Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 524-526

Verfasst von: Thekla Musäus

 

Finland in World War II. History, Memory, Interpretations. Ed. by Tiina Kinnunen / Ville Kivimäki. Leiden, Boston: Brill, 2012. XIX, 576 S., 30 Abb., 8 Ktn., 2 Tab. = History of Warfare, 69. ISBN: 978-90-04-20894-0.

Nicht allein eine Dokumentation der Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs in Finnland, sondern ebenso die Frage nach Interpretation, Bewertung und Nachwirken des Krieges in Finnland sind Anliegen des vorliegenden Sammelbandes. Bereits die Einführung von V. Kivimäki eröffnet dabei mit einer Gesamtschau der Kriegsereignisse und einer Übersicht über grundlegende Werke der finnischen Geschichtsschreibung in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext überzeugend das Spektrum der Aufsätze. Sein Titel Three Wars and their Epitaphs verweist dabei auf die Chronologie der Kriegsereignisse in Finnland: Mit dem „Winterkrieg“ 1939–1940, dem „Fortsetzungskrieg“ 1941–1944 und dem „Lapplandkrieg“ 1944–1945 reihen sich in der finnischen Geschichte drei kriegerische Zeiträume aneinander, die je nach politischer Ausrichtung, historischer Gewichtung und nach Blickwinkel als mehr oder weniger separat von den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs dargestellt werden.

Die zwölf Beiträge des Buches nähern sich dieser Problematik von unterschiedlichen Fragestellungen her. Unterteilt sind sie in vier Teile: I. Politics and the Military bietet mit seinen drei Beiträgen auf den ersten Blick einen traditionell ereignisgeschichtlichen Zugang zur Epoche des zweiten Weltkriegs. Der Aufsatz von H. Meinander über den Platz Finnlands im Mächtegefüge der Großmächte entwirft jedoch mit der Einbettung in Ideologien, kulturgeschichtliche und machtpolitische Entwicklungen in Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und einem Ausblick auf die Entwicklungen des Kalten Krieges zusätzlich ein umfassendes Bild des Krieges selbst. Im folgenden Beitrag zeigt M. Jonas überzeugend Parallelen und Unterschiede zwischen dem südlichen Verbündeten des Deutschen Reichs, Rumänien, und Finnland als Verbündeten am nördlichen Rand der Ostfront auf. Dieser Vergleich bietet neue Einblicke in die Frage, ob Finnland eigenen Handlungsspielraum neben dem „Waffenbruder“ Deutschland genoss, oder ob die in Finnland lange verfochtene These des „Separatkrieges“ unabhängig vom Vernichtungskrieg der Deutschen ein Mythos ist. Der nächste Aufsatz stellt nach einer Darstellung der Frontentwicklungen und militärischen Operationen in den drei Kriegsetappen die soziologische und psychologische Einschätzung der finnischen Armee in den Mittelpunkt. Die oft als lax eingeschätzte Disziplin der finnischen Soldaten setzt P. Tuunainen dabei überzeugend in den Kontext einer demokratisch organisierten „Volksarmee“, zu der sich die finnische Armee im Laufe der dreißiger Jahre zunehmend entwickelt hatte. Gerade das Charakteristikum der flachen Hierarchien und eines funktionierenden Mikroklimas in den einzelnen Armeeeinheiten macht er mit für die gute Kampfmoral und das Durchhaltevermögen der finnischen Armee verantwortlich.

In Teil II. Social Frameworks, Cultural Meanings widmet sich die Autorin des ersten Beitrags M. Junila der Frage nach der Situation an der „Heimatfront“. Deutlich werden dabei die Unterschiede zwischen den drei Kriegsphasen. Während im Winterkrieg aufgrund seiner kurzen Dauer viele negative Aspekte wie Schwarzmarkt, moralische Ermüdung, Problematik der Kriegswirtschaft und Lebensmittelrationierungen die Bevölkerung nicht beschwerten, führte der Fortsetzungskrieg in seiner langen Dauer zu deutlicheren Problemen im gesellschaftlichen Leben Finnlands. Dabei zeichneten sich starke Unterschiede des Kriegserlebens in der Stadt und auf dem Land ab. Die Flüchtlingswellen mit insgesamt über 400.000 Menschen aus den östlichen Gebieten Finnlands führten zu zusätzlichen Problemen. Vor allem aus dieser Bevölkerungsgruppe wurden dann auch die so genannten „Kriegskinder“ – insgesamt über 80.000 finnische Kinder – insbesondere nach Schweden gebracht, um sie vor den weiteren Auswirkungen des Krieges in Sicherheit zu bringen. Im nächsten Beitrag gehen V. Kivimäki und T. Tepora der Frage nach, wie die Gewalterfahrung des Zweiten Weltkriegs in das Selbstbild der finnischen Gesellschaft integriert wurde. Das „Wunder des Winterkriegs“, in dem das kleine Finnland dem Angreifer Sowjetunion praktisch ohne Hilfe Widerstand leistete und eine Okkupation verhinderte, wurde dabei als große nationale Einigung, wenn nicht gar staatsbegründend mythisiert. Die vereinende Kraft eines gerechtfertigten Verteidigungskrieges überdeckte so die blutigen Geschehnisse des Bürgerkrieges in der eigentlichen Gründungsphase der finnischen Republik 1918. Die Bedeutung des privaten Briefwechsels zwischen den Frontsoldaten und ihren Familien untersucht S. Hagelstam. Sie belegt exemplarisch anhand von vier Briefsammlungen unterschiedlichster Soldaten, dass bei aller emotionalen Entfremdung der Soldaten von ihren Familien, die oft in soziologischen Untersuchungen betont wird, die gegenseitige Anteilnahme und Kontinuität des sozialen Miteinanders von Daheimgebliebenen und Soldaten an der Front bestimmend war, nicht zuletzt aufgrund des relativ guten und schnellen Funktionierens der finnischen Feldpost (Transportdauer in der Regel weniger als eine Woche) und der aktiven Korrespondenz – insgesamt wurden über eine Milliarde Briefe zwischen der Front und dem Mutterland hin- und hertransportiert.

Im folgenden Aufsatz von H. Laurent, dem ersten in Teil III. Ideologies in Practice, weist die Autorin nach, dass wichtige Entwicklungen des finnischen Sozialstaats wie die bessere Unterstützung und medizinische Betreuung von Schwangeren und Kindern gerade in den Kriegsjahren vorangetrieben wurden. Lebensmittelrationierungen, kostenlose Schulspeisungen und Gesundheitsdienste führten zu einer Einebnung sozialer Unterschiede. Die Verlierer der auch ideologisch begründeten Familienfreundlichkeit des Staates waren die als „unnütz“ betrachteten Mitglieder der Gesellschaft – in diesem Aufsatz werden Patienten von Nervenheilanstalten und Gefängnisinsassen genannt. Im Krieg standen außerhalb sozialstaatlicher Obhut auch sowjetische Kriegsgefangene und die Zivilbevölkerung der eroberten Gebiete Ostkareliens, deren Schicksal im Beitrag O. Silvennoinens thematisiert wird. Ein weiterer, wenig beachteter Aspekt der finnischen Kriegsgeschichte ist der Umgang finnischer Wissenschaftler mit dem Kulturgut der eroberten Gebiete (T. Pimiä, Kapitel 9). In Ostkarelien, traditionell als „Wiege der finnischen Kultur“ betrachtet, sahen Volkskundler, Sprachwissenschaftler und Archäologen in den vierziger Jahren die Möglichkeit, im Gefolge und mit Unterstützung der Armee weitreichende Studien unter den ostseefinnischen Völkern eines „Großfinnland“ zu betreiben.

Die drei Aufsätze, die im letzten Teil unter dem Titel Wars of Memory zusammengefasst sind, thematisieren den Umgang mit verschiedenen Aspekten des Krieges nach 1945. Die allgemeine Erinnerungskultur behandeln T. Kinnunen und M. Jokisipilä und weisen dabei auf „neopatriotische“ Entwicklungen der Kriegserinnerung seit den 1990er Jahren hin. Dabei versuchen sie zu belegen, dass der in diesem Zuge oft zu hörende Vorwurf des politisch gewollten Verschweigens positiver Kriegserinnerungen aus Rücksicht auf den sowjetischen Nachbarn in der Zeit der Blockkonfrontation so nicht haltbar ist. Die spezielle Bedeutung der Karelienerinnerung von Flüchtlingen aus den an die Sowjetunion verlorenen Gebieten Finnlands ist Thema des nächsten Beitrags. O. Fingerroos unterscheidet dabei deutlich zwischen einer politischen, revanchistischen Kareliennostalgie und den persönlichen Bezügen der Flüchtlinge und ihrer Nachkommen, die teilweise utopische und religiöse Züge aufweisen. Im letzten Aufsatz Varieties of Silence zeichnet A. Holmila das Verschweigen und Marginalisieren des Holocaust im finnischen Umgang mit der eigenen Kriegsgeschichte nach und geht dabei auch auf das Schicksal der kleinen jüdischen Gemeinde Finnlands ein, deren Mitglieder teilweise in direkter Nachbarschaft zu deutschen Einheiten an der finnischen Front kämpften.

Die Beiträge des Bandes lassen sich unabhängig voneinander lesen. Grundlegende Informationen zum Kriegsverlauf und zentralen Ereignissen finden sich wiederholt. Gleichzeitig sind die einzelnen Beiträge aber mit Verweisen auf inhaltlich anknüpfende Teile des Bandes versehen, so dass sich insgesamt ein facettenreiches Gesamtbild von Finnland im Zweiten Weltkrieg ergibt. Dabei wird deutlich, wo Finnlands Sonderentwicklungen und spezifische Probleme liegen, und wo die These des vermeintlich ehrenhafteren „Separatkrieges“ unhaltbar ist.

In dem Sammelband finden sich insgesamt 40 Bilder und Karten. Zum Großteil sind es Bilder aus finnischen Militärarchiven, die oft zu Propagandazwecken aufgenommen worden waren – als „Geschichten über den Zweiten Weltkrieg“ sind sie so selbst Teil der Kriegsgeschichte, worauf in der Einführung hingewiesen wird. Gemeinsam mit Kartenmaterial und einigen Tabellen tragen sie zusätzlich sinnvoll zum Gesamtverständnis der jeweiligen Aufsätze bei.

Ein Index der Fachbegriffe, Orts- und Personennamen findet sich am Ende des Werkes, ebenso eine Auswahlbibliographie englischsprachiger Werke zum Thema. Die Literaturverweise zu den einzelnen Kapiteln finden sich in den jeweiligen Fußnoten. Auch hier weisen die Autoren explizit auf englischsprachige Titel hin. Finnische Titel werden nur dann übersetzt, wenn die Kenntnis des Titels für den Aufsatzinhalt von Bedeutung ist. Eine Gesamtbibliographie aller erwähnten Werke wäre für die wissenschaftliche Nutzung des Werkes eine hilfreiche Ergänzung gewesen.

Das Anliegen der Herausgeber, ein international zugängliches, aktuelles Gesamtwerk zu Finnland im Zweiten Weltkrieg zu schaffen, ist jedoch gelungen. Die Bezeichnung der durchnummerierten Beiträge als „Kapitel“ („Chapter“) verdeutlicht dabei die Intention der Herausgeber, eine stringente Gesamtschau zu Finnland im Zweiten Weltkrieg zu schaffen. Allerdings stellt sich die Frage, ob nicht die Stimmen unterschiedlichster Autoren vorrangig den Anspruch erfüllen, die verschiedenen Facetten des Kriegsbildes möglichst umfassend zu beleuchten, ohne unbedingt zu einer monolithischen Gesamtheit zusammengefügt werden zu müssen.

Thekla Musäus, Greifswald

Zitierweise: Thekla Musäus über: Finland in World War II. History, Memory, Interpretations. Ed. by Tiina Kinnunen / Ville Kivimäki. Leiden, Boston: Brill, 2012. XIX, 576 S., 30 Abb., 8 Ktn., 2 Tab. = History of Warfare, 69. ISBN: 978-90-04-20894-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Musaeus_Kinnunen_Finland_in_World_War_II.html (Datum des Seitenbesuchs)

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