Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 1, S. 131-133

Verfasst von: Eduard Mühle

 

Polen in der europäischen Geschichte. Ein Handbuch in vier Bänden. In Verbindung mit Hans-Jürgen Bömelburg / Christian Lübke / Krzysztof Ruchniewicz / Klaus Ziemer hrsg. von Michael G. Müller. Band 2: Der ständische Unionsstaat der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Hans-Jürgen Bömelburg. Lieferungen 1–5. Hiersemann: Stuttgart, 2011. 400 S. ISBN: 978-3-7772-1108-4 (Lieferung 1), 978-3-7772-1128-2 (Lieferung 2), 978-3-7772-1133-6 (Lieferung 3/4) und 978-3-7772-1223-4 (Lieferung 5).

Wennauf speziellen Wunsch der Redaktionhier eine Publikation besprochen wird, die in zweifacher Hinsicht noch unabgeschlossen ist, so ist zunächst der Vorbehalt zu machen, dass die ersten fünf von acht geplanten Lieferungen des zweiten Bandes eines auf insgesamt vier Bände (mit 1600–2000 Druckseiten) angelegtenHandbuchsweder eine vollständige Bewertung des der Frühen Neuzeit gewidmeten Teilbandes noch des Gesamtwerks erlauben. Ob das, wie der Klappentext formuliert,weltweit erste Publikationsvorhaben dieser Art zur polnischen Geschichte, das sich von anderen (in durchaus beachtlicher Zahl vorliegenden) einschlägigen ein- oder mehrbändigen Gesamtdarstellungen durch seineAnlage als ausführliches Referenzwerk, aber auch in seinen thematischen Schwerpunktsetzungenunterscheiden will, diesem selbst gesetzten hohen Anspruch tatsächlich genügen und in inhaltlicher wie methodischer Hinsichtnicht zuletzt, wie es im Klappentext weiter heißt, durchdie vergleichende Einordnung der polnischen Geschichte in die europäische“ – wirklich neue Wege beschreitet, wird sich naturgemäß erst nach Vorliegen der letzten Lieferung abschließend beurteilen lassen. Leider steht zu befürchten, dass sich der Abschluss des Gesamtunternehmens noch ein gute Weile hinziehen wird. So erscheint es berechtigt, einstweilen die nach über zehnjähriger Vorbereitung endlich vorliegenden ersten Kostproben schon einmal einem kritischen Blick zu unterwerfen. Sie lassen in der Tat eine viel versprechende Tendenz erkennen, zeigen aber zugleich auch, dass an das Werk in Bezug auf seine Innovationskraft, Aktualität und thematische Breite nicht übertrieben hohe Erwartungen herangetragen werden sollten. Denn das Werk wäre keinHandbuchim Sinn der deutschen akademischen Tradition, wenn es nicht über weite Strecken in erster Linie traditionelle, etablierte, also vielfach bekannte (vermeintlichgesicherte) Erkenntnisse, kurz: den Forschungsstand präsentieren würde.

Folgerichtig wird der Band mit einem Überblick über Forschungstendenzen und Quellenlage eröffnet (souverän Hans-Jürgen Bömelburg), in dem zugleich die chronologischen Eckpunkte des BegriffsFrühe Neuzeitdiskutiert und interessante Einblicke in die historiographiegeschichtliche Entwicklung geboten werden. Leider wird hier einleitend die konzeptionell-inhaltliche Anlage des Bandes nicht ausführlicher erörtert. Sie erschließt sich allenfalls indirekt durch die Benennung der Schwerpunkte und Defizite der bisherigen Forschung, dienotwendigerweise ?die inhaltliche Ausrichtung vorbestimmen. Damit rückenwie Bömelburg gleich im ersten Absatz (S. 1) auf den Punkt bringtdieinternationale Großmachtstellungdes polnisch-litauischen Unionsstaates, dieständepolitische Ausgestaltung der Repräsentativverfassungunddie Durchsetzung libertärer Freiheitsvorstellungen mit breiten Mitsprachemöglichkeiten für den Adelin den Vordergrund des Interesses. Dementsprechend ist die weitere Darstellung in hohem Maße zum einen durch eine eher klassisch-traditionelle Politik-, Kriegs- und Diplomatiegeschichte geprägt, die von Almut Bues, Kolja Lichy, Robert Frost und Bo­gu­sław Dybaś in einschlägigen, chronologisch aufeinanderfolgenden Kapiteln mal origineller (z.B. Lichy) mal weniger originell (z.B. Bues) abgehandelt werden (und im Fall der aus dem Englischen übersetzten Beiträge Robert Frosts über Nordische Kriege und Kosakenaufstände einer sorgfältigeren Redaktion bedurft hätte, vgl. z.B. S. 363). Daneben dominiert zum anderen der verfassungsgeschichtliche Blick auf die Entwicklung des Verhältnisses von Adel und (Wahl-)Monarchie (Igor Kąkolewski und Maria Rhode) sowie eine stark konfessionspolitikgeschichtliche Auseinandersetzung mit der Reformation und der späteren gegenreformatorischen Konfessionalisierung (Karin Friedrich). Was insgesamt etwas erstaunt, ist der Umstand, dass die jüngst insbesondere von der allgemeinen Frühneuzeitforschung ausgegangenen Anstöße zu einerneuen Politikgeschichte“ bzw.Kulturgeschichte des Politischen“ kaum aufgegriffen werden, weiterführende Ansätze hierzu allenfalls im Beitrag überPolitische Öffentlichkeit und Verfassung zwischen Königsherrschaft, Oligarchie und Adelsrepublikanismusbegegnen (Hans-Jürgen Bömelburg). Die herkömmliche Kulturgeschichte bleibt in den vorliegenden Lieferungen einstweilen auf (nicht mehr als zwei Dutzend Seiten umfassende) Ausführungen zuHumanismus und Renaissancebeschränkt (Karin Lambrecht), werden aber hoffentlich in der sechsten Lieferung (Nationale Identität, kulturelle Vielfalt und Minderheiten) stärkeres Gewicht erhalten. Etwas ausführlicher kommt in den ersten fünf Lieferungen die Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu Wort. Doch verbleibt auch sievor allem wenn (wie das knappe Inhaltsverzeichnis auf dem Innendeckel andeutet) zutreffen sollte, dass in den noch ausstehenden Lieferungen keine weiteren wirtschafts-, sozial- und alltagsgeschichtliche Kapitel vorgesehen sindzu sehr im Schatten der Politik- und Verfassungsgeschichte. Immerhin bieten Igor Kąkolewski einen soliden Überblick über soziale Schichtung, Demographie und gewisse Aspekte der wirtschaftlichen Entwicklung während des 16. Jahrhunderts und Hans-Jürgen Bömelburg eine konzise, eindrückliche Darstellung der Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung im 17. Jahrhundert, während die Ausführungen von Almut Bues zurwirtschaftlichen Neuorientierung in der europäischen Agrarkonjunkturoberflächlich und banal bleiben und vielfach bei Igor Kąkolewski genauer und ausführlicher behandelt werden. Hier hätte durch Streichung der Redundanzen bzw. des Kapitels II A. (Bues) wertvoller Platz für die Darstellung anderer, vernachlässigter Aspekte der Lebenswelt des 16. Jahrhunderts gewonnen werden können.

Dass die einzelnen Beiträge nicht immer die neueste Forschungsliteratur verzeichnen, kann angesichts ihrer langjährigen Entstehungsgeschichte nicht verwundern. Umso wünschenswerter wäre es, wenn die noch ausstehenden Lieferungen des zweiten Bandes sehr zügig folgen würden und diejenigen Beiträge, die für die drei weiteren Bände zum Teil bereits seit Jahren vorliegen, vor ihrer Drucklegung entsprechend aktualisiert würden. Intensiv aufgegriffen werden sollte in den weiteren Lieferungen und Bänden auch dervor allem in den Beiträgen Bömelburgsgut gelungene Versuch, über den aktuellen Forschungsstand hinaus auch Defizite der bisherigen Forschung zu identifizieren und damit neue, zukunftsweisende Forschungsfelder zu benennen. Das sich mit den hier besprochenen fünf ersten Lieferungen zu Wort meldendeHandbuchkann schließlich als einzigartige Chance der historischen Polenforschung betrachtet werden, die sich so bald nicht wieder bieten wird. Seine Herausgeber und Autor(inn)en sind, das lassen die fünf ersten Lieferungen alles in allem sehr schön erkennen, auf bestem Weg, diese Chance gut und überzeugend zu nutzen.

Eduard Mühle, Münster

Zitierweise: Eduard Mühle über: Polen in der europäischen Geschichte. Ein Handbuch in vier Bänden. In Verbindung mit Hans-Jürgen Bömelburg / Christian Lübke / Krzysztof Ruchniewicz / Klaus Ziemer hrsg. von Michael G. Müller. Band 2: Der ständische Unionsstaat der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Hans-Jürgen Bömelburg. Lieferungen 1–5. Hiersemann: Stuttgart, 2011. 400 S. ISBN: 978-3-7772-1108-4 (Lieferung 1), 978-3-7772-1128-2 (Lieferung 2), 978-3-7772-1133-6 (Lieferung 3/4) und 978-3-7772-1223-4 (Lieferung 5), http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Muehle_Polen_in_der_europaeischen_Geschichte_Handbuch_Bd_2_Lfg_1-5.html (Datum des Seitenbesuchs)

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