Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 3, S. 504-507

Verfasst von: Wolfgang Mueller

 

Stephen A. Smith (Hrsg.): The Oxford Handbook of the History of Communism. Oxford / New York: Oxford University Press, 2014. XIII, 658 S., Tab. ISBN 978-0-19-960205-6.

Die Revolutionen von 1989, das Ende kommunistischer Herrschaft in Osteuropa und der UdSSR und die teilweise Öffnung vieler einschlägiger Archive haben der Kommunismus­forschung einen gewaltigen Impuls verliehen, einer Forschungsrichtung, die in den Jahren zuvor mit wenigen Ausnahmen (etwa in Italien und Frankreich) an Schwung verloren hatte. Der Implosion des Kommunismus folgte eine Explosion der Forschung; als erste Schwerpunkte kristallisierten sich die Sowjetunion im Stalinismus, die Komintern und die DDR heraus. Zehn Jahre nach der Wende symbolisierte das Schwarzbuch des Kommunismus (hrsg. von Stéphane Courtois u.a.) den Quantensprung einer global orientierten Forschung; in der folgenden Dekade waren es Synthesen von Archie Brown, John Priestland, Richard Service, Silvio Pons und anderen. Vom Aufdecken der Untaten Stalins und seiner Gehilfen und von einer Errechnung der Opferzahlen hat sich das Interesse hin zu einer Dekonstruktion der von außen lange Zeit als monolithisch wahrgenommenen Bewegung verschoben, wie dies Michel Dreyfus’ Wort von den „Kom­munis­men“ signalisiert. Wenig überraschend ähneln viele Debatten der Kommunismusforschung jenen über den Nationalsozialismus: z. B. über sein Wesen als ideologisches oder nationales Produkt, über Intentionalismus oder Strukturalismus, Unterwerfung oder Unterordnung, Fremdherrschaft oder Kollaboration, Hyperzentralisierung oder Insti­tutionenwirrwarr, Terror oder Anreiz, Einmanndiktatur oder Massenkonsens.

Das von Stephen Smith herausgegebene Handbuch zur Geschichte des Kommunismus stellt eine eindrucksvolle Bilanz dieser Forschungen dar. In sechs Teile gegliedert, spannen 35 großteils exzellent verfasste Kapitel einen Bogen von der Ideen- über die Politik- und Wirtschafts- bis zur Sozial-, Kultur- und Alltagsgeschichte. Die Autoren und Autorinnen reichen von Junioren bis zu prominenten Höhersemestrigen. Die ideologischen Grundlagen bzw. die „Gründerväter“ werden in vier Kapiteln über Marx und Engels (P. Chattopadhyay), Lenin (L. Lih), Stalin (K. McDermott) und Mao (T. Cheek) behandelt, wobei das Verhältnis von Ideologie und Praxis nicht theoretisch analysiert wird, dafür aber insbesondere bei Stalin und Mao zentrale Kontroversen ausgeleuchtet werden. Kevin McDermott weist in einer überzeugenden Darstellung auf die Spannungsfelder von Sozialismus in einem Land, Revolutionsexport und Imperialismus in der Außenpolitik, von persönlicher Verantwortung und Eigendynamik im Terror sowie von Rationalität, Ideologie, sozialer Prägung und Paranoia in der Persönlichkeit des Diktators hin. Namentlich die hinter dem Großen Terror und der von Yoram Gorlitzki und Oleg Khlevniuk als „neopatrimonialistisch“ charakterisierten, spätstalinistischen Elitenrotation stehenden Motive werden auch in Zukunft Diskussionsstoff bieten.

Teil II ist anstelle von Epochen Global Moments gewidmet, die als Konzept und Auswahl diskussionswürdig wären. Einleuchtend sind Kapitel zu 1956 (S. Radchenko), 1968 (M. Bracke) und 1989 (M. Middell), die ja als Chiffren für historische Entwicklungen verstanden werden; dagegen erschließen sich Überschriften wie 1919 (J.F. Fayet) und 1936 (T. Rees) schon weniger: warum nicht 1917 oder 1938? Generell lassen die Moments im Unterschied zu Epochendarstellungen vieles unterbelichtet, etwa die Phase 1945–1953 mit der „Sowjetisierung“ Osteuropas, dem Tito-Stalin-Zwist und dem KP-Sieg auf dem chinesischen Festland oder auch die 1960er bis 1970er Jahre. Manchmal funktioniert das Konzept auf Umwegen dennoch: So behandelt Fayet die Gründung der Komintern als Scharnier der Phase vom Zerfall der Zweiten Internationale bis zum Scheitern der Aufstände in Deutschland 1921/1923. Dabei geht er über das kontinentale „biennio rosso“ 1919–1920 mit seinen Streiks, Aufständen und Räterepubliken von Kiel bis Florenz und von Katalonien bis zur Slowakei hinaus auf die antikolonialen Erhebungen jener Jahre von Ägypten bis Korea ein. Dass der ‚Revolutionsexport‘ auch nach den Rückschlägen in Polen und Deutschland mit Waffengewalt bzw. Terrorismus fortgesetzt wurde, zeigen die Eroberung Georgiens durch die Rote Armee, die Unterwerfung der Mongolei und die Terroranschläge in Osteuropa. Der zweite „Global Moment“, 1936, weist einerseits mit dem Kominternbeschluss zur Intervention im Spanischen Bürgerkrieg in Richtung Antifaschismus; auf der anderen Seite steht die Verabschiedung der Stalinverfassung an der Schwelle zum Großen Terror. Die für den Kommunismus nicht weniger bedeutsame Entwicklung von der NEP zum Stalinismus 1927–1934 fällt leider durch den Rost – ebenso wie im Kapitel zu 1956 die über Polen, Ungarn und China (!) hinausgehenden Folgen von Chruščёvs Stalinkritik und Niederschlagung des Ungarnaufstandes. Wenn auch nicht jeder die Einschätzung François Furets über 1956 als „Anfang vom Ende“ des Kommunismus teilen wird, liegt dennoch hier ein Ansatzpunkt für den weiteren Differenzierungsprozess, der, wie Maud Bracke eindrucksvoll zeigt, 1968 bereits weit fortgeschritten war und im Polyzentrismus und später Eurokommunismus offen zutage trat. Während auch dieses Kapitel vom Prager Frühling über Frankreich, Polen, bis nach Mexiko, Vietnam und zur Kulturrevolution in China schweift, vermisst man ein paar Worte über Rumänien und Albanien (v. a. wenn von maoistischen Strömungen die Rede ist). Von den USA bis Westeuropa vermochte die 1968er-Bewegungen zwar in die dominierende Kultur vorzudringen, ohne allerdings jene von Massenproduktion und -konsum entscheidend zu schwächen. In Osteuropa sollten unerfüllte Konsumwünsche schließlich zu den Revolutionen von 1989 beitragen. Interessanterweise beginnt deren chronologische Darstellung hier mit der DDR, um nach den baltischen Republiken zum Ausgangsland Polen zurückzukehren, das auf die mit Abstand stärkste oppositionelle Tradition und Bewegung im „Ostblock“ blicken konnte.

Dass Westeuropa nach 1945 fallweise aus dem Blickfeld driftet, ist an mehreren Orten in diesem Band feststellbar, der in seinem dritten, bis auf eine Ausnahme regional gegliederten Teil (Global Communism) zwar Kapitel zu Osteuropa (P. Kolar), China (Yang Kuisong / S. Smith), Südostasien (A. Belogurova), Lateinamerika (M. Gonzalez), die Islamische Welt (A. Alexander) und Afrika (A. Drew) versammelt, den Kommunismus in Westeuropa nach 1945 aber nur in Nebensätzen erwähnt und kein Stichwort zum Eurokommunismus, zu Enrico Berlinguer oder Waldeck Rochet (dafür aber zum Eurovision Song Contest) aufweist. Zweifellos hat die Globalisierung der Kalten-Kriegs-Forschung nicht zuletzt infolge von Arne Westads meisterhaftem Global Cold War neue Perspektiven geöffnet, allerdings ist der westeuropäische Kommunismus auch nach 1945 beileibe nicht irrelevant. Davor bildete Westeuropa trotz der Dominanz Moskaus zweifellos den Fokus, wie aus der souveränen Darstellung der Komintern im einzigen Kapitel dieses Abschnitts ohne einen expliziten räumlichen Fokus klar hervorgeht (A. Vatlin / S. Smith). Allzu oft entsprachen die Moskauer Direktiven für den „Generalstab der Weltrevolution“ aber weniger den realen Bedürfnissen der europäischen Kommunisten als vielmehr den Staatsinteressen der UdSSR und den Anforderungen des Machtkampfes im Kreml. Zwar ging der Beschluss zur Volksfronttaktik 1934/35 auf den Druck Dimitrovs und den Wunsch westeuropäischer Kommunisten zurück, doch waren die Bündnisse mit demokratischen Parteien stets taktisch bedingt; die Einheitsfront von 1921 sollte, wie EKKI-Vorsitzender Grigorij Zinov’ev feststellte, „zum Strick, auf dem wir die Sozialdemokraten aufhängen“, werden (S. 189), und auch die Volksfront war nicht als dauerhafte Kooperation intendiert. Der Unwille Stalins, zwischen demokratischen und faschistischen Parteien zu unterscheiden, und die Unterwerfung der Komintern unter seinen Zickzackkurs traten niemals schärfer zutage als 1939–1941 und führten direkt in den Zweiten Weltkrieg. Trotz ihrer primär außenpolitisch motivierten Auflösung 1943 blieb die Komintern vor allem durch die Leninschule und die Moskauer Ost-Universität für die Generationen von Ho Chi Minh und Jomo Kenyatta bis Erich Honecker wirksam. Diese Entwicklungslinien treten auch im zentralen Kapitel über den Kommunismus in Osteuropa klar zutage, wobei die Spannungsfelder Nation/Klasse, Macht/Gesellschaft, Produktion/Konsum, Kultur/Ideologie einmal mehr das ‚russische‘ Erbe des Kommunismus unterstreichen. Dass das Scheitern des ‚Gesellschaftsvertrages‘ im „Ostblock“ 1989 nicht nachvollziehbar ist, wenn man die (hinter den Erwartungen der Bevölkerung zurückbleibenden) materiellen Anreize zur Entschädigung für politische Inaktivität ausblendet (S. 210), wird ebenfalls klar.

Politischen Querschnittfragen ist (wiederum mit einer Ausnahme) Teil IV gewidmet – mit Kapiteln zu den politischen und wirtschaftlichen Außenbeziehungen (B. Szalontai), Personenkult und Symbolpolitik (D. Leese), Revolution und Terror (J. Strauss), öffentlicher Meinung (S. Fitzpatrick), Modernisierung (M. Harrison), Kollektivierung und Hunger (F. Wemheuer), Konsum (P. Betts). Die Ausnahme bildet ein archivgestützter Aufsatz von Geoffrey Roberts über die Friedensbewegung im Stalinismus vom Breslauer Weltkongress der Kulturschaffenden zur Verteidigung des Friedens 1948 über den Stockholmer Appell von 1950 bis zum Niedergang der Bewegung infolge der Enthüllungen in Chruščёvs Geheimrede und der sowjetischen Niederschlagung des Ungarnaufstandes. Ob die Petition des Weltfriedensrates zum Verbot von Massenvernichtungswaffen tatsächlich an einem Tag von 665 Millionen Menschen unterzeichnet wurde (S. 331), mag man bezweifeln. Roberts zeichnet die Friedensbewegung nicht als reine Marionette der Sowjetunion, sondern argumentiert, dass es ihr bei aller Abhängigkeit von Moskau durchaus gelungen sei, in Teilbereichen den sowjetischen politischen Diskurs zu beeinflussen.

Teil V umfasst sozialhistorische Reflexionen zur Lebensgeschichte kommunistischer Aktivisten (M. Albeltaro), über bäuerliches Leben (J. Brown), Arbeiter im Kommunismus (Tuong Vu), Frauen (D. Harsch), Privilegierte (D. Filtzer) und zur Nationalen Frage (A. L. Edgar); Teil VI Kapitel zur Kulturrevolution (R. King), zu Künstlern (M. Gamsa), Populärkultur (D. Vuletic), Religion (R. Madsen) und Sport (R. Edel­man / A. Hilbrenner / S. Brownell). Eine Schlüsselrolle im Kommunismus kam dem Terror zu; wie z.B. die Glorreiche Revolution von 1688, die Amerikanische von 1776, die Samtene 1989 und Februarrevolution 1917 zeigen, trifft es aber nicht zu, dass jede „große Revolution ein gewisses Maß an Terror voraussetzt“ (S. 355). Terror reagierte vielmehr auf spezifische Defizite des jeweiligen Regimes in Bezug auf Legitimität, friedliche Konfliktregelung und Anreize für die Bevölkerung. Das bedeutet nicht, dass der Terror stets rationalen Kosten-Nutzen-Rechnungen folgte. Namentlich im Falle Russlands spielte zusätzlich wohl nicht nur die marxistisch-leninistische Revolutionstheorie, sondern auch die Tradition von Gewalt und Terrorismus in den zahlreichen Aufstands- und revolutionären Bewegungen, die Sozialisation Lenins und die Paranoia Stalins eine Rolle. Der Umstand, dass – wie S. Smith in seiner Einleitung zum Band feststellt – kein bedeutendes kommunistisches Regime durch einen breiten Volksaufstand an die Macht kam, unterstreicht aber das Legitimitätsdefizit der kommunistischen Diktaturen als Voraussetzung für den Terror. Dessen Rückgang begleitete die Transformation der alternden Regimes (Charles Maier) zu stärker konsumorientierten Anreizsystemen.

Die im Handbuch versammelte Fülle und Qualität ist beeindruckend; ebenso die Konzeption und Bandbreite der behandelten Themen. Kleinere Irrtümer (z. B. auch über Rumänien und den Warschauer Pakt) sind zu bereinigen; bei divergierenden Einschätzungen, z. B. ob im Oktober 1917 wirklich eine „genuine revolution“ (S. 163) oder doch eher ein Putsch (S. 112) stattfand, wird sich das kaum leicht erreichen lassen. Wünschenswert wäre ein Kapitel zu Propaganda und Sprache gewesen – nicht zuletzt, um für die Differenz zwischen „Wahrnehmung“ und Darstellung (S. 74) oder die tendenziöse Verwendung von Begriffen wie etwa „Sicherheit“ zu sensibilisieren, deren von Silvio Pons aufgedeckte aggressive Tendenz uns heute wieder wohl nicht zufällig von Russland und China vor Augen geführt wird.

Wolfgang Mueller, Wien

Zitierweise: Wolfgang Mueller über: Stephen A. Smith (Hrsg.): The Oxford Handbook of the History of Communism. Oxford / New York: Oxford University Press, 2014. XIII, 658 S., Tab. ISBN 978-0-19-960205-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mueller_Smith_Oxford_Handbook_History_of_ Communism.html (Datum des Seitenbesuchs)

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