Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), S. 144-147

Verfasst von: Martin Munke

 

Gernot Briesewitz: Raum und Nation in der polnischen Westforschung 1918–1948. Wissenschaftsdiskurse, Raumdeutungen und geopolitische Visionen im Kontext der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte. Osnabrück: fibre, 2014. 526 S., 8 Abb. = Einzelveröffentlichungen des DHI Warschau, 32. ISBN: 978-3-944870-03-8.

1996 bezeichnete der Stettiner/Szczeciner Historiker Jan M. Piskorski in einem Aufsatz die sogenannte polnische Westforschung als ein „in gewissem Sinne […] nahezu getreues Spiegelbild der deutschen Ostforschung“. Beide Disziplinen widmeten sich einem Raum – je nach Perspektive den „deutschen Ost-“ oder den „polnischen Westgebieten“ –, der von beiden Nationalstaaten zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Ausprägungen beansprucht wurde und teilweise bis heute einen Kernbestandteil der jeweiligen mental maps ihrer Bevölkerungen ausmacht. Ihre wechselseitigen Beeinflussungen und Bezüge, vor allem in der Zwischenkriegszeit, sind seitdem verschiedentlich untersucht wurden, etwa in einem von Piskorski 2002 mit herausgegebenen Sammelband Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik sowie in zahlreichen Einzelstudien. Wichtige Protagonisten wurden biographisch näher beleuchtet, so etwa 2003 Zygmunt Wojciechowski (1900–1955) durch Markus Krzoska. Basierend auf seiner 2012 bei Wolfgang Höpken in Leipzig verteidigten Dissertation legt Gernot Briesewitz nun den Versuch einer Gesamtdarstellung der Forschungsrichtung in Polen von der Wiedererrichtung des polnischen Staates 1918 bis zur Stalinisierung des Jahres 1948 vor, indem er die durch sie entworfenen Raumvorstellungen und Wissenschaftsdiskurse rekonstruiert.

Ein solcher Versuch erscheint nur sinnvoll, wenn zugleich das deutsche Gegenüber in den Blick gerät, wie es hier geschieht. Dies gilt umso mehr, als die hier schwerpunktmäßig untersuchte Disziplin, nämlich die Geographie, in Polen stark von deutschen Traditionen beeinflusst war und hochrangige Vertreter wie Eugeniusz Romer (1871–1954) in einem deutschen akademischen Kontext sozialisiert worden waren. Der Autor widmet sich so seinem Gegenstand, anknüpfend an aktuelle Debatten der Nation(nalismus)forschung und der Raumforschung jeweils in ihren interdisziplinären Kontexten, stark beziehungsgeschichtlich orientiert. Und es scheint fast konsequent, dass die Arbeit mit einem Satz zur „Ostforschung“, der „ältere[n] Stiefschwester“ (Markus Krzoska) der „Westforschung“, endet und deren vieldiskutierten Charakter als „einem wichtigen Träger der deutschen Eroberungs- und Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg“ (S. 416) pointiert hervorhebt. (Vor diesem Hintergrund ist es völlig unverständlich, warum der Geograph Michael Fahlbusch in einer Besprechung von Briesewitz Studie behauptet, sie bedeute „einen herben Rückschritt hinter die seit 15 Jahren geleistete kritische Aufarbeitung der hochbelasteten deutsch-polnischen Beziehungen“; vgl. http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/2000-gernot-briesewitz-r.) Die Quellengrundlage bilden, neben den persönlichen Nachlässen einer Reihe der Protagonisten besonders aus Archiven in Posen/Poznań – mit dem dortigen „West-Institut“ (Instytut Zachodni) als wichtigstem Zentrum der „Westforschung“ –, vor allem deren zeitgenössische Publikationen (Einzelveröffentlichungen, Zeitschriftenaufsätze und Reihenwerke). Das entsprechende Verzeichnis umfasst beinahe 40 Seiten. Dazu tritt in vergleichbarem Umfang die einschlägige deutsch-, polnisch- und englischsprachige Forschungsliteratur. Diese Materialfülle finde ihren Niederschlag in einer überaus quellendichten Darstellung und Analyse, aber auch in einem bisweilen recht überbordenden Anmerkungsapparat.

Eine Arbeit wie die von Briesewitz sieht sich mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert, die von ihrer Einordnung in das hochkomplexe und bis heute oft hochumstrittene Geflecht der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte mit ihren Verwerfungen gerade im 20. Jahrhundert bis hin zu begrifflichen Schwierigkeiten reichen. Dies beginnt bereits beim titelgebenden Begriff der „Westforschung“, bekanntlich eine Prägung durch deutsche Wissenschaftler in bewusster Analogie eben zur „Ostforschung“. Die polnische Wissenschaftstradition spricht demgegenüber eher vom „Westgedanken“ (myśl zachodnia), was neben der Wissenschaftssparte auch eher allgemein eine „politische Geistes­strömung des 19. und 20. Jahrhunderts“ (S. 16) bezeichnet – und selbst erst retrospektiv verwendet wurde. Insofern scheint die Verwendung von „Westforschung“ in einer Arbeit, die sich dezidiert der wissenschaftlichen Komponente dieser Geistesströmung widmet, durchaus angebracht und sinnvoll – zumal der Begriff inzwischen auch von polnischen Wissenschaftlern zumindest in deutschsprachigen Kontexten immer wieder so gebraucht wird.

Nach zwei einleitenden Kapiteln zu Forschungsstand und Methodik entfaltet Briesewitz seinen Gegenstand in vier thematischen Abschnitten. Sie widmen sich der Frage, „wie die Westforschung die deutsch-polnischen Grenzgebiete mit Hilfe der Geographie national konnotierte und in ein imaginäres nationales Raumkonstrukt integrierte“ (S. 27). Verbunden ist damit auch eine wissenschaftsgeschichtliche Fragestellung, die das vielfach thematisierte Verhältnis von „Wissenschaft“ und „Politik“ in den Blick nimmt. Dem beziehungsgeschichtlichen Ansatz entsprechend werden zunächst die Raumdiskurse in der deutschsprachigen (politischen) Geographie mit ihrem Ausdruck im Begriff der Geopolitik resümiert, um anschließend deren Rezeption in Polen zu untersuchen. Für beide Länder konstatiert der Autor einen engen Zusammenhang der zunehmenden Professionalisierung der Geographie als Wissenschaftsdisziplin mit nationalen Zielsetzungen. Entsprechend war die Darstellung zwischenstaatlicher Beziehungen von einer „antagonistische[n] Perspektive“ (S. 121) in der Auseinandersetzung um bestimmte Territorien gekennzeichnet, die jeweils dem eigenen Staat als natürlich zugehörig angesehen wurden – mit besonderer Betonung auf Grenzräumen und strategisch wichtigen Elementen wie Flüssen und Meereszugang. Dieses Paradigma vom „Raumkampf“ wurde in Deutschland zunehmend ethnisch-rassisch aufgeladen, war in Polen nach Briesewitz dagegen eher ökonomisch geprägt.

Die polnischen Debatten drehten sich dabei stark um die Idee eines „natürlichen Polens“, ausgehend von der verlorenen Staatlichkeit in der Teilungszeit und zurückgreifend auf die vormodernen Staatsgebilde der Piasten und der Jagiellonen. Wie Briesewitz im zweiten thematischen Kapitel zu Polen und Deutschland als mental maps zeigt, war damit ein eher restauratives Moment verbunden. Es bezog sich auf das Paradigma des „Landes“ und ging nicht über die maximalen Grenzen der genannten historischen Fürstenstaaten hinaus, war aber gleichwohl mit konkreten Gebietsansprüchen verbunden. In Deutschland hingegen dominierte der „Raum“-Gedanke, der Polen etwa in den verschiedenen Mitteleuropa-Konzepten unter eine deutsche Hegemonie subsumierte. Zugleich aber existierten nicht nur nationale Konfliktlinien, sondern auch innerfachlich-methodische Auseinandersetzungen, in denen wiederum auf Ansätze eines tagespolitisch als Antagonist wahrgenommenen Wissenschaftlers aus dem Nachbarland zurückgegriffen werden konnte. Dies zeigt sich etwa am Beispiel Romers, der in innerpolnischen Debatten u. a. mit Friedrich Ratzel argumentierte.

Das Kernkapitel der Arbeit stellt schließlich der dritte inhaltliche Abschnitt zur Westforschung als Raumkonstrukteur zwischen 1918 und 1939 dar. Besonders das „Piastische Polen“ erschien demnach als ein „idealer, aber vergangener Staatsraum“ (S. 289). Mit Bezug darauf konnte eine Siedlungskontinuität gerade in den umstrittenen Grenzgebieten behauptet und begründet werden. Zugleich bildete die Ostsee einen zentralen räumlichen Bezugspunkt bei dem Versuch, eine „Unterstützung der Nation im Konflikt mit Deutschland [zu] leisten“ (S. 290). Ein einheitliches Konzept hat es dabei unter den beteiligten Wissenschaftlern aber nicht gegeben; verschiedene Vorstellungen überschnitten sich. Zugleich war „nicht jede Konstruktion nationalen Raumes politisch motiviert“, sondern sie konnte „genauso in einem methodischen, wissenschaftlichen Kontext eine spezifische Funktion erfüllen“ (S290).

Unter den Bedingungen des deutschen Überfalls wurde die Arbeit der „Westforscher“ stark erschwert, viele wurden verfolgt und ermordet. In diesem Kontext kam es zu einer stärkeren Politisierung, wie Briesewitz im abschließenden thematischen Kapitel zum Zeitraum 1939 bis 1948 zeigt. Hier nun trat die Oder-Neiße-Grenze prominent in den Blickpunkt und wurde massiv propagiert – es waren „gerade die Jahre des Krieges und der Nachkriegszeit, in denen die Geographen sich daran beteiligten die Nation ,zu schreiben‘“ (S. 404). Der „Westgedanke“ bezog sich nun hauptsächlich und einheitlicher als zuvor auf die „wiedergewonnenen Gebiete“ eines „neuen natürlichen ,Oder-Weichsel-Polens‘“ (S. 406), eines „neopiastischen“ Polens. Der neue Staat sollte so nach innen und außen legitimiert werden, gerade auch mit Blick auf die eigenen „ehemaligen Ostgebiete“, die Kresy, die nun der Sowjetunion zugeschlagen wurden.

Insgesamt leistet Briesewitz eine eindrucksvolle Kontextualisierung der polnischen „Westforschung“ in ihren zeitgenössischen Kontexten. Zwischenzusammenfassungen und ausführliche Register erleichtern den Zugang zum mit mehr als 400 Seiten Text doch recht umfangreichen Werk. Die beigegebenen acht Karten tragen zur Veranschaulichung bei, auch wenn angesichts des Untersuchungsgegenstands diese grafischen Manifestationen der betriebenen Raumkonstruktion vielleicht ausführlich hätten thematisiert werden können. Dem überaus positiven Gesamteindruck der Studie tut dies aber keinen Abbruch.

Martin Munke, Dresden

Zitierweise: Martin Munke über: Gernot Briesewitz: Raum und Nation in der polnischen Westforschung 1918–1948. Wissenschaftsdiskurse, Raumdeutungen und geopolitische Visionen im Kontext der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte. Osnabrück: fibre, 2014. 526 S., 8 Abb. = Einzelveröffentlichungen des DHI Warschau, 32. ISBN: 978-3-944870-03-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Munke_Briesewitz_Raum_und_Nation.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2017 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg and Martin Munke. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.