte jedoch nur der „Šturm Kënigsberga“ von 1945 als Gründungsmythos und zentraler Gedächtnis­ort Kaliningrads größere Bedeutung entfalten. Ein erster Höhepunkt war bereits am 30. September 1945 die Einweihung eines „Denkmals für die 1.200 Gardesoldaten“, die bei der Belagerung gefallen waren. Während man in zahlreichen weiteren Denkmälern der „Helden der Eroberung“ gedachte, waren den Machthabern jedoch „einfache Gefallene eher lästig“ (S. 137). Brodersen konstatiert deshalb zutreffend, dass die „Erinnerungslandschaft Kaliningrads […] durchbrochen“ blieb (S. 143).

Die Schwierigkeiten beim Umgang mit dem deutschen Kulturerbe analysiert Brodersen am Beispiel des stark zerstörten Stadtschlosses. Er wertete dazu insbesondere die ikonografischen Repräsentationen aus. Galt der Dom über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg als erhaltenswert – ein Umstand, an dem das hier befindliche Grab des Philosophen Immanuel Kant seinen Anteil hatte –, so wechselte die Perzeption weiterer Gebäude wie der Börse, der Kirchen und insbesondere des Schlosses mehrfach. Als Residenz preußischer Könige eignete letzteres sich nicht als Anknüpfungspunkt für die neuen Bewohner; umso erstaunlicher ist der Streit um einen Erhalt oder Abriss zwischen den Denkmalschützern in Kaliningrad und Moskau und den Gebiets- und Zentralparteiführungen. Brodersen konnte bei der Nachzeichnung dieser Auseinandersetzung mit ihren wechselnden Kon­fliktlinien, die 1969 mit der Sprengung des Schlosses endete, wesentlich auf die Ergebnisse der Arbeit von Hoppe zurückgreifen.

Es waren jedoch nicht allein historische Konstrukte, welche für die Herausbildung einer neuen Identität von Bedeutung waren. Eine wesentliche Rolle spielte auch die Positionierung des Gebiets als neues sowjetisches Territorium. Mit der Errichtung einer Reihe sowjetischer Denkmäler und Skulpturen und mit der Herausstellung des erfolgreichen sozialistischen Wiederaufbaus der zerstörten Stadt sollten Anknüpfungspunkte für die Zukunft geschaffen werden. Auch die Betonung der Rolle Kaliningrads als samaja zapadnaja bzw. als westlichster Vorposten der Sowjetunion konnte zur Entwicklung eines Zusammenheitsgehörigkeitsgefühls beitragen.

Mit dem Brief eines „gemeinen Bürgers“, der auf dem Gebietsparteitag von 1971 zu heftigen Diskussionen führte, endet Brodersens Arbeit. Die Diskussionen um die darin angeprangerten Missstände insbesondere im Bereich der Ökologie und der Kommunalwirtschaft machen deutlich, dass die Stadt zu diesem Zeitpunkt weit von einer Normalisierung und einer gefestigten Identität entfernt war.

Brodersens spannend geschriebene Arbeit fügt sich hervorragend ein in eine Reihe von bereits erschienenen oder im Erscheinen begriffenen Arbeiten zu Städten in Ostmitteleuropa, die von enormen Kriegszerstörungen, von Zwangsmigration und einem Wechsel des Systems und der staatlichen Zugehörigkeit betroffen waren. Explizit erwähnt werden „verblüffende Parallelen“ zu Breslau / Wrocław (S. 17), das von Gre­gor Thum in seiner Monografie „Breslau 1945“ porträtiert wurde. Hier hätte man sich – ebenso wie zu Oliver Loews Arbeit über Dan­zig / Gdańsk – konkretere Anknüpfungspunkte gewünscht. Letztendlich wird eine detailliertere Einordnung in die Transformation der ostmitteleuropäischen Städtelandschaft jedoch erst nach Erscheinen der laufenden Arbeiten zu Grodno, Stettin / Szcze­cin und anderen Orten möglich sein. Die Studie endet aus Gründen des Archivzugangs Anfang der 1970er Jahre. Der Zeitpunkt stellt nicht nur arbeitstechnisch eine Zäsur dar, sondern aufgrund des kurz zuvor erfolgten, kontrovers diskutierten Abrisses des Königsberger Schlosses und des Beginns der neuen Ostpolitik der Bundesrepublik auch in historischer Hinsicht. Der Autor verweist im Epilog auf die für den Umgang mit dem Kulturerbe und für die Frage der Kaliningrader Identität einschneidende neue Zäsur von 1989. Hier hätte sich der Leser eine etwas tiefergehende Reflexion auch vor dem Hintergrund des doppelten Jubiläums 750 Jahre Königsberg und 60 Jahre Kaliningrad im Jahr 2005 gewünscht. Der „Fall Kaliningrad“ wird folglich ein interessantes Feld für weitere Studien bleiben.

Jan Musekamp, Frankfurt/ Oder

Zitierweise: Jan Musekamp über: Per Brodersen: Die Stadt im Westen. Wie Königsberg Kaliningrad wurde. Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2008. ISBN: 978-3-525-36301-0, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 464-466: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Musekamp_Brodersen_Stadt_im_Westen.html (Datum des Seitenbesuchs)