Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), H. 3, S. 418-419

Verfasst von: Eduard Mühle

 

Jiří Macháček: The Rise of Medieval Towns and States in East Central Europe. Early Medieval Centres as Social and Economic Systems. Translated by Miloš Bartŏn. Leiden, Boston, MA: Brill, 2010. XXII, 562 S., zahlr. Tab., Graph., Abb. = East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 450–1450, 10. ISBN: 978-90-04-18208-0.

Anders als der Titel suggeriert, bietet die Studie des Brünner Archäologen keine breit angelegte, vergleichende Synthese der frühmittelalterlichen Stadt- und Staatswerdung im östlichen Mitteleuropa. Es handelt sich vielmehr um eine aus eigener langjähriger Forschung erwachsene Analyse eines einzelnen altmährischen Zentralortes. Der allgemeiner gefasste Titel entbehrt gleichwohl nicht gänzlich der Berechtigung, versteht es der Autor doch ausgezeichnet, das Paradigmatische seines Untersuchungsgegenstandes herauszuarbeiten und dem Leser den penibel analysierten Ort – Pohansko bei Břeclav – als Modellfall vor Augen zu führen, anhand dessen sich die Funktion zentraler Orte innerhalb der frühmittelalterlichen Gesellschaften Ostmitteleuropas sowie deren Bedeutung für die dortigen Herrschaftsbildungen eindrücklich erschließt. Dazu erläutert der Autor nach einer allgemeinen Einleitung (Kap. 1) zunächst (Kap. 2) ausführlich die methodischen Prämissen seiner Arbeit, die sich nicht nur neuester computergestützter Werkzeuge bedient, sondern mit einer (von Colin Renfrew für die minoische und ägäische Kultur erprobten) „archäologischen Systemtheorie“ auch auf einen interessanten theoretischen Ansatz stützt. Wie der Überblick über die Forschungsgeschichte (Kap. 3) zeigt, bietet das nach dem Niedergang der mittelalterlichen Siedlung wüst gefallene Pohansko nicht nur in Bezug auf seine archäologische Zugänglichkeit hervorragende Untersuchungsbedingungen (zwischen 1958 und 2004 wurde in zwölf Grabungsarealen eine Fläche von insgesamt fast 140.000 m² erschlossen), sondern auch hinsichtlich der Dokumentation der dabei erzielten Grabungsergebnisse. Deren grundlegende Einsichten resümiert Macháček gleichfalls in Kapitel 3, um den auf diese Weise skizzierten Forschungsstand anschließend in Kapitel 4 mit seinen eigenen detaillierten Analysen zu konfrontieren. Diese Analysen, die sich nicht einmal auf den gesamten archäologischen Komplex von Pohansko, sondern nur auf eines der zwölf Grabungsareale, nämlich das als „Baumschule“ (Forest Nursery) bezeichnete Gelände, konzentrieren, machen mit 365 Seiten den Kern der Monographie aus. Für das knapp 19.000 m² große Grabungsfenster werden in fünf Unterkapiteln in größter Genauigkeit die Bebauung, die Chronologie, die Keramikfunde, die Gräber und die Raumstruktur beschrieben, in zahlreichen Tabellen und Diagrammen dokumentiert und in ihren Aussagemöglichkeiten überzeugend resümiert. Auf dieser eindrucksvollen empirischen Basis wird im fünften Kapitel schließlich ein Modell entwickelt, das Pohansko als „System“ deutet, das sich chronologisch über vier Phasen – die vor-großmährische (6.–8. Jh.), die früh-großmährische (9. Jh.), die spät-großmährische (9. Jh. bis Anfang 10. Jh.) und die nach-großmährische (10. Jh.) – erstreckte und aus sieben „Subsystemen“ zusammensetzte. Diese Subsysteme bezieht Macháček 1. auf die Bevölkerung und ihre Siedlung, 2. auf deren Subsistenzsicherung, 3. auf die handwerkliche Produktion, 4. auf die sozialen Verhältnisse, 5. auf die Sphäre der ideologischen Projektionen und symbolischen Repräsentationen, 6. auf Handel und Verkehr und schließlich 7. auf das Verhältnis von System-inputs und ‑outputs. Das mag mitunter etwas theoretisch gekünstelt wirken, eröffnet aber durchaus interessante Einblicke in die Entwicklungsstadien und Funktionen des untersuchten Siedlungsplatzes, der sich aus einer frühslavischen, von maximal zwei bis drei Sippen bewohnten, unbefestigten, ländlich-autarken Siedlung zu einem zentralen befestigten Stützpunkt, Pfalzort und Handelsplatz der altmährischen Herrscher entwickelte, dessen Schicksal am Ende so eng mit deren Versuch einer mährischen „Staatsbildung“ verknüpft war, dass er mit dem Scheitern des altmährischen „Reiches“ ebenfalls unterging. Dass Pohansko bei aller Modellbildung ein sehr spezifisches historisches Profil besaß, wird in Kapitel 6 deutlich, in dem Macháček die Befunde des altmährischen Zentrums mit Befunden slavischer und fränkischer Befestigungsanlagen (munitiones), karolingischer Pfalzen (palatia) und nordeuropäischer Seehandelsstützpunkte (emporia) vergleicht und zu dem interessanten Schluss gelangt, dass Pohanska „simultaneously a munitio, emporium and palatium of the Moravian rulers“ gewesen sei (S. 518). Das in einem konzisen Schlusskapitel resümierte, mit einer umfangreichen Literaturliste und einem Register ausgestattete Buch ist ein exzellentes Beispiel dafür, was die ostmitteleuropäische Mittelalterarchäologie heute zu bieten hat. Daher ist es auch mehr als löblich, dass es die einschlägigen tschechischsprachigen Forschungen zugleich in einer westlichen Sprache zugänglich macht – wenn auch leider für einen viel zu hohen Buchpreis.

Eduard Mühle, Warschau

Zitierweise: Eduard Mühle über: Jiří Macháček: The Rise of Medieval Towns and States in East Central Europe. Early Medieval Centres as Social and Economic Systems. Translated by Miloš Bartŏn. Leiden, Boston, MA: Brill, 2010. XXII, 562 S., zahlr. Tab., Graph., Abb. = East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 450–1450, 10. ISBN: 978-90-04-18208-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Muehle_Machacek_Rise_of_Medieval_Towns.html (Datum des Seitenbesuchs)

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